Redner(in): k.A.
Datum: 01.04.1999
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/71/11771/multi.htm
leicht veränderte Fassung eines Essais, der am 1. April 1999 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" abgedruckt wurde ) In einem Dorf in der Nähe von Morosowsk arbeiteten Kinder auf einem Feld. Die Gerüchte über den Mord an den Juden erreichten auch das Dorf. Sechs jüdische Kinder im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren liefen daraufhin nach Morowsowsk. Als die Kinder erfuhren, daß man ihre Eltern abgeholt hatte, gingen sie zur Kommandantur. Von dort brachte man sie zur Gestapo. In der Zelle saßen zwei russische Frauen: die Leiterin der Kinderkrippe, Jelena Belenowa, 47 Jahre alt, und Matrena Ismailowa. Diese berichtete: Die Kinder weinten. Da begann die Belenowa, sie zu beruhigen. Sie erzählte ihnen, daß Papa und Mama gesund wären und nichts Schlimmes passiert sei. Sie sang Schlaflieder und streichelte sie. Die Kinder schliefen ein, doch um drei Uhr morgens kam die Gestapo, um sie abzuholen. Die Kinder begannen zu klagen:'Tante, wohin bringt man uns?'Die Belanowa antwortete ruhig:'Ins Dorf. Wir werden dort arbeiten....'In einer Grube nahe Morosowsk hat man die Leichen der Belenowa und der sechs jüdischen Kinder gefunden."Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg," Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden " )
Am Ende des Krieges im Mai 1945 lebte ich in der Kleinstadt Köthen in Sachsen-Anhalt. Bis auf wenige Bombardements der Junkers-Werke war der Krieg an ihr vorbeigegangen, nicht aber der Nationalsozialismus. Ein Teil meiner Familie war vor den drohenden Konsequenzen der Nürnberger Gesetze nach Amerika und England geflohen, mein Vater war in Stalingrad gefallen, meine Mutter überlebte mit ihren vier Kindern unbehelligt. Über den Holocaust erfuhr ich als 14jähriger. Das Land hatte sich ins Vergessen zurückgezogen. In der DDR gab es die offiziellen "Opfer des Faschismus", sie trugen ein Abzeichen.
Meine eigene, nicht umfangreiche Erinnerung an jene Kriegszeit ist bruchstückhaft geprägt von seltsamen Bildern ein Sommergarten voller Lametta-Streifen - und unklaren Erlebnissen in einem dumpfen Luftschutzkeller. Bilder zerbombter Häuser, deren Außenwände grotesk in den Himmel ragten, stehen gleich unverrückbaren Theaterkulissen im Gedächtnis. An den Mauern hingen, großen Schwalbennestern gleich, freischwebende Badewannen, festgehalten von Wasser- und Abflußrohren. Erst zwanzig Jahre später kehrte spontan ein Anblick in meine Erinnerung zurück, den ich als Kleinkind offenkundig nicht einzuordnen wußte und vergessen hatte: Vor unserem Haus zog langsam ein seltsamer Zug von Menschen vorüber. Sie trugen Schlafanzüge. Erst als Erwachsener wußte ich, daß es einer jener Todesmärsche von KZ-Häftlingen gewesen sein mußte, die von der SS vor den anrückenden Truppen der Alliierten in den sicheren Tod geführt wurden. Im Zug jener Menschen sah ich einen großen Leiterwagen mit Holzrädern, wie er seinerzeit zum Einfahren der Heu- und Getreideernte benutzt wurde. Auf seiner Plattform lagen zahllose andere Schlafanzüge. Heute vermute ich, daß dies eine mitgezogene Totenfuhre war. Aus der Dunkelheit meines Bewußtseins war ein Bild der Shoah aufgestiegen. Der Krieg endete für mich, als zwei GIs in den Luftschutzkeller traten und, so die Familienüberlieferung, fragten auf Deutsch? , auf Englisch? ob hier unten Soldaten oder Nazis sich versteckten. Es soll sich niemand gemeldet haben.
Gebrochene Nation
Aus der eigenen Geschichte abgemeldet habe sich Deutschland damals, nach der bedingungslosen Kapitulation - so lautet eine allgemeine Übereinkunft der Zeitgeistinterpreten jener Jahre zwischen 1945 und 1949. Dies stimmt so nicht ganz."Geschichte" war außerordentlich gegenwärtig: die Symbole des "Dritten Reichs" von der Autobahn bis zum Zement-Reichsadler über der Tür der Amtsgebäude und Gerichte, vom Bombenblindgänger bis zu den Schwerversehrten und Kriegsblinden täglich meldete sich das Vergangene zurück.
Richtig ist, daß die geschwächte Lebensenergie der militärisch, politisch und moralisch gebrochenen Nation konzentriert war auf das unmittelbar Notwendige. Die Städte lagen in Trümmern. 15 Millionen Vertriebene aus Ostdeutschland suchten in größter Armut eine neue Heimat. Millionen Wehrmachtsangehörige befanden sich vorübergehend in Kriegsgefangenschaft, hunderttausende kamen in ihr um. 250.000 "displaced persons" lebten im Land ihrer Peiniger und harrten auf Einwanderungserlaubnisse anderswo. Hungersnöte zogen über das Land. Die Verbrechensrate in den Ballungszentren war exponentiell größer als heute. Die ungezählte Menge von Selbsttötungen ist Legende. Die Umerziehungs-Bemühungen der Alliierten wurden von der Mehrheit der Bevölkerung apathisch oder höhnisch zur Kenntnis genommen, ebenso wie mehr als 1000 Hinrichtungen von Kriegsverbrechern. Die üblen Folgen der eigenen Geschichte offenbarten sich als alltäglicher Anschauungsunterricht in der unmittelbaren Gegenwart. Größeren psychischen Selbstbelastungen im doppelten Wortsinn mochte und konnte sich die Mehrheit wohl nicht aussetzen. Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" beklagte expressionistisch den deutschen Militarismus. Der Holocaust spielt in dem Stück keine Rolle.
Auschwitz als Synonym des Massenmords
Einen Namen für den systematischen Mord von mehr als zwölf Millionen Zivilisten, von den Juden Europas, von russischen Kriegsgefangenen, von Sinti und Roma, von Homosexuellen, Jehovas Zeugen, von Polens Offizieren und Intelligentsia, von behinderten Kindern und Erwachsenen, von Gewerkschaftern, Kommunisten, Sozialdemokraten, von Systemkritikern und zuletzt von mehr als 25.000 eigenen Soldaten, allesamt Opfer von sogenannter Kriegsrechtssprechung einen Namen gab es in Deutschland dafür in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht. Alle Versuche, der Tat einen Begriff zu geben, unterlagen der historischen Einzigartigkeit des Vorgangs."Auschwitz" allein wurde zum Synonym des Massenmordes unzureichend insofern, als mit ihm die furchtbaren Wahrheiten anderer NS-Mordstätten im besetzten Europa aus dem Blick gerieten. In Amerika prägte derweil Raphael Lemkin, der aus Warschau vor den Deutschen fliehen konnte, den Begriff des "Genozids". Er setzte sich im allgemeinen Sprachgebrauch nicht wirklich durch. Daß in der scheinbaren Unbenennbarkeit des Verbrechens zugleich eine "Grenze des Verstehens" ( Hanno Loewy ) beschlossen war, und mit ihr die strafrechtlich dann irrelevante Dämonisierung der Deutschen ( als hätte sie der Teufel geritten ) , beförderte auch eine Abkehr der Täter-Generation von der eigenen Tatgeschichte. Dämonisch fühlte sie sich nicht. Allenfalls "verführt" von einem charismatischen Monstrum. So wurde Geschichte für viele zur fremden Last. Ihr Symbol wurde "Hitler", der "Hitlerismus","Hitlerdeutschland". Viel später fand sich das seltsame Entlastungswort vom "Verbrechen, das im Namen der Deutschen" begangen worden sei. Eine "Kollektivschuld" gab es nicht. Die religiösen Konnotationen von "Schuld" waren längst verschüttet. Man einigte sich auf "historische Verantwortung".
Daß gleichzeitig das deutsche Grundgesetz redigiert und buchstäblich vorgelebt wurde aus der bewußten, der wissenden Abkehr vom Bösen, vom nationalsozialistischen Verbrechen, sollte sich damals, in den späten 40er Jahren, als politischer Glücksfall für die Deutschen erweisen: Für die Verfassungsväter, nicht wenige von ihnen Rückkehrer aus der Emigration, Verfolgte und Opfer des "Dritten Reichs", wurden die zwölf Jahre lang unterdrückten öffentlichen Wahrheiten vernünftiger, freiheitlicher und gerechter politischer Existenz wieder konstitutiv: Die ersten zwanzig Artikel des Grundgesetzes verankerten diese als unmittelbar geltendes Recht, als präskriptiv erinnertes Naturrecht, als eine Referenz des Absoluten, jedem menschlichen Gesetzgeber entzogen. Erste Bundes- und Landespolitiker von der vorbildlichen moralischen Größe der Kaiser, Adenauer, Zinn, Brauer und Weichmann, der Hundhammer, von Knoeringen, Ollenhauer, Schumacher, Erler, Brandt oder Heinemann standen mit ihrer Biographie in Opposition und Widerstand für das andere Deutschland ein. Publizisten wie Bucerius, Friedmann, Löwenthal, Dönhoff, Sethe oder Haffner bauten das Podium einer demokratischen Öffentlichkeit. Mit dem Grundgesetz ", so der Politikwissenschaftler Tilo Schabert," sind die Deutschen in die politische Zivilisation der Menschheit eingekehrt " doch diese Einkehr ging der verspäteten, allgemeinen historischen Anamnese voraus. Vor allem die Universitäten ließen sich Zeit. Sie fühlten sich als die wahren Opfer des Nationalsozialismus. Deutschlands Demokratisierung verlief, zum zweiten Mal nach Weimar, asymmetrisch.
Juristische und alltägliche Verdrängung
Gleichzeitig verzögerte sich unter den Bedingungen des alsbald offenkundigen Kalten Krieges eine intensivere Introspektion der Deutschen zumal in Westdeutschland. Daß das Expertenwissen der schwerbeschädigten Industriegesellschaft, daß alle Forschungs- , Administrations- und Militärkenntnisse der tief verstrickten Mitläufer und Verantwortlichen in Wirtschaft, Staat und in allen Bildungsorganisationen, in Kirche, Justiz und Verwaltung überlebensnotwendig, mithin in der Not der Zeit keinen juristischen oder moralischen Nachfragen ausgesetzt waren, entsprach zahllosen anderen Phänomenen von juristischer und alltäglicher Verdrängung, von gleichsam massiv gewordenem Vergessen in der jungdemokratischen Öffentlichkeit. Ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende erinnern sich Banken und Konzerne im Zeichen der Globalisierung ihrer Mitschuld. Mehr als 15.000 andere deutsche Firmen, in denen Zwangs- und Sklavenarbeiter beschäftigt waren, sind in der Anonymität der Vergangenheit versunken. In der Literatur allerdings, in den Werken eines Böll, Grass und anderer Autoren der "Gruppe 47" regte sich repräsentative politische Erinnerung, gegen den erbitterten Widerstand einer konservativen Literaturkritik.
Die Opfer der KZs waren tot, die Überlebenden der Lager schwiegen, sofern sie noch in Deutschland wohnten. Ein Mitglied der NSDAP konnte Bundeskanzler werden, der Kommentator der Nürnberger Gesetze ging aus dem Kanzleramt Adenauers in Pension. Sein Bild hängt noch heute im kleinen Kabinettsaal in Bonn. Hitlers Finanzminister wirkte als Geschäftsführer im Wirtschaftsrat der CDU.
Unter dem nichtssagenden Titel der "Vergangenheitsbewältigung" begab sich eine Nation mitten im Wirtschaftswunder der 50er Jahre auf die Geschichtsflucht. Die jüdischen Opfer des Dritten Reiches gerieten hinter dem fatalen Namen der "Wiedergutmachung" langsam aus dem Blick - und mit ihnen die Geschichte ihrer Mörder und deren Motive und gesellschaftlichen Karrieren vor und nach der Tat. Das erste umfangreichere Buch eines deutschen Historikers über den Massenmord erschien in Deutschland erst im Jahre 1960 ( Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich. 1933 bis 1945 ) .
Gesellschaftliche Selbstverständigung
All dies ist zu bedenken, um zu verstehen, welche außerordentliche Verwandlung Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt hat. Das Land scheint heute gebannt von seiner eigenen Geschichte. Fernsehserien zur jüngsten Vergangenheit erreichen hohe Einschaltquoten, ihre Begleitbücher werden zu Bestsellern. - Erinnert wird, was vergessen war. Oder, in den Worten des Geschichtsphilosophen Eric Voegelin ( der nach dem sogenannten "Anschluß" Österreichs nach Amerika entkommen war ) ,"wir erinnern das Vergessene - manchmal mit erheblicher Mühe - , weil es nicht vergessen bleiben sollte. Das schuldhaft Vergessene wird durch Erinnerung zur Präsenz des Wissens gebracht; und in der Spannung zum Wissen enthüllt sich die Vergessenheit als der Zustand des Nichtwissens, der agnoia der Seele im Platon'schen Sinne. Wissen und Nichtwissen sind Zustände existentieller Ordnung und Unordnung."
Eine Gesellschaft als Ganzes erinnert sich nicht. Streng phänomenologisch betrachtet, sind alle Erinnerungsprozesse subjektive Abläufe des je einzelnen Bewußtseins. Latent ist darum jede Gesellschaft in einem Zustand allgemeiner Selbstvergessenheit, also in Unordnung. Die Erscheinungsweisen ihrer Selbstregulierung in Riten und Mythen, in Gesetzen und Sanktionen können indes als Verallgemeinerungen artikulierter, anamnestischer Erfahrungen verstanden werden. Das "Selbstverständnis" einer Gesellschaft ist insofern der Begriff eines kompakten oder differenzierten Ablaufs kontinuierlicher, manchmal erhellender, öfter verdunkelnder, manchmal regulierender, öfter verwirrender religiöser, mythographischer, philosophischer, poetischer, artistischer, wissenschaftlicher und immer auch politischer Reflexionen über ihre richtige Ordnung in der Gegenwart und in Geschichte. Aus der Idee solcher Ordnung erwächst ihr gesellschaftlicher "Sinn".
Der Begriff "Selbstverständnis" spiegelt den Sachverhalt wider, daß der Einzelne, sei er Religionsstifter, Geschichtenerzähler, Poet, Schriftsteller, Journalist oder Historiker nicht in einem gesellschaftlich leeren Raum lebt, sondern "selbst" im indirekten Gespräch mit "anderen" zu erinnern und neu zu erzählen versucht, was in einem komplizierten, oft unvermeidlichen Prozeß gesellschaftlichen Vergessens in Texten, Traditionen und Bildern archiviert und abgelagert oder gar abgesunken ist in die Dunkelheit des Vergangenen. Nationales oder gesellschaftliches Geschichtsbewußtsein ist insofern ein Derivatbegriff gleichsam privater, genauer, individueller und somit subjektiver Zuwendungen zur Vergangenheit, ist aber auch der Name kontinuierlicher Revision des Vorgefundenen, des Erinnerten, der Geschichtsschreibung und ihrer Bedeutung. Denn ein einzelner Historiker, es sei denn er ist herrschender Meinungstyrann wie einst Stalin, wird seine Sicht von Geschichte nicht gegen alle anderen durchsetzen können. Daß in diesem Prozeß individuelle akademische Interpretationsmonopole errichtet, daß mit Hilfe von Geschichtsinterpretation oft genug partei- und machtpolitische Ambitionen durchgesetzt, daß undurchsichtige Erkenntnisinteressen aufgebaut und hinter Methodenstreitigkeiten verborgene akademische Schulbildungen manifest werden, prägt in Deutschland wie anderswo auch den historischen Diskurs. Er verläuft aber demokratisch und muß auf die stabilisierenden Segnungen religiöser Orthodoxie seit langer Zeit ebenso verzichten, wie seit kurzer Zeit auf die Gewißheiten immanent-eschatologischer Geschichtsentwürfe der politischen Religionen unseres Jahrhunderts.
Besinnung einer Nation auf sich selbst
Geschichtsunsicherheit zeichnet das Ende unseres Jahrhunderts aus. Und wie kein anderes Land der Welt sind die Deutschen mit der Einzigartigkeit ihrer jüngeren Geschichte allein und werden es auch bleiben. Der Eindruck wäre falsch, das Land und seine Regierungen wichen immer noch zurück vor dieser Wahrheit. Hier gibt es rund 4000 öffentlich subventionierte Museen. Im Jahr 1994 zum Beispiel öffnete das "Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" in Bonn seine Pforten: Die Gesamtkosten betrugen 160 Millionen Mark; das Ausstellungs- und Forschungsprojekt "Topographie des Terrors" in Berlin kostet 55 Millionen Mark, das "Haus der Wannseekonferenz" 16 Millionen Mark und die Pflege der Gedenkstätten in Deutschland addieren sich für den Bund auf jährlich rund 115 Millionen Mark, für die Länder und Kommunen wahrscheinlich mehr als doppelt so viel. Anders gesagt: Die Bundesrepublik hat in den letzten zehn Jahren eine Summe von mehr als eine Milliarde Mark in den Bau, den Betrieb und die Pflege von Museen zur jüngeren Geschichte und in Gedenkstätten in den ehemaligen auf deutschem Boden befindlichen Konzentrationslagern investiert. Nicht hinzugezählt sind die jährlich 25 Millionen Mark von der Bundesrepublik getragenen Betriebskosten des "Internationalen Suchdienstes" in Arolsen, des weltweit größten, der Wissenschaft seit zwei Jahrzehnten verschlossenen Archivs mit Unterlagen zum Holocaust. Diese Investitionen waren nicht einem musealen Gesamtplan geschuldet, sondern sind vielmehr das gleichsam organische politische Ergebnis der Besinnung einer Nation auf sich selbst und ihre Herkunft in Geschichte.
Zwei, wenn nicht drei Generationen nach der Befreiung Deutschlands ist die Umkehr des Landes aus dem Nachkriegsschattenreich der Verdrängung, des Vergessens manifest geworden. Hier kann ein Historikerstreit über das Dritte Reich auf den ersten Seiten der Tageszeitungen ausgetragen werden, hier werden politische Karrieren über Gedenkreden zum Holocaust gemacht und zerbrochen, hier wogt seit zehn Jahren eine Diskussion über die richtige Form des Gedenkens an die Opfer der Shoah in der Öffentlichkeit, in Kolloquien, im Berliner Abgeordnetenhaus und Senat und im Bundestag. Hier hat sich eine differenzierte politische Erinnerungsrhetorik entwickelt ( mitsamt ihren Klischees ) , hier wird in Gedenkstätten des nationalen Jahrtausendverbrechens gedacht, hier konnte ein wenngleich umstrittenes Buch eines jungen amerikanischen Historikers, Daniel Goldhagen, über die massenhafte Verstrickung der Deutschen in das Mordgeschehen eine ungewöhnliche Auflage von über einer halben Million erreichen.
Erinnerungskultur
In Deutschland ist, in den Worten des Historikers Johann Baptist Metz, eine "Erinnerungskultur" entstanden, die allerdings, wie alle Formen schriftlich und politisch gewordener gesellschaftlicher Anamnese, den Keim ihres Scheiterns in sich trägt: "Im Blick auf Auschwitz," so Metz,"bleibt für mich ( ... ) die Frage, wie ein Grauen, das sich der historischen Anschauung immer wieder zu entziehen droht, gleichwohl im Gedächtnis behalten werden kann. Das gelingt vermutlich nur einer Historiographie, die ihrerseits von einer anamnestischen Kultur gestützt ist, die auch um jenes Vergessen weiß, das noch in jeder Vergegenständlichung herrscht. Diese anamnestische Kultur könnte jene Abstraktion überwinden, die in der puren moralischen Entrüstungs- oder Betroffenheitsrhetorik im Umgang mit dem Holocaust steckt und der es allzumeist nur allzu schnell den großen Atem verschlägt. Ebenso würde sich eine anamnestische Kultur gegen die ausschließlich historisierende Vergegenständlichung dieses Grauens wenden, die sich zu sehr fremdstellen, zu sehr objektivistisch distanzieren muß, um von ihr noch erreicht zu werden. Indes, eine solche Kultur fehlt uns weiterhin in Europa, weil uns ( seit langem ) der Geist fehlt, der in Auschwitz endgültig ausgelöscht werden sollte."
Anders gesagt: Eine allgemein zureichende Form der Erinnerung des Holocausts und des Gedenkens kann es zumal in Deutschland niemals geben - erst recht nicht, wenn bedacht wird, daß es ein perspektivischer Unterschied ist, ob Nachfahren der Opfer ( wenn nicht gar diese selbst ) oder Nachfahren der Tätergeneration sich erinnern. Diese "Asymmetrie der Erinnerung" ( Edna Brocke ) ist eine der zahllosen Aporien der deutschen Holocaust-Forschung und der Gedenkstätten-Diskussion, die ihren prägnanten Ausdruck in dem Satz eines deutschen Juden fanden, er "benötige ein Mahnmal nicht, das wahre Mahnmal ( sei ) in seinem Herzen" ( Ignatz Bubis ) .
Bedenkenswert ist angesichts der ausdifferenzierten Form der gegenwärtigen Holocaust-Debatte in Deutschland ein weiterer Sachverhalt: Der Diskurs findet bereits in höchst vermittelter Form unter Experten statt. Die Abstraktionsebene ist hoch, womöglich allzu hoch. Die meisten der etwa 250.000 KZ-Häftlinge, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges aus den Lagern befreit wurden, leben nicht mehr. Die wenigen autobiographischen Bücher und Augenzeugenberichte, die sie hinterlassen haben, erlebten in den 60er Jahren nicht nur hierzulande vergleichsweise niedrige Auflagen. Weltweit verbreitet ist allein, mit einer gedruckten Auflage von mehr als 80 Millionen Exemplaren, das Tagebuch der Anne Frank. Der Shoah-Foundation Steven Spielbergs ist es immerhin gelungen, die Berichte von 50.000 "survivors" audiovisuell zu speichern und zu katalogisieren. Doch auch dieses außergewöhnliche Unterfangen ist bereits in die Kritik der professionellen Holocaust-Historiker geraten als wäre in der schockierenden Unmittelbarkeit der Berichte das Ziel der Wissenschaft, nämlich objektives Wissen zu vermitteln, von Laien vor und hinter der Kamera gefährdet. Sie vergessen, daß gesellschaftliche Anamnese wohl der Interpretation bedarf, nicht jedoch nach Maßstäben akademischer Zünfte allein angeregt werden kann. Ein Erinnerungsregime des Holocaust wird es niemals geben können.
Die Mahnmal-Diskussion
Die Ausführlichkeit der deutschen Holocaust-Mahnmaldiskussion, bereits in mehreren neuen Büchern dokumentiert und kommentiert, reflektiert zum einen den zentralen Stellenwert, den die Geschichte des Völkermords inzwischen im öffentlichen Selbstverständnis der Deutschen spielt und auch in Zukunft spielen wird. Hinter den teilweise polemisch geführten Auseinandersetzungen wird jedoch immer wieder die Grundproblematik des gesellschaftlichen Erinnerns bewußt: Ohne Bruch ist ein Bogen zwischen individuellem Erinnern, das auf direkte oder vermittelte Erfahrungen zurückgreift, und gleichsam staatlicher Manifestation von Geschichte nicht zu schlagen. Im Gegenteil, in ihrer steinernen Verdinglichung im Denkmal scheint zwar gesellschaftliche Trauer um die Ermordeten offiziell auf. Gleichzeitig aber droht das ästhetische, amtliche Gedenken vor dem künstlerisch undarstellbaren Ereignis des Völkermords an Europas Juden zu scheitern. Das liegt in der Sache begründet. In den Worten des Architekten Peter Eisenman: "Nach Adolf Loos handelt Architektur von Monumenten und Gräbern... Seit dem Holocaust, seit Hiroshima, seit der Existenz des Mechanismus der Massentötung... kann ein Individuum nicht mehr sicher sein, eines individuellen Todes zu sterben. Deshalb kann Architektur nicht so wie bisher an Leben erinnern. Die Markierungen, die früher Symbole eines individuellen Todes waren, müssen nun anders sein. Diese Veränderung hat erhebliche Auswirkungen auf die Vorstellung von Erinnerung und Monument. Das Ausmaß und der Maßstab des Holocausts machen jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. Die Erinnerung an den Holocaust kann niemals Nostalgie sein."
Doch was angesichts des Holocausts als "Zivilisationsbruch" bezeichnet wurde, war ja mehr als mechanische und systematische Massentötung; denn die gab es, wenngleich in weniger bekanntem Ausmaß, bereits zu Beginn des Jahrhunderts in Südwestafrika und im Kongo. Es war der Holocaust ein seit Menschengedenken unvorstellbarer Versuch, nicht nur ein Volk, sondern auch seine für zweitausend Jahre europäischer Geschichte konstitutive Religion auszurotten und mit ihr den Monotheismus und den Gedanken der Heiligkeit des Lebens. Dies symbolisch zu repräsentieren, bürdet zeitgenössischer Kunst eine Aufgabe auf, die sie ihrer eigenen, in Künstlermanifesten artikulierten und in kunstgeschichtlicher Evidenz offenkundigen, gesellschaftlichen Selbstbescheidung folgend, nicht lösen kann. Es ist zuviel verlangt.
Deutlich sichtbar wird die kategoriale Beliebigkeit, die einen gebildeten Betrachter eines Mahnmal-Modells, den Berliner Architektur- und Kunstkritiker Tilmann Buddensieg, schreiben, nein, schwärmen läßt: "Zwischen Himmel und Erde stellt Gerhard Merz seinen kubischen Baukörper..." Ja, wohin sonst? Buddensieg: "Eine rigorose Dramaturgie der Sprachlosigkeit füllt einen Raum mit der dichten Präsenz einer melancholischen Leere. Die Kälte des'Wegtuns'als Verzicht drängt den Besucher nicht wegen der Klischees zwanghafter Enge, Schieflage oder Ausweglosigkeit, sondern wegen der Katastrophe der unendlichen Trauer, die sich in die Erde senkt und die zum Himmel steigt. Die Negation des gleichwohl präsenten'Tempels'verweigert die Therapie pseudoreligiöser Gefühle und Qualen." Doch eine Ästhetik, die sich offenbar keine religiöse, sondern nur pseudoreligiöse Gefühle vorstellen kann, verrät nicht nur die geistesgeschichtlichen und historischen künstlerischen ( auch religiösen ) Traditionen, die sie einst zu überwinden antrat, sondern in letzter Instanz distanziert sie sich auch von der Kunst selbst, die sie zu unterstützen vorgibt: Ein Steinblock jedenfalls kann weder trauern, noch einen "Tempel negieren."
Der jüngste Vorschlag, ein Denkmal mit der ( hebräischen ) Inschrift "Du sollst nicht morden" vor dem Reichstag zu errichten, ist nicht neu und überrascht insofern, als er, sollte das Mahnmal der ermordeten Juden Europas gedenken, dreierlei übersieht. Erstens: Das biblische Tötungsverbot war der SS bekannt. Die Mordmaschine sollte heimlich laufen; daß sie es auf so furchtbar effektive Weise tat, war der Übertretung eines anderen Gebotes geschuldet, das zu benennen offenbar selbst Theologen heute noch schwerfällt, dessen Bruch aber die spirituelle Wurzel des Führerkults und der seelischen Katastrophe Deutschlands darstellte: "Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir." Zweitens: Die Opfer und die Überlebenden daran zu erinnern, daß das Leben des Menschen heilig ist, scheint von unerträglicher, wenngleich ungewollter Ironie zu sein. Drittens: Der Vorschlag war bereits vor Jahren im Verlauf des Mahnmal-Wettbewerbs diskutiert und aus vielen Gründen abgelehnt worden. Ein Rekurs auf die Anfänge der Diskussion würde von allen Beteiligten als Affront ausgelegt werden nicht zu Unrecht.
Angesichts aller Kritik steht eines jedoch fest: Denkmalkunst "nach Auschwitz" kann sich dem Ziel des Trauern und Gedenkens annähern. Nicht von der Hand zu weisen ist dann aber paradoxerweise bei solcher ästhetischen Rücknahme, daß gerade in ihrem notwendigen, a priori mitgedachten Scheitern auch das Ende des gesellschaftlichen Erinnerns zugunsten des ritualisierten Gedenkens beschlossene Sache ist. Denn letzten Endes funktioniert fast jedes Denkmal wie ein Schleusentor vor der Vergangenheit es schließt den Erinnerungsprozeß symbolisch mit einer gesellschaftlich akzeptierten, künstlerischen Geste ab. Langsam vergeht so im Denkmal die Vergangenheit, sie wird gesellschaftlich unsichtbar oder belanglos - gerade in ihrer größten Monumentalisierung.
Forschungs- und Bildungszentrum von internationaler Bedeutung
Der amerikanische Architekt Peter Eisenman hat darum zusätzlich zu seinem preisgekrönten Mahnmal-Entwurf ein "Haus der Erinnerung" konzipiert. In der repräsentativen Mitte Berlins soll dieser Gebäudekomplex die architektonische Gestalt seines Stelenfelds aufnehmen und einen kognitiven, aufklärenden Zugang zur Geschichte der Shoah offenhalten. Eine unterirdische Ausstellungsfläche, eine Bibliothek, die Archiven und Büchern ausreichenden Platz einräumt, aber auch Computeranlagen und -terminals, die mit anderen Forschungsstätten im In- und Ausland elektronische Informations-Netzwerke zur Geschichte des totalitären Terrors im 20. Jahrhundert aufbauen, sowie Lese- und Projektionsräume, aber auch Platz für eine Berliner Dependance des Leo Baeck-Instituts und der Shoah-Foundation könnten das Projekt zu einem komplexen, in dieser Konstellation einmaligen Forschungs- und Bildungszentrum von internationalem Gewicht machen. Im Verbund mit dem Jüdischen Museum und anderen Gedenkstätten und der "Topographie des Terrors" wäre von den hier beschäftigten Wissenschaftlern und Ausstellungs-Didaktikern ein nationales Curriculum historischer Selbstreflexion zu entwickeln jenseits von wohlfeiler Schuldrhetorik.
Mehr als eine Millionen Besucher jährlich ( eine zurückhaltende Schätzung von Museumsexperten ) würden neben dem Aufruf "Nie Wieder!" emotionalen und rationalen Zugang zu der Frage finden, die in ihrer Fülle immer noch unbeantwortet ist: "Wie konnte es geschehen?" Es wäre dies, daran besteht kein Zweifel, ein Ort, der in seiner architektonischen und didaktischen Komplexität sehr wohl die fünfzigjährige deutsche und internationale Diskussion über den Holocaust, die schließlich nicht als Gedenkdebatte allein geführt wurde, , widerspiegeln könnte.
Einwände gegen das erweiterte Mahnmal
Die Invektive des "Gemischtwarenladens", die gegen diesen Plan mobilisiert worden ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als Ausdruck jener nicht zu leugnenden Sehnsucht mancher Deutscher ( unter ihnen auch führende Politiker ) , die am liebsten per Runderlaß die nationalsozialistischen Erfahrung deutscher Geschichte auf die Formel "Es war einmal" in das Reich der Sagen und Märchen verbannen möchte. Es käme dies, daran zu zweifeln wäre töricht, dem Bedürfnis gerade älterer Wähler entgegen, die sich ungern der Mühen solcher kontinuierlichen Anamnese unterziehen möchten. Das Bedürfnis ist nicht ganz unverständlich. Eine ununterbrochene Beschäftigung mit dem Entsetzlichen des "Holocaust" ist auch keinem einzelnen Historiker, bei Strafe seiner seelischen Abstumpfung, zumutbar.
Andere kritische Einwände gegen die Erweiterung und Veränderung des Mahnmalprojekts sind durchaus von Gewicht: Es werde in Berlin mit diesem Projekt "ein künstlicher authentischer Ort" errichtet, befürchten die Leiter von Gedenkstätten in Deutschland das Stelenfeld des Entwurfs von Peter Eisenman trete an die Stelle der Lagergelände, und das "Haus der Erinnerung" verdoppele bereits geleistete Aufklärungsarbeit. Doch die Kritik unterliegt einem doppelten Mißverständnis. Das eine liegt in der Annahme, daß der "Authentizität" des Tatorts ein gleichsam höherer Erinnerungswert zukomme als einem Denkmal. Das Berliner Projekt sei ein Simulacrum. Es stimmt, daß die authentische Aura der Lager und Massengräber auf deutschem Boden den Besucher unweigerlich umfängt und stumm macht. Doch jene Aura verdankt sich zum einen der historischen Tatsache, daß an jenen Orten vor kurzem noch gemordet wurde; sie wird im Laufe der Zeit verblassen, womöglich verschwinden wenn die vorausgesetzten Kenntnisse verloren gegangen sind oder wenn der Wille, sie sich anzueignen, verschwunden ist. Der kunstgeschichtliche Begriff der "Authentizität" ist offenkundig dem Benjamin'schen Essay über das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" entnommen und sieht im Kontext der Holocaust-Debatte davon ab, daß hier von anderen Dingen als Kunst zu sprechen ist. Eine Auratisierung des Tatorts jedenfalls kann Erinnerung nicht ersetzen.
Des weiteren wird behauptet, es könne ein "Haus der Erinnerung" den Eindruck erwecken, Deutschland sei eine "Wüste der Erinnerung" "und man müsse sich deshalb zur Einrichtung Amtshilfe aus Israel und den USA holen". Der Einwand grenzt an Infamie. Nicht nur übersieht er, daß niemand solche "Amtshilfe" eingeholt hat ( ganz gewiß nicht der Autor dieser Zeilen ) ; er unterschlägt auch, daß aus erwähnten Gründen - nicht nur die juristische Beschäftigung mit dem Holocaust eine wesentlich ältere und andere Tradition in eben jenen Ländern hat als hierzulande, und daß zumal in museumsdidaktischer Hinsicht zumindest die Vereinigten Staaten allenthalben aufgenommene Maßstäbe gesetzt haben. Daß ein Berliner "Haus der Erinnerung" seine eigenen, der deutschen Geschichte gemäßen Perspektive entwickeln müßte und dies in Zusammenarbeit mit den Experten der Gedenkstätten und des Jüdischen Museums in Berlin versteht sich von selbst.
Am Ort des Parlaments
Der "Holocaust" ist keine Erfindung der Stadt Berlin; eine gleichsam territoriale oder geographische Fixierung der Verantwortung für Deutschlands Geschichte auf eine Stadt, und sei es die Hauptstadt, ist unsinnig. Die ursprüngliche Behauptung, es müsse ein Mahnmal nach Berlin gelegt werden,"weil von hier aus alles ausging", reduziert die gesellschaftliche Erinnerung auf Grundstückgeschichte. Die Idee politischer Repräsentation ist nicht lokalisierbar im strengen Sinne eines Katasteramtes insofern gibt es keine "Bonner", und auch keine "Berliner Republik" ( dies sind brauchbare journalistische Kürzel ) . Wohl aber ist es angemessen, ein Mahnmal an den Ort zu setzen, wo der Souverän, das Parlament, nicht nur die tatsächliche, sondern auch die symbolische Repräsentation der Bundesrepublik wahrnimmt. Und wenn zu dieser Repräsentation auch die Verantwortung für den Prozeß und die Richtung des gesellschaftlichen politischen Selbstverständnisses zählt, dann steht die Legitimität eines symbolisch und politisch repräsentativen Holocaust-Mahnmals im Zentrum Berlins nicht in Frage.
Ein Holocaust-Mahnmal und ein "Haus der Erinnerung" würde ihren Sinn beschädigen, stellten sie sich nicht der Frage: "Wie können wir eine Wiederholung verhindern?" So lautet denn mein Vorschlag, sollte sich das deutsche Parlament für ein erweitertes Mahnmalprojekt entscheiden, dort auch ein "Genocide Watch Institute" einzurichten.
Konsequenzen aus Auschwitz
Die nach dem Sieg über Deutschland und Japan im Jahre 1945 geschaffenen Vereinten Nationen zogen zwei direkte Schlüsse aus "Auschwitz". Am 10. Dezember 1948 gaben sie sich in Paris die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", verfaßt hauptsächlich von René Samuel Cassin, der mit knapper Not dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich entkommen war. Im zweiten Satz der Präambel wird auf den Holocaust als "Akt der Barbarei" und unmittelbaren Anlaß für die "Erklärung" rekurriert. Mit ihrem höchsten Prinzip,"Jedermann hat das Recht auf Leben" wird die Lebensheiligkeit des Dekalogs zur Norm für die gesamte Menschheit erhoben.
Eine weitere Konsequenz zogen die Vereinten Nationen mit ihrer "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords". Auch hier ist der Autor der Konvention ein Überlebender des Holocaust, Raphael Lemkin. Die wesentlichen Eliminationsverfahren der Nationalsozialisten Kindeswegnahme, Sterilisierung, Ghettoisierung, Todesmärsche und direkte Tötung werden in Artikel 2 der Konvention als Erscheinungsweisen des Völkermord aufgenommen und der ganzen Welt verboten. Doch erst von 1993 an werden für die Bestrafung solcher Verbrechen spezielle Gerichtshöfe geschaffen angesichts der mörderischen Ereignisse in Ruanda und Jugoslawien. Bis heute jedoch existiert keine Instanz zur Vorwarnung und Verhütung von Völkermord. Dabei wurden seit 1945 mehr als 60 genozidale Aktionen bekannt freilich zumeist erst nach ihrem Vollzug. Eine Vorwarnstation würde die Erinnerung an die Ermordeten des Holocaust keineswegs schmälern sie gäbe freilich dem Vermächtnis der Opfer politische Kraft über die Lebenden.
In wenigen Wochen wird der Deutsche Bundestag über den Bau eines Mahnmals in Berlin in welcher Form auch immer entscheiden. Von der überwiegenden Mehrheit aller Parlamentarier wird diese Entscheidung befürwortet werden und auch, so ist anzunehmen, von der Mehrheit der Bevölkerung. Der Weg zu dieser Entscheidung war ebenso widerspruchsvoll wie von parteipolitischen Überlegungen, von ernsthaften und ernstzunehmenden Absagen, von Zorn, Eitelkeit und bisweilen auch von schmerzhaften Resignationen der Diskutanten geprägt.
Die Mahnmal-Debatte, so hieß es am Ende, sei selbst das Mahnmal - das scheint ebenso richtig, wie ein gebautes Mahnmal Teil derselben Debatte bleiben wird. Sie wird auch in Zukunft um die Frage kreisen: "Warum konnte es geschehen?" In der Frage selbst schwebt die Gewißheit mit, daß unsere eigene Geschichte uns hätte bewahren müssen vor dem Ausmaß dieser selbst angerichteten Katastrophe. Daß sie es nicht tat, öffnet einen Blick auf die Tiefendimension der Täterschaft im Holocaust."Die Vernichtung des europäischen Judentums," schreibt der Historiker Saul Friedländer,"stellt vielleicht ein Problem dar, das historische Analyse und historisches Verstehen nicht zu lösen vermögen ( ... ) . Wir wissen im einzelnen, was geschah; wir kennen die Abfolge der Ereignisse; aber die Tiefendynamik des Phänomens entgleitet uns." Doch selbst dies zu wissen und womöglich zu akzeptieren, setzt eines voraus: Erinnerung.