Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 23.05.2001

Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin hielt zur Eröffnung der Ausstellung "Leo Baeck (1873-1956)" im Jüdischen Museum Frankfurt am Main am 23. Mai 2001 ein Grußwort, das in Zusammenarbeit mit dem Leo-Baeck-Institut entstand.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/22/42522/multi.htm


Bundesinnenminister Schily, der heute an den Veranstaltungen des Bündnisses für Demokratie und Toleranz teilnimmt, bat mich, Ihnen die Grüße der Bundesregierung zu übermitteln - eine Aufgabe, die ich sehr gern übernommen habe. Otto Schily bedauert, heute nicht hier sein zu können und lässt Sie herzlich grüßen. Allein die Tatsache, dass wir heute wieder ein gegen Rechtsradikalismus gerichtetes Bündnis der demokratischen Kräfte brauchen, zeigt in aller Deutlichkeit, wie notwendig die fortgesetzte Beschäftigung mit unserer Geschichte für die Gestaltung unserer Gegenwart ist.

Die erste Ausstellung nach Kriegsende in Deutschland, die sich mit Leben und Werk Leo Baecks befasst, wirft zunächst die Frage auf: Warum erst jetzt? Warum befasst sich eine Ausstellung erst heute, fast fünf Jahrzehnte nach seinem Tod, umfassend mit diesem bedeutenden Repräsentanten des deutschen Judentums des 20. Jahrhunderts? Hat man in Deutschland diesen großen Mann vergessen, der uns allen, Juden wie Nichtjuden, ein so reiches geistiges Erbe hinterlassen hat? Ich hoffe, die Ausstellung wird uns helfen, eine Antwort zu finden.

Vor diesem Hintergrund erscheint das Engagement des Jüdischen Museums Frankfurt, die Person und das Gesamtwerk Leo Baecks in den Mittelpunkt einer Ausstellung zu stellen, als besonders verdienstvoll. Das Zusammenwirken mit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag verspricht nicht nur eine große Publikumsresonanz, sondern auch neue Impulse für den christlich-jüdischen Dialog, dem Leo Baeck in beispielhafter Weise verpflichtet war.

Leo Baeck wird von einem seiner Schüler als ein Mensch geschildert, der "wie selten ein Jude vor ihm ohne jede Scheu seine kritische Haltung gegenüber christlichen Gedankengebäuden geäußert" hat und zugleich "ein gerade von Christen anerkannter und gesuchter Partner im christlich-jüdischen Gespräch" war [1] . Seit 1901 kämpfte er öffentlich um eine Zusammenarbeit, wie sie eigentlich selbstverständlich sein sollte: eine Zusammenarbeit, in der Juden und Christen ihre jeweiligen Positionen offen und klar vertreten können.

Als ein in der Provinz Posen aufgewachsener junger Mann, der den vielfältigen Einflüssen des osteuropäischen Judentums ausgesetzt war, bekannte er sich dazu, ein konservativer, ein nichtorthodoxer deutscher Jude zu sein. Es war für ihn kein Widerspruch, als Feldrabbiner im Ersten Weltkrieg zu dienen und Hoffnung auf eine Heimstatt der Juden in Palästina zu haben. In einem Aufsatz über Moses Mendelssohn findet sich der Satz "Ein bestimmter Schritt ins Neue hinaus und eine konservative Zurückhaltung brauchen nicht zueinander im Widerspruch zu sein" [2] - eine Haltung aus der zweifellos eine tiefe Geistesverwandtschaft zwischen den beiden großen deutsch-jüdischen Lehrern und Gelehrten spricht. Leo Baeck wusste,"dass Starrheit Erstarrung bewirkte, Entfremdung zwischen jenen teilweise aus mythischem Denken stammenden Begriffen und dem modernen, nicht mehr im mythischen Weltbild lebenden Menschen" [3] .

Für ihn war das Judentum nicht zuletzt eines: Martyrium."Juden mussten vieles erdulden, Märtyrer, Zeugen Gottes sind sie immer wieder geworden, und wenn die Wunden tief waren und bluteten und zuckten, so war doch eines immer nur bewiesen worden, welch satanischer Geist in den Foltermeistern und Knechten gewesen ist" [4] .

Leo Baecks Schicksal war das eines Juden in Deutschland zur Zeit der nationalsozialistischen Verbrechen. An der Spitze der jüdischen Vertretung war er vor 1939 mehrmals kurze Zeit in Haft gewesen. Er musste miterleben, wie Mitarbeiter und Freunde, einer nach dem anderen, in Konzentrationslagern verschwanden, aus denen sie nicht zurückkehrten. Im Januar 1943 wurde Leo Baeck selbst verschleppt - in das Konzentrationslager Theresienstadt, aus dem er 1945 von den sowjetischen Truppen befreit wurde.

Sein Leben steht so in vielerlei Hinsicht exemplarisch für das Schicksal seines Volkes in Deutschland. Die Geschichte des deutschen Judentums und die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert kann nicht geschrieben werden, ohne Leo Baeck zu würdigen.

Nach Kriegsende zog Leo Baeck nach London, er erhielt 1950 die britische Staatsbürgerschaft. Die Shoa ließ für ihn keinen Zweifel: "Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muss. Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion - die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle mal vorbei."

Auch wenn Leo Baeck davon ausging, dass die geistige Beziehung nicht mehr aufleben konnte, die in Deutschland zwischen Juden und Nichtjuden bestanden hatte, pflegte er dennoch intensive Beziehungen zum Deutschland der Nachkriegszeit. Im Herbst 1948 gehörte er zu den ersten prominenten Juden, die nach Deutschland reisten. Dabei hielt er u. a. in Lübeck einen Vortrag über den Frieden in Europa - vor einem Publikum, zu dem auch Nichtjuden zählten. Es hieß in einem damaligen Kommentar, dass sein kurzer Aufenthalt einen großen Eindruck auf die Reste einer einst großen und berühmten jüdischen Gemeinschaft gemacht habe und auch für die nicht-jüdische Welt, besonders für die Führung beider Kirchen, von großer Bedeutung gewesen sei.

1953 wurde Leo Baeck anlässlich seines 80. Geburtstages das große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Vor dem Hintergrund seiner persönlichen Beziehung zu dem Jubilar würdigte ihn Bundespräsident Theodor Heuss mit folgenden Worten: "Sein geistiger Rang, die Würdigung die er als Berliner Oberrabbiner nicht bloß bei den Juden, sondern auch in den theologisch interessierten Gruppen über den jüdischen Kreis hinaus genoss, war mir schon bekannt, ehe ich ihn im Hause meines württembergischen Landsmannes und Studienfreundes Dr. Hirsch persönlich kennen lernte." Es sei "Gnade" gewesen,"in dieser Zeit der seelischen Verwirrung drei Kräften in einem Menschen zu begegnen: Der ruhigen Würde, der souveränen Bildung und der inneren Freiheit."

Bemerkenswert ist an dem Vorgang vor allem die Tatsache, dass Leo Baeck die Ehrung eines Landes akzeptierte, das ihm und seiner Gemeinschaft so viel angetan hatte. Seinem persönlichen Verhältnis zu Theodor Heuss kam dabei sicher eine wichtige Rolle zu. Leo Baeck wird sich darüber im Klaren gewesen sein, dass er mit dem Annehmen dieser Auszeichnung der Öffentlichkeit seine Gesprächs- , vielleicht sogar Versöhnungsbereitschaft signalisierte.

Theodor Heuss hat übrigens gelegentlich davon gesprochen, dass bei einer Wiederaufführung von Lessings "Nathan" der Darsteller der Titelrolle vorher einige Tage den Umgang mit Leo Baeck suchen sollte: "Natürlich weiß ich, dass Lessing 18. Jahrhundert ist und Nathan gar kein Rabbiner, dass sich seitdem Generationen jüdischer und christlicher Theologie sehr wechselreicher Färbung entwickelt haben und Baeck darüber nicht bloß Bescheid weiß, sondern daran Teil hatte. Aber das stört mich nicht, diese Überlegung mitzuteilen. Sie möchte im rechten Sinn verstanden werden. Das gelingt, wenn man Lessing wieder liest."

Der Gedanke, den Theodor Heuss geäußert hat, ist auch für heutige Besucher dieser Ausstellung faszinierend: Erscheint uns doch Leo Baeck als die lebendige Verkörperung der Persönlichkeit, die Lessing vor Augen gehabt haben mag.

Nach dem Krieg lehrte Leo Baeck bis ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1956 am Hebrew Union College, er war Präsident des Council of Jews from Germany, Vorsitzender der World Union for Progressive Judaism und Ehrenpräsident des im September 1955 gegründeten Distrikts Kontinentaleuropa des B'nai B'rith. Ich freue mich, dass B'nai B'rith im Oktoberr dieses Jahres erstmals zu seiner Gesamttagung nach Deutschland kommen wird. Das ist eine besondere Ehre für unser Land, und Bundespräsident Rau hat bereits signalisiert, dass er die Teilnehmer in Berlin begrüßen wird.

Leo Baeck war sich seiner Stellung in der Welt und seiner damit verbundenen Verantwortung bewusst. Als es 1948 in Palästina zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern kam, appellierte er gemeinsam mit Albert Einstein an Juden und Araber, sich von Terror fernzuhalten. Leo Baeck rief die Juden auf, ihr Gemeinwesen auf einer friedlichen und demokratischen Basis zu errichten.

Sein Hauptwerk "Das Wesen des Judentums" aus dem Jahr 1905 zählt mittlerweile auch im anglo-amerikanischen Sprachraum zu den Standardwerken des Judentums.

Das wissenschaftlich hoch renommierte Leo Baeck Institut, das Leo Baeck mitbegründet hat und das sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte befasst, hat bis heute Bestand und ist damit ein fortwirkendes Erbe seines Lebenswerkes. Die ausgezeichnete Arbeit, die in den drei Zentren in Jerusalem, New York und London und seit einigen Jahren auch in einer wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft in Deutschland geleistet wird, unterstützt die Bundesregierung übrigens schon seit Jahrzehnten.

Ein besonderes Anliegen Leo Baecks war der Neuanfang in Deutschland und Israel. Im Oktober 1952 veröffentlichte er in der Zeitschrift "Merkur" einen Aufsatz unter dem Titel "Israel und das deutsche Volk". Dieser beginnt mit folgenden Worten: "Nur wen ein tiefes, fast möchte man sagen ein liebevolles Verlangen nach innerer Offenheit und äußerer Deutlichkeit bewegt, darf über einen Frieden Israels mit dem deutschen Volk sprechen." Dieses Verlangen nach innerer Offenheit und äußerer Deutlichkeit ist für Leo Baeck kennzeichnend. Er schreibt, dass nicht Hass, sondern Verachtung das zumeist vorherrschende Gefühl der Juden in fast allen Erdteilen gegenüber Deutschland und seinen Taten geworden ist. Er hält aber auch fest, dass die Juden, die in den bösesten Jahren in Deutschland gewesen waren, immer wieder - ich zitiere - "an jene Treue und jenen Anstand einzelner gedacht haben".

Leo Baeck hat sich nach dem Krieg in seinen öffentlichen Äußerungen auf die jüngste Vergangenheit bezogen, er richtete dabei aber auch den Blick in die Zukunft, denn "durch sie und um ihretwillen darf und soll hier der Friede bereitet sein". Nach dem zerstörerischen Wirken von Nationalismus und Staatsvergötterung spricht Leo Baeck von einem neuen Prinzip des "individuellen Volkes innerhalb der Menschheit". Volk und Staat sollen in allem, was sie vorhaben und beginnen, auf die Frage hören: "Was wird da den Menschen, die hier leben, gegeben, wird es sie menschlich reiner und reicher oder wird es sie menschlich kümmerlicher werden lassen?". Leo Baeck sah in dieser ethischen Orientierung eine "große Möglichkeit und einen neuen Weg" für das deutsche Volk. Die neuen Chancen für Deutschland sollten auf der unbedingten Achtung der Würde des Menschen basieren, die zwölf Jahre lang mit Füßen getreten worden war.

Für den Wiedereintritt Deutschlands in die zivilisierte Gesellschaft der westlichen Demokratien blieb die Frage des Umgangs mit der Verantwortung für die Verbrechen unter der nationalsozialistischen Herrschaft von elementarer Bedeutung. Auch heute lassen sich diese nicht "bewältigen" oder gar durch finanzielle Transfers "wiedergutmachen", wir können sie nicht gegen anderes Unrecht und Leid aufrechnen und schon gar nicht zum alleinigen Problem der damals "willigen Vollstrecker" machen. Die offene und kritische Auseinandersetzung mit diesem düsteren Kapitel unserer Geschichte gehört zu unserem Selbstverständnis. Es hat lange genug gedauert, bis eine Bundesregierung endlich Verantwortung auch für das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter übernommen hat. Mit der Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" haben wir einen ersten, längst überfälligen Schritt getan.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sich die deutsche Öffentlichkeit lange Zeit sicher, dass der Staatsterrorismus der Nationalsozialisten mit seinen grauenvollen Verbrechen ein für allemal niedergerungen sei und von einigen ewig gestrigen und unverbesserlichen politischen Neurotikern keine Gefahr mehr für eine aktive Wiederbelebung der rassistischen Ideologie des "Dritten Reiches" ausgehen könnte. Heute sehen wir mit Sorge, wie Gewaltverherrlichung und Gewaltausübung sowie die Diskriminierung von Minderheiten zum Teil offen propagiert und praktiziert werden - und zwar auch von jungen Deutschen, die lange nach dem Ende der Nazi-Diktatur und ihrer verbrecherischen Ideologie geboren wurden. Misstrauen, Angst und blinder Gehorsam bilden eine Gefahr für unsere demokratischen Strukturen. Wir wissen, dass Staat und Gesellschaft entschlossen gegensteuern müssen. Dazu gehört auch das offene und mutige Eintreten des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin. Zivilcourage ist das Anti-Dot, sie setzt ich-starke Persönlichkeiten voraus, auch bei jungen Menschen.

Bundespräsident Rau hat kürzlich in einer in Leipzig gehaltenen Rede gefordert, dass wir sehr sorgfältig darauf achten müssen, ob das, was sich als Rechtsextremismus äußert,"nicht auch Anzeichen eines tiefergehenden gesellschaftlichen Wandels ist, ob die Gewaltexzesse nicht der'Aufstand angstvoller Unterprivilegierter'sind. Manches spricht dafür, dass viele der Gewalttäter nicht von gefestigten ideologischen Überzeugungen gelenkt sind, sondern von einem ohnmächtigen Zorn über ihre ungewisse materielle Existenz und von mangelnder Orientierung". Damit sollen die Gefahren des Rechtsextremismus nicht relativiert werden - vielmehr geht es darum, dieses komplexe Phänomen auf eine Weise zu analysieren, die effektives staatliches und bürgerschaftliches Handeln ermöglicht. Denn staatliche Repression allein hilft nicht. Wir brauchen Angebote an die Jugendlichen, die zum Gespräch und zur Integration bewegt werden können. Dazu gehört auch, soziale Perspektiven in Bildung, Ausbildung und Arbeit zu eröffnen.

Lassen Sie uns bei aller Sorge über diese Tendenzen aber auch nicht aus dem Auge verlieren, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Land geworden ist, das über demokratisch gefestigte Strukturen verfügt und eine im Ganzen weltoffene und tolerante Bürgerschaft hat, ein Land, in dem der interkulturelle Dialog zum Alltag gehört, ein Staat, der als verantwortungsbewusster Partner in der Weltgemeinschaft akzeptiert ist - nicht zuletzt auch in Israel. Die Bundesrepublik ist ein Land geworden, das auch vielen Menschen jüdischen Glaubens vor allem aus Osteuropa die Chance für ein neues Leben bietet - die wachsenden Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden sprechen da eine klare Sprache. Ich habe Leo Baeck zuvor mit dem Satz zitiert, die Epoche der Juden in Deutschland wäre ein für alle mal vorbei. Inzwischen haben viele Menschen die Chance genutzt, ein neues Kapitel unserer Geschichte zu beginnen, aufbauend auch auf den Lehren und Erfahrungen der Vergangenheit.

Ihnen, Herr Heuberger und Herr Backhaus, sowie allen Mitarbeitern, die an dieser Ausstellung gearbeitet haben, gebührt großer Dank dafür, dass Sie uns und einer breiteren Öffentlichkeit Leo Baeck, sein Leben, sein Werk und unsere Verantwortung gegenüber seinem Vermächtnis wieder ins Gedächtnis rufen.

Ich wünsche der Ausstellung großen Zuspruch, ein aufmerksames Publikum und eine nachhaltige Wirkung! 1] Ernst Ludwig Ehrlich: Reden über das Judentum, Kohlhammer, 2001, S. 46 2] ebenda, S. 52 3] ebenda, S. 47 4] ebenda, S. 50