Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 31.05.2001

Untertitel: Der Ethikrat soll kein Ersatzparlament sein; er bietet die Möglichkeit, die Diskussion in der Gesellschaft zu erweitern und sachverständiger werden zu lassen und sie immer wieder zu bereichern.
Anrede: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/42/44342/multi.htm


Ich denke, das Wichtigste, was in dieser Debatte deutlich geworden ist, ist, dass wir nicht nur für die Inhalte dessen, was gesagt wird, sondern auch für die Form Verantwortung haben und nach dem Ablauf der Debatte auch wahren. Deswegen war es wohltuend, dass hier niemand dem Anders denkenden Gewissen, Moral, auch Ernsthaftigkeit abgesprochen hat.

Niemand bestreitet, dass die wichtigste Grenze, die uns gesetzt ist, Art. 1 des Grundgesetzes ist. Das ist eine Grenze, die von der Würde des Menschen handelt. Sie ist und sie bleibt für uns unantastbar. Ich denke, dies eint uns. Worüber wir aber streiten und weiter streiten werden, ist, was das denn im Einzelnen heißt, was also bezogen auf unsere Handlungen im Einzelnen ethisch vertretbar ist und was nicht.

Diese Fragen zu entscheiden, das setzt zunächst einmal möglichst viel an Information voraus, und zwar an umfassender und vorurteilsfreier Information. Das bezieht sich nicht nur auf diejenigen, die hier an der Debatte teilnehmen, sondern auf die ganze Gesellschaft. Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß und offen über Optionen diskutieren kann, ist in der Lage, über eine solch schwer wiegende Zukunftsfrage wie die der umfassenden Nutzung der Gentechnik zu entscheiden.

Entgegen manchem Missverständnis möchte ich sagen, dass der von mir einberufene Nationale Ethikrat kein Ersatzparlament sein soll. Das könnte er auch gar nicht.

Der Ethikrat soll kein Ersatzparlament sein; er bietet die Möglichkeit, die Diskussion in der Gesellschaft zu erweitern und sachverständiger werden zu lassen und sie immer wieder zu bereichern. Natürlich ist er auch eine Möglichkeit, sachverständigen Rat zu geben. Ich denke, dagegen spricht wenig.

Zu den umstrittensten Themen gehört sicherlich - das ist auch hier deutlich geworden - der Embryonenschutz. Soweit ich die Diskussion verfolgen konnte, bietet das bestehende Embryonenschutzgesetz einerseits ausreichen den Schutz und lässt andererseits genügend Spielraum für Wissenschaft und Forschung. Ich meine deshalb, dass wir gut beraten sind, dieses Gesetz nicht vorschnell zu ändern. Wir können uns also auf der Basis dieses Gesetzes für eine ausführliche, offene und gewissenhafte Diskussion Zeit lassen. Darum geht es uns allen.

Ich stimme Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu, wenn er darauf hin weist, dass uns der Rückgriff auf das Verfassungsgericht zurzeit wenig hilft; denn sowohl Altbundespräsident Roman Herzog als auch die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts haben überzeugend deutlich gemacht, dass zu die ser Frage die Judikatur des Gerichts nicht vorliegt. Das Gericht ist mit dieser Frage -jedenfalls bislang - nicht direkt beschäftigt worden. Wer also den Gesichtspunkt der Verfassungswidrigkeit des einen oder anderen Handelns bemüht, sollte diese Stimmen unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Das eigentliche Potenzial der Gentechnik liegt darin, neue Medikamente und neue Behandlungsmethoden zu entwickeln, mit denen schwerste, bisher nicht heilbare Krankheiten unter Umständen geheilt oder gelindert werden kön nen. Sicherlich ist die religiös motivierte Position zu respektieren, die das Schicksal von Schwerstkranken und Patienten, die zum Beispiel an Krebs, Alzheimer, Parkinson, Mukoviszidose oder an einer anderen Krankheit leiden, als bedauerlich, am Ende aber unabänderlich empfindet. Aber ich frage mich: Ist nicht der Wunsch, die ärztliche Pflicht, alles nur Menschenmögliche für die Heilung schwerstkranker Menschen zu unternehmen, ebenso zu respektieren?

Ich denke, die Ethik des Heilens und des Helfens verdient ebenso Respekt wie die Achtung der Schöpfung. Ich sehe nicht, dass wir in einer Situation sind, in der sich beides gegenseitig ausschließt.

Ich bin der festen Überzeugung: Man darf den Forschern, die beispielsweise große Hoffnungen in die Stammzellenforschung setzen, nicht pauschal dunkle, unethische Motive unterstellen. Es mag auch unter Wissenschaftlern Aufschneider und Scharlatane geben, aber die allermeisten forschen Tag für Tag mit dem großartigsten Ziel überhaupt, nämlich Menschenleben zu retten. Dafür haben sie Respekt und Anerkennung verdient.

Wir stimmen sicherlich darin überein, dass das medizinische und therapeutische Potenzial der Gentechnik nicht allein - darin stimme ich Ihnen zu, Frau Fischer - , aber doch auch von der Forschung an Stammzellen abhängt. Es besteht in der Gesellschaft augenscheinlich Einigkeit darüber, dass die Forschung mit adulten Stammzellen erlaubt ist, ja sogar noch intensiviert werden soll. Wie aber verhält es sich mit den embryonalen Stammzellen? Es gibt eine Reihe von Forschern, die embryonale Stammzellen für wirksamer halten, wenn es um die Entwicklung neuer Therapiestrategien zur Ersetzung abgestorbener Zellen geht. Es gibt jene in unserem Land, die auf die Notwendigkeit verglei chender Forschung hinweisen. Das Embryonenschutzgesetz von 1991 schließt die Herstellung von Embryonen allein zu Forschungszwecken aus. Ich denke, dabei sollte es bleiben.

Aber wie wollen wir es mit den überzähligen befruchteten Eizellen halten, die bei der künstlichen Befruchtung in Deutschland anfallen? Nach Schätzungen lagern mehr als 100 Embryonen in Deutschland. Unser Gesetz erlaubt eine künstliche Befruchtung nur, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Genau dafür aber werden diese befruchteten Eizellen nicht mehr benötigt. Die Frage ist: Was wird mit ihnen passiert? Ist es angesichts der Alternative, sie wegzuwerfen, nicht doch vertretbar, begrenzte Forschung an ihnen zu ermöglichen? Diese Frage wird uns nicht loslassen.

Noch eine andere Frage bewegt mich: Laufen wir nicht Gefahr, den Streit um die PID überzubewerten? Die PID ist ein rein diagnostisches und kein therapeutisches Verfahren.

Bei ihr findet kein Eingriff in die Erbsubstanz statt. Mit der PID werden somit keine genetisch veränderten Menschen erzeugt. Die Befürworter der PID sagen, aufgrund einer medizinischen Indikation könne eine Schwangerschaft straffrei abgebrochen werden. Statt die entsprechenden Tests erst im Mutterleib vorzunehmen, plädieren sie dafür, diese Tests bei genetisch belasteten Eltern bereits vorher zuzulassen. Ich denke, dafür gibt es Gründe, die achtbar sind.

Ist der Rubikon wirklich überschritten, wenn ein Verfahren, das im Mutterleib angewendet werden darf, unter den gleichen Bedingungen - das ist zu betonen - wie bei der medizinischen Indikation auf Embryonen, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind, übertragen werden soll? Ist das ein Verfahren, das man wirklich unter allen Umständen ausschließen darf? Ich meine: nein.

Ich meine, dass wir dieses Verfahren in genau den gleichen Grenzen verantworten können, in denen wir eine medizinische Indikation zulassen. Ich will auf eines hinweisen: Dies bei uns zu ermöglichen, gibt uns die Chance, die Grenzen zu setzen, ohne zusehen zu müssen, dass sie in anderen Ländern überschritten werden. Es geht um schwierige Abwägungsfragen. Die heutige Debatte wird ein wichtiger und ein für alle hilfreicher Beitrag sein; aber eben nur ein einzelner Beitrag.

Die Diskussion muss und wird weitergehen. Das ist gut so und hilfreich für die politische Kultur in unserer Gesellschaft. Dabei werden wir uns immer wieder klarmachen, dass wir in schwierigen Abwägungsfragen in einer doppelten Hinsicht Verantwortung tragen, weil wir nicht nur für uns selber, sondern für die gesamte Gesellschaft und ihre Entwicklung verantwortlich sind. Eine Verantwortung haben wir für das, was wir tun, wir haben aber auch eine Verantwortung für das, was wir unterlassen.

Dies - und nicht platter Ökonomismus - ist gemeint, wenn ich darauf hin gewiesen habe, dass wir auch die Folgen des Unterlassens für Forschung und Entwicklung und damit für die Richtung, die unsere Gesellschaft nimmt, zu bedenken haben.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

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