Redner(in): Angela Merkel
Datum: 04. Mai 2017
Anrede: Sehr geehrter Herr Kardinal Woelki,sehr geehrter Herr Professor Bergold,sehr geehrter Herr Rosso,Herr Oberbürgermeister,liebe Kollegen aus dem Landtag und
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/05/2017-05-04-rede-merkel-ksi.html
Zuruf ) heißt er nicht Oberbürgermeister? Nur Bürgermeister. Bei mir in Mecklenburg-Vorpommern wäre das bei einer so großen Stadt schon ein Oberbürgermeister, selbst wenn es eine kreisangehörige Stadt ist.
Also, Herr Bürgermeister, liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag liebe Frau Winkelmeier-Becker und lieber Norbert Röttgen, werte Gäste des heutigen Tages,
In der Tat ist es so, lieber Herr Kardinal Woelki, dass sich, wenn man wie ich mit dem Hubschrauber hier ankommt, der Blick auf diesen wunderbaren Ort auf dem Michaelsberg geradezu konzentriert. Dass man hier auf eine tausendjährige Tradition trifft, ist natürlich ganz besonders beeindruckend. Als wir eben weiter oben auf der Terrasse standen, habe ich gesagt: Dass sich Menschen vor tausend Jahren Prioritäten gesetzt haben, um Bleibendes zu hinterlassen und sich nicht nur im schnell Vergänglichen aufzuhalten, das könnte auch für uns von Zeit zu Zeit Richtschnur sein. Das darf, denke ich, nicht ganz in Vergessenheit geraten.
Alles ist also auch aus der Ferne gut zu sehen und wird wahrgenommen. Eine große Tradition, ein weiter Überblick und gute Sichtbarkeit das sind natürlich sehr gute Voraussetzungen für eine Bildungsstätte, die auch insgesamt Orientierung geben will. Deshalb ist es, nachdem die früheren Bewohner gegangen sind, natürlich eine wegweisende Entscheidung gewesen, den Michaelsberg als Heimstatt für das Katholisch-Soziale Institut zu wählen und hier sozusagen Zukunft zu schreiben.
Aber an dem, was sich in den letzten Jahren hier abgespielt hat, zeigt sich eben auch, wie nahe Wehmut und Hoffnung, Abschied und Neuanfang beieinanderliegen können. Den Benediktinern ich habe das noch einmal nachgelesen ist es sehr schwer gefallen, sich einzugestehen, dass sie ihre geschichtsträchtige Abtei aus eigener Kraft nicht weiterführen konnten. Ihre Erklärung aus dem Jahr 2010 steht dafür. Aber die Ordensgemeinschaft trauerte nicht nur der Vergangenheit nach, sondern ganz im Gegenteil ich zitiere sie: "Wir möchten gemeinsam mit den Menschen nach vorne schauen und einer neuen, anderen und dennoch guten Zukunft für den Michaelsberg den Weg bereiten." Die Benediktiner sahen also in der Veränderung auch eine Chance eine Chance, die es als solche zu begreifen und zu ergreifen gilt. Daraus ist Gestaltungskraft erwachsen. Ich denke, in Zeiten großer Veränderungen, in denen wir heute leben, sollten wir uns immer wieder um solche Gestaltungskraft bemühen.
So stellte sich das Erzbistum Köln die Frage, wie es gelingt, den Michaelsberg als Leuchtturm des Glaubens zu erhalten. Die Antwort ist der Einzug des Katholisch-Sozialen Instituts und übrigens auch wieder einer Ordensgemeinschaft. Damit beginnt ein neues Kapitel geistlicher Präsenz und geistigen Lebens auf dem Michaelsberg.
Ich sage ganz offen: Als ich eben hier angekommen bin, habe ich gesagt man beschäftigt sich ja auch immer wieder mit Unterhaltskosten und Wirtschaftlichkeitsfragen: Mensch, da haben Sie hier aber ein Objekt. Aber, ehrlich gesagt, nach den Worten des Kardinals muss ich sagen, dass ich doch wieder etwas kurzfristig und begrenzt gedacht habe.
Ich gratuliere zur Einweihung des Umbaus und zum Jubiläum des Katholisch-Sozialen Instituts. Denn es fügt sich an diesem Ort nicht nur in eine Tradition ein, sondern bringt auch selber eine Tradition mit, die immerhin schon 70 Jahre währt. 1947 rief Kardinal Frings das Katholisch-Soziale Institut als eine der ersten kirchlichen Akademien überhaupt ins Leben. Deutschland lag damals in Trümmern in materieller und auch in moralischer Hinsicht. Nach dem Zivilisationsbruch der Shoa und dem Zweiten Weltkrieg galt es, unser Land in umfassendem Sinne wieder aufzubauen und ein gesellschaftliches Bild zu vermitteln, das moralischen Halt und Orientierung gab. Hierbei kam den Kirchen natürlich eine ganz wichtige Aufgabe zu.
Unser Leben sieht heute, 70 Jahre später, in vielen Bereichen völlig anders aus als damals. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn in einem Europa, das nicht mehr in Ost und West geteilt ist. Ich habe heute in Grevenbroich, gar nicht so weit weg von hier, mit der norwegischen Premierministerin eine neue Produktionsanlage eingeweiht. Wenn man auf die Firmengeschichte schaut, auf die Kriegszeiten in Deutschland und Norwegen, dann merkt man, dass es heute schon eine sehr gute Zeit für die Menschen in unserem Land und in allen europäischen Ländern ist. Wir leben in einem Land, das mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seinen sozialen Errungenschaften weltweit einen guten Ruf genießt. Was die Arbeitslosenquote anbelangt, haben wir im Augenblick eine recht gute Situation. Wir haben noch nie so viele Beschäftigte und Erwerbstätige wie derzeit gehabt.
Aber wir müssen sehen, wie viele Krisen und Konflikte es in unserer Nachbarschaft und in anderen Regionen weltweit gibt. Wir müssen sehen, welche Herausforderungen wir zu bewältigen haben. Ich denke an den internationalen Terrorismus und daran, dass sich viele Menschen die Frage stellen, wie es um unsere Sicherheit bestellt ist. Bei allem friedlichen Zusammenleben haben wir auch in unserer europäischen Familie viele Sorgen und viele Fragen, wie es weitergeht, wie wir die tiefgreifenden Veränderungsprozesse meistern, die mit der Globalisierung, der Digitalisierung und dem demografischen Wandel einhergehen.
Deshalb ist in einer solchen Situation aus meiner Sicht zweierlei wichtig.
Das Erste ist die Einsicht, dass wir den Wandel gestalten können. Das knüpft auch an das an, was hier immer bestimmend war. Veränderungen gibt es. Es hat auch gar keinen Sinn, sich gegen sie zu stemmen. Im Übrigen wäre das Leben auch schrecklich, wenn es keine Veränderungen gäbe. Deshalb sollten wir darin auf gar keinen Fall ein schicksalhaftes Verhängnis sehen, dem wir uns tatenlos zu unterwerfen hätten. Denn damit würden wir es im Zweifel anderen überlassen, Veränderungen nach ihren Interessen zu gestalten; und das kann sehr anders sein als das, was wir uns vorstellen. Stattdessen können wir offen gegenüber dem Wandel sein, uns auf ihn einlassen und ihn mitgestalten. Ich gehöre zu den Menschen ich denke, in diesem Raum finden wir auch keine anderen, die diesen Weg bevorzugen.
Das Zweite ist: Um immer wieder ins Neue, ins Offene, ins Unbekannte zu gehen, brauchen wir Orientierung. Orientierung auf eingelaufenen und eingefahrenen Wegen findet man leicht. Aber man weiß von sich selber jedenfalls geht es mir so: In unbekannter Landschaft ist es ohne Karten mit der Orientierung sehr viel schwieriger. Wir brauchen Prinzipien, nach denen wir uns richten, Kriterien, auf deren Grundlage wir entscheiden, und eine Grundlage, die dem Einzelnen Halt und der Gemeinschaft Zusammenhalt gibt.
Ich denke, das christliche Menschenbild ist dafür genau das richtige. Es kommt, wenn man an die Akteure denkt, nicht von ungefähr, dass das christliche Menschenbild seine Widerspiegelung in unserem Grundgesetz gefunden hat, dass mit dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" der Artikel 1 unseres Grundgesetzes beginnt. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unbedingt normal. Es hätte auch anders kommen können. Aber es kam so; und das ist gut für uns.
Nach dem christlichen Menschenbild ist der Einzelne zur Freiheit geboren. Diesem Menschenbild ist deshalb Gestaltungskraft sozusagen immanent. Es ist eben keine bedingungslose und auch keine bindungslose Freiheit. Es heißt also nicht "frei von etwas", sondern es heißt "frei für etwas" frei dafür, Verantwortung zu tragen; für sich selbst und immer auch für andere. Der Blick auf das Wohl des Mitmenschen ist also im Freiheitsbegriff im Sinne des christlichen Menschenbilds sozusagen angelegt. Daraus ergibt sich für verantwortungsbewusste Politik der Auftrag, einen Raum der Freiheit zu gewährleisten einen Freiraum, in dem jeder Einzelne mit seinen Gaben, Fähigkeiten und Talenten, natürlich auch Schwächen, sein Leben gestalten und seine Chancen wahrnehmen kann. Das sagt sich sehr einfach, ist aber natürlich so kompliziert wie vieles im Leben.
Da stellt sich als erstes die Frage: Wo lernt ein Mensch, seine Chancen zu ergreifen und auch mit Blick auf Andere Gemeinschaft zu stiften? Die Antwort darauf liegt auf der Hand: natürlich zuallererst in der Familie. Sie ist der Ort einer Zuwendung und eines Vertrauens, wie wir politisch überhaupt nicht verordnen können. Deshalb müssen wir diesen Raum der Familie zwar schützen, aber wir dürfen ihn auch nicht immer weiter "zuregulieren", sondern wir müssen Möglichkeiten eröffnen, aber auch nicht nur permanent Erwartungen dazu äußern, wie sich Menschen bitteschön zu verhalten hätten.
Das ist ein weites Feld in der politischen Debatte. Denn manch einer, der besonders viele Freiheiten geben will, hat trotzdem ganz klare Vorstellungen davon, wie eine freie Entscheidung aussehen sollte. Das hat über viele Jahre hinweg auch in meiner Partei dazu geführt das sage ich auch selbstkritisch, dass wir gesagt haben: Na, so viele Kindergärten brauchen wir gar nicht, weil die freie Wahl ja schon ganz anders aussehen wird. Aber das darf auch nicht in das Gegenteil umschlagen. Deshalb glaube ich, ist es gut, dass wir heutzutage gerade auch dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr Raum bieten.
Es geht um Rollenbilder von Frauen und Männern, es geht um die Arbeitswelt und es geht im Übrigen auch zunehmend um Zeit. All dies betrifft eine Vielzahl politischer Regelungen. Es geht auch immer wieder um Chancengerechtigkeit und Teilhabemöglichkeiten. Damit stellen sich große Aufgaben, wenn wir zum Beispiel an Alleinerziehende denken und an viele andere Herausforderungen von Eltern mit Kindern. Deshalb muss auch in den nächsten Jahren der politischen Gestaltung unser Augenmerk auf das Thema "Familie und Zukunft für Kinder in unserer Gesellschaft" gerichtet sein. Darüber wird es kontroverse Debatten geben; auch im Wahlkampf. Aber wir haben gehört: Politik muss ja auch der Ort von Debatten sein.
Von zentraler Bedeutung dafür, dass Menschen ihre Chancen, ihre Talente, ihre Möglichkeiten überhaupt nutzen können, ist natürlich die Frage der Bildung. Wir sind hier an einem Ort, der auch symbolhaft dafür steht, dass Kirchen die Förderung von Bildung seit jeher ein großes Anliegen ist. Diese Abtei ist in umfassendem Sinne ein Beispiel dafür. Sie steht für die große Tradition der Klöster als Bildungsträger. Das Katholisch-Soziale Institut knüpft jetzt mit seiner Arbeit auf dem Michaelsberg daran an. Dass sich das Erzbistum Köln für diese Lösung entschieden hat, zeigt natürlich auch den Stellenwert, den es der Bildungsarbeit einräumt.
Kardinal Woelki hat eben schon viele der neuen Trends genannt, die uns noch kräftig durcheinanderschütteln werden. Dazu zählt das Stichwort Digitalisierung. Ich glaube, die Tiefe und die Dimension der Veränderung für unser gesellschaftliches Zusammenleben, die sich durch die Digitalisierung abspielt, sind bisher noch nicht ausreichend beschrieben. Das heißt, meine Bitte an Sie wäre auch, hinzuhören, was Ihnen Menschen erzählen, und zu versuchen, Ordnungsprinzipien zu finden. Da gerät nämlich vieles durcheinander, was bislang ganz normal war; aber es wird natürlich auch vieles möglich, was bis dahin unmöglich war. Es trifft sich vielleicht ganz gut, dass das Katholisch-Soziale Institut ja bereits in den 90er Jahren zum Medienkompetenzzentrum des Erzbistums ausgebaut wurde. Ich vermute, dahinter verbirgt sich noch mehr als das von mir sehr geschätzte Domradio. Ich habe schon gewusst, dass das jetzt komisch ankommt. Ich sage nur: Der Ausbau des Medienkompetenzzentrums in den 90er Jahren ist eine zukunftsweisende Entscheidung gewesen.
Religiöse Bildung war von jeher mit der Förderung eigenständigen Denkens und kritischer Urteilsfähigkeit verbunden. Es ist, glaube ich, das Allerwichtigste, dass Sie Menschen hier in Ihrer Bildungseinrichtung ermutigen oder ihnen sozusagen die Selbstgewissheit geben, dass sie eigenständig urteilen können, in komplexen Lebenssituationen Reflexionsfähigkeit entwickeln, den Mut zum Nachdenken und zum Sich-Zeitnehmen für bestimmte Entscheidungen finden, um dadurch ein gutes Maß an Urteilsfähigkeit zu gewinnen.
Wenn die Vielfalt der Informationen ja unüberschaubar und fast unendlich ist, aber sozusagen die Ordnungsprinzipien nicht mitgeliefert werden, dann ist es oft sehr schwer, bestimmte Dinge überhaupt über Tage hinweg nachvollziehen zu können. Ich weiß nicht, ob es Ihnen manchmal so geht, dass, wenn Sie sozusagen mit irgendeinem schockartigen Ereignis konfrontiert werden, wenn Sie das lesen und dann nach vier oder fünf Tagen erfahren wollen, wie die Sache eigentlich weitergegangen ist, Sie zwar von ungefähr zehn neuen schrecklichen Ereignissen erfahren, aber es Ihnen sehr schwer gemacht wird, nachzuvollziehen, was eigentlich aus der einen Sache geworden ist.
Kritische Urteilsfähigkeit und Medienkompetenz werden im digitalen Zeitalter noch mehr gebraucht. Wir brauchen auch Orte, die die Begegnung zwischen verschiedenen Gruppen fördern Orte kritischer und kontroverser Diskussion, Orte des gesellschaftlichen Diskurses. Ich glaube im Übrigen, es ist ganz wichtig, stärker zu hinterfragen: Wo ist der Diskurs im Sinne des Guten richtig; und wo beginnt der Streit? Andersherum: Wie können wir dem Wort "Streit" wieder eine etwas positivere Konnotation ermöglichen?
In der politischen Debatte ist es doch so das geht uns ja allen so, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder sagen wir alle sozusagen schon nach dem Aufstehen um 6 Uhr oder 7 Uhr in der ersten Radiosendung das Gleiche, was bei den unterschiedlichen Charakteren hoch unwahrscheinlich ist, oder man hat eigentlich bereits um 7.15 Uhr Streit; und der wird nicht besonders gewürdigt. Jetzt könnte man ja sagen: Liebe Bürgerinnen und Bürger, es herrscht große Freude, weil es ein neues Thema gibt, über das gestritten wird; wir werden Ihnen dann irgendwann auch das Ergebnis des Streits mitteilen. Aber so geht es ja nicht, sondern Streit wird im Grunde als Stillstand oder als rückwärtsgewandt angesehen. Diskurs und Streit im guten Sinne des Wortes gehören aber einfach zur Fortentwicklung einer Gesellschaft dazu; und deshalb müssen sie besser bewertet werden.
Wir brauchen also Raum für Dialog auch mit Andersgläubigen und Andersdenkenden; das ist in Zeiten der Globalisierung und in Zeiten der Vielfalt in unseren Gesellschaften sehr wichtig. Wir brauchen also so etwas wie ein "Auswärtsspiel" der Kirchen, wie Sie, Herr Kardinal, es einmal beschrieben haben. Das KSI ist ein geradezu idealer Ort dafür.
Wir sind auch als Bundesregierung in Bildungsfragen nicht untätig. Wir wissen, dass wir viel dafür tun müssen das wird in den nächsten Jahren auch politisch eine große Rolle spielen, vor allem lebenslanges Lernen als etwas ganz Natürliches anbieten zu können. Bei uns ist jedoch immer noch sehr die Tatsache verankert, dass es nur eine bestimmte Phase im Leben gibt, in der man sehr viel lernt. Diese Phase haben wir jahrelang und jahrzehntelang etwas zu spät anfangen lassen. Ich würde sagen: Die Zeit, bis wir verstanden haben, dass Bildung auch schon vor Eintritt in die Schule beginnt, hat etwas zu lange gedauert. Übrigens ist auch dieser Spruch der Deutschen "Mit dem Eintritt in die Schule beginnt der Ernst des Lebens" eine Wahnsinnskonnotation, die Bildung nicht gerade in freudigem Licht dastehen lässt. Wenn dann sozusagen mit dem Ende der Berufsausbildung der schwerste Teil des Lebens geschafft wäre, dann wäre das ja auch schlecht. Gerade auch in Zeiten großer Veränderungen brauchen wir also wirklich Freude an Bildung und Offenheit. Man muss sich schlecht fühlen, wenn man nichts dazugelernt hat; das muss eigentlich sozusagen die Konnotation werden.
Wer wüsste das alles besser als Sie am Katholisch-Sozialen Institut? Berufsbegleitende Weiterbildung war bei Ihnen schon immer ein wichtiger Schwerpunkt. Damit antworten Sie auf die dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt. So tritt etwas in den Vordergrund, das für Sie eine zentrale Bedeutung hat: der Wert von Arbeit. Arbeit ist mehr als Broterwerb. Sie ist Teil des Selbstverständnisses und der Selbstverwirklichung.
Damit bin ich natürlich bei der katholischen Soziallehre, die den Stellenwert der Arbeit in den Mittelpunkt gerückt hat. Ich will aus der Enzyklika "Laborem Exercens" von Papst Johannes Paul II. zitieren: "Die Arbeit ist ein Gut für den Menschen für sein Menschsein, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpasst, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen ‘ mehr Mensch ‘ wird." Ich finde, das ist eine wunderbare Definition von Arbeit. Für die katholische Soziallehre hat die Gestaltung von Arbeit immer eine Rolle gespielt also auch Aspekte wie gerechte Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen.
Durch die Digitalisierung stellen sich natürlich völlig neue Fragen. Ich glaube, gerade auch das Thema zeitliche Autonomie wird noch viele Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung aufwerfen. Ich denke, was das Zusammenleben der Menschen außerhalb der Arbeit anbelangt, ist auch über die Frage der persönlichen Zuwendung zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass heute sozusagen der über Internet oder Smartphone Kommunizierende eine gewisse Priorität auf die Berücksichtigung seiner Wünsche an manch anderen Stellen legt, während derjenige, der gerade neben ihm steht, eine Sekunde warten kann, weil er ja schon da ist. Ich glaube, das ist eigentlich nicht die richtige Rangfolge für den ganzen Tag. Beim Essen oder sonst irgendwann könnte man auch einmal etwas anderes machen.
Digitalisierung wirft also einige Fragen auf: Wie viel Flexibilität können wir Menschen abverlangen? Wie viel Begrenzung der Verfügbarkeit des Menschen brauchen wir? Wir können uns in diesem Zusammenhang auch an das erinnern, worauf die Benediktiner Wert legen: auf das richtige Maß zwischen Gebet und Arbeit "Ora et labora". Auch darüber muss wieder diskutiert werden, um einfach zu einem menschlichen Leben zu kommen.
Meine Damen und Herren, das alles führt uns immer wieder zu dem, was für unser gesamtes Zusammenleben unveräußerlich ist: Das sind die Werte der Demokratie. Wir alle leben von Voraussetzungen, die wir politisch jedenfalls nicht jeden Tag schaffen können; schon gar nicht über Gesetze. Deshalb glaube ich, dass es ein Irrtum ist, zu meinen, dass es eine Art automatische Vererbung bestimmter gesellschaftlicher Grundauffassungen von Generation zu Generation gibt. Sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden. Rechtsstaatlichkeit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit sind hohe Güter, die aber auch geschätzt werden müssen. Wenn sie sozusagen nur in Sonntagsreden thematisiert, aber nicht im Alltag geschätzt werden, ist das schwierig. Daher stellt sich nach so vielen Jahren Demokratie in unserem Land auch die Frage: Muss ich erst die Abwesenheit simulieren, um die Anwesenheit wieder schätzen zu lernen?
Mir ist durch die Tatsache, dass ich in der DDR gelebt habe, eines in Fleisch und Blut übergegangen: der Schatz der Freiheit. Ich weiß nicht, ob man, wenn man ihn schon immer hatte, sich dessen Wert noch genauso gewärtig ist. Man kann ja unmöglich immer wieder sagen: Wir zeigen auch einmal, wie es ohne dem sein könnte. Wir müssen vielmehr einen Weg finden, auf dem man trotzdem von Generation zu Generation die Wertschätzung weitergeben kann. Das aber halte ich für eine ziemlich schwierige Aufgabe.
Dabei ist es auch sehr wichtig, an ein Prinzip zu erinnern, das, wie ich glaube, sehr viel mit der katholischen Soziallehre zu tun hat, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Dieses haben wir aber leider nie so übersetzen können, dass es auf den ersten Blick den Menschen in Fleisch und Blut übergeht. Das ist locker auszusprechen, aber es ist von entscheidender Bedeutung. Ich muss, wenn ich möchte, dass Menschen Verantwortung übernehmen, zum einen selbst Freude daran haben, Verantwortung zu übernehmen, und zum anderen ihnen Räume lassen, in denen sie Verantwortung übernehmen können. Wenn ich paternalistisch teilweise ist auch gewünscht, Verantwortung abzunehmen alles wegnehme und mich für alles verantwortlich fühle, dann komme ich in eine Situation, in der zum Schluss anderen nichts übrig bleibt. Dann kann ich auch nicht davon reden, dass alle bitte Verantwortung übernehmen müssen.
Deshalb habe ich in meiner politischen Laufbahn auch sehr oft kontroverse Diskussionen über die Frage geführt, welche Aufgaben Politiker eigentlich haben. Ich weiß noch, dass ich zu Beginn meiner politischen Arbeit gefragt wurde, wer eigentlich das Vorbild für die Kinder einer Familie sein sollte. Dann habe ich erklärt, dass ich mich dafür nicht verantwortlich fühle. Das hat eine ziemlich kontroverse Diskussion hervorgerufen. Ich habe dann hinzugefügt, dass ich mir viel Mühe gebe, sozusagen anständige Arbeit zu machen, aber dass bestimmte Fragen zur Lebensgestaltung und Orientierung mit Sicherheit nicht von der Politik allein gelöst werden können.
Ich habe heute hier gar nicht über die vielen internationalen Herausforderungen gesprochen, freue mich aber, dass Brüder aus Indien in dieser Bildungsstätte mit dabei sind, weil sie mit Sicherheit auch einen Blickwinkel haben, den wir hier von Haus aus nicht unbedingt haben. Deshalb darf ich Sie bitten: Mischen Sie sich hier ein, wenn Sie glauben, dass wir zu selbstzentriert sind, dass wir uns zu sehr mit uns selbst befassen. Man kann nämlich auch Freude daran haben und einen besseren Blick auf das eigene Leben gewinnen, wenn man sich auch einmal damit beschäftigt, wie Menschen woanders leben. Der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist weder nur auf das Rheinland oder die Bundesrepublik Deutschland gemünzt, sondern ich vermute, dass alle, die sich mit der Tiefe dieses Satzes befassen, die Menschen auf der Welt im Blick haben. So wäre mein Wunsch an das Institut, neben den Fragen, die uns in unserem Zusammenleben bewegen, auch immer den Blick nach außen zu weiten. Denn die Globalisierung bringt es mit sich, dass wir auch ein Gefühl für das Leben anderer entwickeln müssen.
Gerade auch in Fragen im Zusammenhang mit Flüchtlingen ist mir bewusst geworden, wie wir einerseits die Freiheiten, die uns die Europäische Union bringt wie etwa die Bewegungsfreiheit, die Freiheit des Warenverkehrs, der Dienstleistungen, ganz selbstverständlich nutzen. Wir haben einen Schengen-Raum, in dem wir keine Pässe vorzeigen müssen. Andererseits haben wir angesichts der Flüchtlingssituation plötzlich gemerkt: Es gibt auch Außengrenzen, die eigentlich geschützt werden müssen. Wenn man eine Umfrage zu der Frage gemacht hätte "Zählen Sie doch bitte einmal unsere Außengrenzen auf" ich schließe mich mit ein, dann würde ich sagen, dass man in der Schule zwar relativ gut lernt, wer die Nachbarn der Bundesrepublik Deutschland sind, aber dass man schon eher Schwierigkeiten hat, die Außengrenzen unseres Schengen-Raums zu nennen. Diese führen vom Nordpol und Norwegen über Russland, Weißrussland, Ukraine, Georgien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien bis nach Marokko. Es ist vielleicht nicht verkehrt, dass man sich ein bisschen darum kümmert, was man in seiner Nachbarschaft hat. Auch das könnte ein Bildungsinhalt sein.
Ich habe mich sehr gefreut, sehr geehrter, lieber Herr Kardinal Woelki, dass Sie mich eingeladen haben. Ich habe gesagt "Da haben Sie mir aber eine gute Einladung geschickt", weil ich sonst dieses Kleinod hier nicht kennengelernt hätte. Das ist etwas ganz Besonderes. Dass ich gerade auch in zeitlicher Nähe zum 50. Todestag von Konrad Adenauer heute hier bei diesem Baustein der Entwicklung des KSI mit dabei sein kann, ist mir eine große Freude und eine große Ehre.
Herzlichen Dank.