Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 08.06.2001

Untertitel: Herr Professor Simon, meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst einmal begrüße ich Sie ebenfalls zur ersten Sitzung des Nationalen Ethikrates.
Anrede: Herr Professor Simon, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/43811/multi.htm


zunächst einmal begrüße ich Sie zur ersten Sitzung des Nationalen Ethikrates. Ich danke unserem Gastgeber, Herrn Professor Dr. Simon, und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dafür, dass Sie für die Geschäftsstelle des Nationalen Ethikrates hier Räume und Logistik bereitgestellt haben und das auch weiterhin tun werden.

Ich denke, die Akademie mit ihrem anerkannt guten Ruf für herausragende interdisziplinäre Forschung und vorurteilsfreie wissenschaftliche Auseinandersetzung ist eine ausgezeichnete Adresse für das, was Sie "Ansiedlung" genannt haben. Vor dem Hintergrund der Debatte, die gegenwärtig in unserer Gesellschaft läuft, ist es gut, dass der Ethikrat jetzt zusammentritt - und das nicht nur, weil sich inzwischen erfreulicherweise die öffentliche Diskussion intensiviert hat und zunehmend größere Kreise der Gesellschaft erreicht.

Mehr noch: Die Auseinandersetzung über die Möglichkeiten der modernen Biomedizin findet mittlerweile so gut wie in allen Medien statt. Sie haben uns ja eben in Ihrer Rede Kostproben mitgeteilt. So komprimiert hatte ich das bisher auch noch nicht wahrgenommen. Aber es ist schon bemerkenswert. Vielleicht sollte man Ihre Rede dem einen oder anderen, der sich in Leitartikeln verbreitet hat, zur Verfügung stellen. Ich wäre sehr daran interessiert.

Der Bundestag hat sich in der letzten Woche in einer ersten Generaldebatte zu Fragen der Gentechnik und Biomedizin beschäftigt. Ich fand, dass diese Debatte mit sehr viel Sachverstand, aber auch mit großem Ernst geführt worden ist. Dabei sind argumentative Frontlinien deutlich geworden. Fragen wurden aufgeworfen, die längst nicht alle beantwortet sind. Ich denke, der Rat kann sowohl zur Klärung der Sachfragen als auch zur Verbesserung der breiten Diskussion in der Gesellschaft einen Beitrag leisten.

Es ist deutlich geworden, dass wir, national wie international, einer Entwicklung gegenüber stehen, die in immer kürzeren Zyklen neue Erkenntnisse und Verfahren produziert. Ich bin nicht sicher, ob all diejenigen, die darüber reden, schreiben oder senden, immer auf der Höhe der Zeit sind, was diese Erkenntnisse angeht. Also: Der Rat ist auch das Gremium, das helfen soll, den Stand der Wissenschaft zu erkennen. Denn nur wenn das geschieht, kann man auch Folgerungen daraus ziehen. - Die Gefahr, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, besteht durchaus. Das soll nicht bezweifelt werden.

So sehr ich einerseits, etwa mit Blick auf das Embryonenschutzgesetz, betont habe und weiter betone, dass wir uns dabei nicht unter Zeitdruck setzen lassen - das dürfen wir auch nicht - , so dringend finde ich es andererseits, dass wir die Diskussion nun dort vertiefen und verbreitern, wo es um eine umfassende Information der Öffentlichkeit geht; Information über den Stand der Wissenschaft und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, aber natürlich auch über die ethischen Abgrenzungsfragen, die damit verbunden sind.

Ich betone: Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß, kann offen und dann auch öffentlich über Optionen diskutieren. Nur sie ist in der Lage, Entscheidungen über eine Zukunftsfrage wie die Nutzung der Bio- und Gentechnik zu treffen und mitzutragen. Deshalb betone ich so sehr, dass die Information und die Verbreitung von Informationen über den Stand der Wissenschaft einer der wesentlichen Punkte sein wird, mit denen sich der Rat zu beschäftigen haben wird.

Die Entscheidungen - das ist klar - dürfen nicht wenigen Eingeweihten oder gar interessierten Gruppen oder Parteien überlassen bleiben. Es ist deshalb durchaus Zeit, dass sich der Ethikrat heute konstituiert.

Ich habe den Nationalen Ethikrat - übrigens entsprechend einem häufig geäußerten Wunsch - vor allem in der Erwartung berufen, dass Sie Informationen erarbeiten, bei der Verbreitung dieser Informationen helfen, Empfehlungen aussprechen und natürlich auch Einfluss auf die öffentliche Debatte nehmen. - Wie sollte das anders sein? Wir werden zu klären haben, in welcher Form das geschehen kann.

Ich will einfügen: Nach meiner Vorstellung sollten die Diskussionen hier aufgezeichnet und daraus auch Informationen gemacht werden. Ich denke an das Publizieren der Debatten, die hier geführt werden. Natürlich wird jeder Debattenbeitrag zur Verfügung gestellt und erst nach einer Genehmigung dessen, der ihn geleistet hat, veröffentlicht werden. Aber ich will Ihnen bei der Gestaltung der Arbeitsweise nicht vorgreifen. Ich denke, dass die Öffentlichkeit ein eminentes Interesse daran hat und haben muss, dass die Debatten, die hier geleistet werden, nicht in diesem Kreis bleiben, sondern das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Mit Ihrer Hilfe sollen also die Gesellschaft und alle, die in ihr Verantwortung tragen, größere Entscheidungssicherheit bekommen.

Von der Politik erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht, dass sie verantwortliche Entscheidungen trifft, um die Chancen nutzbar zu machen, aber natürlich auch, um Menschen vor untragbaren Risiken schützen zu können. Deshalb muss die Politik Regeln festlegen und durchsetzen, die bei der Erforschung und Nutzung neuer Möglichkeiten, insbesondere in den Lebenswissenschaften, gelten sollen.

Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, an welchen Maßstäben wir die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung der Gen- und Biotechnologie ausrichten wollen. Diese Maßstäbe sind bekannt. Sie ergeben sich aus der Grundlage unseres Zusammenlebens in einer freien, demokratischen Gesellschaft - und natürlich zuallererst aus der Grundsatznorm des Grundgesetzes, dem Artikel 1 nämlich, der festlegt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Es geht darum, Instrumente und Regeln zu erarbeiten, um diese Maßstäbe, die ja doch abstrakt sind, auf Fragen von so epochaler Bedeutung anzuwenden, wie sie die Lebenswissenschaften heute und in Zukunft aufwerfen. Dabei soll der Ethikrat eine herausragende Rolle spielen. Wir erhoffen uns von Ihnen Empfehlungen für politisches und gesetzgeberisches Handeln. Wir halten das für wichtig und sind fest davon überzeugt, dass wir durch die Beratungen des Rates entscheidungssicherer werden. Sie werden keine Entscheidungen an Stelle der Politik zu treffen haben. Das wäre nicht Sache dieses Gremiums. Aber Politik kann die Verstärkung von Entscheidungssicherheit gut gebrauchen.

Sie können und sollen also helfen, die Gesellschaft darüber aufzuklären, in welche Richtung Forschung zielen kann und welche Möglichkeiten sich konkret bieten - zum Beispiel bei der Diagnose oder Therapie von Krankheiten. Und natürlich sollte der Ethikrat Stellung nehmen zu den damit verknüpften ethischen Fragen - nicht zuletzt deshalb heißt er ja so - , also zu den Folgen für den Einzelnen und die Gemeinschaft insgesamt.

Ich will es noch einmal sagen: Ihre Empfehlungen können und sollen Entscheidungen politisch verantwortlicher Gremien nicht ersetzen. Der Ethikrat ist kein wie auch immer gearteter Parlaments- oder Regierungsersatz. Er ist auch kein Gremium, das etwa an Stelle der Gesellschaft und der dafür Verantwortlichen Entscheidungen trifft oder an das wir ethische Verantwortung einfach abtreten wollten. All dies ist er nicht.

Schließlich ist er ganz bestimmt kein Expertenkollegium, das Entscheidungen anderer bloß mit passender ethischer Legitimation ausstatten soll. Auch diese Ängste, die gelegentlich geäußert worden sind, sind unbegründet. Übrigens: Genauso überflüssig ist die pauschale Diffamierung des Rates noch vor dessen Konstituierung durch Teile der Medien. Ich finde das nicht nur überflüssig; ich finde das schlicht enttäuschend.

Meine Damen und Herren, ich kann mir gut vorstellen, dass Ihre Diskussionen oft kontrovers verlaufen werden. Es wäre überraschend, wenn es anders wäre - angesichts der sehr unterschiedlichen Positionen, die hier und anderswo in der Debatte um die Gentechnik eingenommen werden.

Es geht uns nicht darum, zwischen Gut und Böse, zwischen schwarz und weiß, zu unterscheiden. Vielmehr stehen bei einer Vielzahl der zu beantwortenden Fragen Ansprüche nebeneinander - gelegentlich auch gegeneinander - , die gleichermaßen für sich reklamieren und vielleicht auch reklamieren können,"moralisch" zu sein. Es geht also in diesen Fragen nicht um die Grenzziehung zwischen ethischem und unethischem Handeln, sondern darum, eine Ethik des Heilens und Helfens mit der Achtung vor der Schöpfung und dem Schutz des Lebens in Einklang zu bringen.

Wahrscheinlich wird diese Entscheidung immer nur im Einzelfall zu treffen sein, und die Notwendigkeit der Abwägung wird sich in einer Vielzahl von Einzelfällen immer wieder stellen. Denn niemand wird den Forscherdrang und die wissenschaftliche Neugier der Menschen bremsen oder aufhalten können. Nach meiner Auffassung soll das auch niemand. Wir beraten und entscheiden nicht in einem von der Außenwelt isolierten Deutschland.

Sie werden in Ihrer Arbeit ständig mit biologischen, rechtlichen und philosophischen Erkenntnissen konfrontiert werden, die in anderen Ländern erreicht worden sind. Unsere Diskussion muss also als Teil einer internationalen, mindestens aber einer europäischen Debatte, verstanden werden.

Schon vor der Konstituierung des Ethikrates hier in Deutschland finde ich hochinteressant, dass mich zum Beispiel gestern mein griechischer Kollege, der in Berlin ist, darauf angesprochen hat, ob man nicht einen Austausch mit einem Gremium, das es in Griechenland gibt und das ähnliche Fragen beantwortet, organisieren könne. Das Gleiche habe ich in Österreich - man höre und staune - erleben können. Wir haben in Wien durchaus ernsthaft miteinander geredet, der österreichische Bundeskanzler und ich, auch über diese Fragen. Ähnliche Wünsche nach Kooperation gibt es aus Frankreich - ohne jeden Zweifel.

Wenn man diese Diskussionserwartungen zur Kenntnis nimmt, wird klar, dass es eine beschränkte Debatte auf die Fragen, die sich im nationalen Maßstab stellen, gar nicht geben kann, weil das, was wir hier zu besprechen haben, längst Teil einer internationalen, mindestens aber einer europäischen Diskussion ist. Deshalb werden die entsprechenden Diskussionen auch nie ein für alle Mal beendet sein. Auch das gehört zu dem, was klar werden muss. Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Antwort, die wir auf eine bestimmte Frage gefunden haben - das muss auch die Öffentlichkeit wissen - , womöglich selbst schon wieder neue Fragen aufwirft. Wir sollten keine Scheu davor haben, diese Debatte aufzunehmen und davon ausgehen, dass sie weitergeht.

Wir sind gut beraten, unser Handeln ständig im Licht neuer Erkenntnisse zu überprüfen und zu bewerten. Es ist wichtig, dass das geschieht. Ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Rat und der hier versammelte Sachverstand - auch die Qualität der Auseinandersetzung, die in ihm möglich ist - von großem Nutzen für die Gesellschaft und nicht nur für die Politik sein wird.

Über die einzelnen Fragen und Aspekte der Gentechnik hinaus kommt den Beratungen im Ethikrat noch eine weitere Bedeutung zu. Ich würde sie im weitesten Sinne als "stilbildend" bezeichnen wollen."Stilbildend" insofern, als wir alle - ich betone: alle - über diesen Rat hinaus aufgerufen sind, die Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen der Bio- und Gentechnik ohne Rechthaberei, vor allen Dingen aber ohne Diffamierungen, zu führen. Es ist ganz wichtig für eine zivilisierte Gesellschaft, dass die Auseinandersetzung über ein so grundlegendes Thema ohne Diffamierungen der jeweils einen oder anderen Position geführt wird. Keiner sollte dem anderen vorab den Respekt für seine Position absprechen. Ich denke, das erfordert die Redlichkeit einer intellektuellen Diskussion - und nicht nur einer intellektuellen.

Wir sind gehalten, unsere Auseinandersetzungen so zu führen und unsere Entscheidungen so zu treffen, dass wir unserer Verantwortung nicht nur vor uns selbst, sondern auch vor künftigen Generationen gerecht werden können.

Ich danke Ihnen deshalb, meine Damen und Herren, dass Sie bereit sind, Ihre Kompetenz und Ihr Engagement für diesen gesellschaftlichen Diskurs zur Verfügung zu stellen. Ich danke Ihnen insbesondere dafür, dass Sie die eine oder andere, gelegentlich auch unsachliche Kritik, ertragen haben und dass sie Sie nicht geschreckt hat, die Arbeit aufzunehmen. - Unsereiner ist ja, was diese Frage angeht, mit etwas dickerem Fell ausgestattet. Das können Sie gern unterstellen, obwohl Unsachlichkeit auch hart gesottene Politiker schmerzt. Auch das will ich hier einmal feststellen.

Ihnen und uns allen wünsche ich einen erfolgreichen Einstieg in die Arbeit, viele wichtige, auch interessante Diskussionen und mit uns, die wir zu entscheiden haben, ein konstruktives Zusammenwirken im Interesse der Gemeinschaft.