Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 31.05.2001

Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin hielt am 31. Mai 2001 anlässlich der Päsentation des Gedenkbuches "Vor der Auslöschung..." im Centrum Judaicum Berlin folgende Rede:
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/51/45151/multi.htm


Anrede "Vor der Auslöschung..." gab es ein Leben, viele Leben, voller Eigensinn und Widersprüche, voller Enttäuschungen und Hoffnungen, Traditionen und Aufbrüche, Aufbrüche auch ins Neue und Unbekannte, jüdische Leben die wenig zu tun hatten mit dem oft romantisch verklärten, bis folkloristischen Bild, das man sich heute so gerne von ihnen macht.

So verschieden, wie diese Leben waren, so gleichförmig sollten sie einander gemacht werden, bevor sie ausgelöscht wurden. Zunächst in den Stereotypen der Nazipropaganda, und dann in der Praxis der Verfolgung und des Völkermordes.

Das Leben wurde in Bildern gefeiert und es wird in Bildern gefeiert. Man will und man wollte sie festhalten, das Lachen und die einzigartigen, die flüchtigen Momente, man wollte es in der lichtempfindlichen Schicht dauerhaft einbrennen, das Bild des Stolzes, das man im Studio von sich machen ließ, das Bild der Würde, die die Fotografie einem selbst, seinen Lieben, seinen Freunden und den spontanen Äußerungen des Glücks verlieh. Man nahm diese Bilder mit sich, so lange man noch irgendetwas mit sich tragen konnte. Bilder der Erinnerung, Bilder der Hoffnung, Hoffnung auf eine Zukunft als Mensch. Und das auch dann noch, als man den Besitzern dieser Bilder das Menschsein abzusprechen und sie Schritt für Schritt zu einer bloßen Sache zu degradieren suchte. Eine Sache der gegenüber sich moralische Rücksichtnahmen erübrigten. 2400 Bilder sind in Auschwitz übrig geblieben, die meisten wurden verbrannt, wie ihre Besitzer.

Nach der Befreiung gefunden, erzählen diese Bilder zwei verschiedene Geschichten, die wir niemals wieder zu einer Geschichte versöhnen können: das ist einmal die Geschichte des Lebens, und zwar eines Lebens in seiner individuellen Vielfalt, und auf der anderen Seite die Geschichte eines grausamen Massenmordes.

Wenn heute oft in allgemeinen und gelegentlich sich auch stereotyp wiederholenden Formulierungen geschworen wird, was man aus dem Holocaust zu lernen habe, so erinnern die Bilder, deren Veröffentlichung wir heute vorstellen wollen, auf eine eher stille Weise an das, was damals geschah. An das, was wirklich war. Das historische Ereignis des Massenmordes, so könnte man sagen, wird hier in seiner lebensweltlichen Dimension sichtbar. Aus den 2400 zufällig erhaltenen Bildern tritt uns keine heile Welt und kein Versprechen auf eine bessere Zukunft entgegen, sondern es werden Scherben sichtbar einer unwiederbringlich zerstörten, durchaus modernen, im zeitgenössischen Sinne modernen jüdischen Lebenswelt in Polen."Vor der Auslöschung..." zeigt, dass es möglich war, ohne moralischen Zeigefinger, ohne Besserwisserei und ideologische Instrumentalisierung an Auschwitz zu erinnern, an das, wie Hannah Arendt einmal in verstörender Lakonik sagte,"was nicht hätte geschehen dürfen". Es hätte nicht geschehen dürfen ", das heißt auch, dass alle Versuche, aus Auschwitz eine gewissermaßen für die Menschheit" nützliche Erinnerung "zu machen, die Zerstörung, den Mord, das" Böse " als eine Art historischer Hilfe für Wertorientierung und Sinngebung ansieht, und damit die Erinnerung an die Menschen, die individuellen Leben, die ausgelöscht wurden, durchaus verstellen kann. Die Menschen auf diesen Bildern, ihre Besitzer, die sie nach Auschwitz trugen, sie sind sicher nicht für etwas gestorben, und insofern erteilen sie uns keine Lektion. Die vielen persönlichen Katastrophen können auch durch ethische Indienststellung und auch durch mystische Überhöhung nicht gemildert werden.

Sechs Jahre lang haben das Museum Auschwitz und das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut gemeinsam die Geschichte dieser Bilder und dieser Menschen recherchiert. Möglich war diese Arbeit nicht nur durch die Ressourcen und Mitarbeiter der beiden Institutionen, sondern auch durch erhebliche Mittel der deutschen Bundesländer, und durch Spenden von Privatleuten und Unternehmen, die ganz unspektakulär die langjährigen Recherchen getragen haben.

Ich danke für diese Zusammenarbeit. Sie zeigt beispielhaft, dass Kooperation über trennende Erfahrungen hinweg möglich ist, und zwar nicht nur zwischen diesen beiden Institutionen, sondern auch zwischen Wissenschaftlern und Überlebenden und mit Partnern in Israel und den USA.

Am vorläufigen Ende dieser Zusammenarbeit steht nicht so sehr eine Art "Ergebnis", sondern eine Ausstellung und ein Buch, die man eher als Aufforderung sehen sollte, eine Aufforderung an uns, die sich an uns richtet, die auf uns einwirkt und die uns dazu veranlasst uns auf diese Menschen, ihre Biographien und auf ihr gewaltsames Ende wirklich einzulassen.

Die Herausgeber des Buches - Kersten Brandt, Krystyna Oleksy und Hanno Loewy - haben den schwierigeren, von zwei möglichen Wegen gewählt. Es wäre sicher "leichter" gewesen, aus den 2400 Bildern die - bitte verstehen Sie die Terminologie nicht miss - "schönsten", vielleicht "bedeutendsten" herauszugreifen und eine Art Bilderbuch des jüdischen Lebens vor der Shoa zu produzieren, gefällig betextet und in konsumierbare Geschichten aufgelöst.

Tatsächlich haben sich die Herausgeber anders entschieden. Sie lassen uns zunächst einmal mit den Bildern allein, einem verstörenden Fotoalbum, das seine doppelte Herkunft, nämlich die aus dem Leben, aus der lebensweltlichen Realität, und die der Zerstörung des Lebens, lediglich erahnen lässt. Sie lassen uns, ohne weitere kommentierende und den klaren Blick vielleicht störende Worte, unser jeweils eigenes Interesse an diesen Menschen finden und erkennen. Und die Herausgeber geben uns, mit einem zweiten Band - dieser Band ist Frucht langjähriger Recherche - mehr als 600 identifizierte Namen, Lebens- und Familiengeschichten, Interviews mit den Überlebenden, Informationen zum historischen Hintergrund als ein Werkzeug an die Hand, mit dem wir uns selbst die Geschichte dieser Menschen und ihrer Lebenswelt - so gut es geht - mit der historischen und der kulturellen Distanz erschließen können.

Die Geschichte der Stadt Bedzin, diese Industriestadt im damaligen Westen Polens, deren Einwohner, quer durch alle Schichten der Bevölkerung, mehrheitlich Juden waren, ist zu Unrecht fast vergessen. Und das, obwohl eines der bekanntesten und - vielleicht gerade wegen seiner ungewöhnlichen Form - eindrucksvollsten Bücher über den Holocaust, in dieser Stadt und seiner Nachbargemeinde seinen Ausgang nimmt, und nicht nur das, auch von Fotografien, wie denen, um die es heute Abend geht. Ich meine den Comic "Maus" von Art Spiegelman.

Es handelt sich in dieser Ausstellung und in diesem Buch um eine Grenzüberschreitung, Grenzüberschreitung zwischen visuellem Medium und Narrativ. Eine Grenzüberschreitung, wie wir sie alle gut kennen: Bildergeschichten und Familienalben auf unseren eigenen Dachböden sind vom selben Typ und sie ziehen uns gewissermaßen in den Sog der erzählenden Bilder hinein.

Dass auch dieser Abend eine Zusammenarbeit vieler Partner ist, freut mich besonders. Und dass hierzu neben dem Museum in Auschwitz, dem Fritz-Bauer-Institut und dem Kehayoff Verlag, neben der Jüdischen Volkshochschule Berlin und der "Aktion Sühnezeichen", der Botschaft der Republik Polen, die auch hier vertreten ist, und dem Verein "Gegen Vergessen - für Demokratie" auch erstmals die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" als Veranstalter beteiligt ist, ist, denke ich, ein gutes Zeichen, auch ein Ansporn. Auch in Berlin werden wir den Versuch machen, jenseits von großen symbolischen Gesten, ohne falsche Pädagogisierungen, ohne falsche Musealisierungen in einem einfach gestalteten Ort der Information an das zu erinnern, was war, an die vielfältigen Dimensionen der Auslöschung, des Völkermordes und an persönliche, exemplarische Schicksale, so wie das Museum Auschwitz und das Fritz-Bauer-Institut es in der neuen Dauerausstellung in Auschwitz-Birkenau in beeindruckender Weise tun.

Frau Kehayoff und den übrigen Veranstaltern, die zu diesem Abend hier im Centrum Judaicum eingeladen haben, möchte ich danken, ebenso den Überlebenden, die zu diesem Buch so entscheidend beigetragen haben. Mira Binford, Leon Blat, Arno Lustiger und Sigmund Pluznik, die werden auch heute Abend zu uns sprechen. Ich wünsche uns allen, ich wünsche Ihnen einen genauen Blick und dem Buch "Vor der Auslöschung..." die Aufmerksamkeit, die es verdient.

Danke.