Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 08.06.2001
Untertitel: Nida-Rümelin stellt fest: Kunst ist autonom. Der Staat kann nur Rahmenbedingungen setzen. Die Kräfte des Marktes allein sind als Regulativ des Kulturbetriebes nicht ausreichend.
Anrede: Herr Präsident, Herr Minister, lieber Oliver Scheytt, sehr geehrte Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/59/59959/multi.htm
überarbeitete Fassung eines frei gehaltenen Vortrages; dies bei Veröffentlichung bitte angeben]
Das Verhältnis zwischen Kunst und Politik, Künstlern und Politikern ist spannungsreich. Ein Grund dafür liegt in dem Umstand, dass der Bereich der modernen Kunst in einer ganz besonderen Weise geradezu dadurch konstituiert ist, dass er Autonomie für sich beansprucht, sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene. Andererseits ist Autonomie immer auf bestimmte Rahmenbedingungen angewiesen - dies macht den Begriff der Autonomie problematisch und diskussionswürdig.
Die Autonomie der Kunst ist in Deutschland rechtlich so gut abgestützt wie in kaum einem anderen Land. Artikel 5 des Grundgesetzes und die Praxis der Rechtsprechung machen deutlich, dass die zentralen Protagonisten der Kultur die Künstlerinnen und Künstler sind, nicht die Politiker, auch nicht die Kulturpolitiker. Man kann sich ein Land vorstellen, indem es keine Kulturpolitik als Ressortpolitik gibt. Es gibt manche Weltregionen, die an diese Situation nahe heran kommen. In dieser Konstellation gibt es dann auch keinen Konflikt zwischen Kulturpolitik und Kunst.
Ich bezweifle, ob ein Zustand wünschenswert ist, in dem sich der Staat aus der Verantwortung für die Rahmenbedingungen der kulturellen Entwicklung des Landes heraus hält. Der Markt ist ein Modell dieser Art. Auch die kulturellen Güter, die Angebote der Kunst kann man dem Spiel von Angebot und Nachfrage auf einem Markt überlassen, und ein Gutteil ist dem überlassen. Meine dezidierte Position ist: Das darf es nicht sein, der Markt darf nur einen Teil des Austausches kultureller Güter bestimmen. Ein wesentlicher Teil der kulturellen Entwicklung eines Landes ist darauf angewiesen, dass Staat und Politik Spielräume schaffen, die so nicht bestehen würden, wenn es lediglich nach dem Spiel der Kräfte auf dem Markt ginge. Und das heißt: Kulturpolitik gestaltet, ob sie will oder nicht, sie gestaltet die Rahmenbedingungen.
Ich habe dafür bewusst den technokratisch anmutenden Begriff "Ordnungspolitik" verwendet, weil auf der Bundesebene eine spezifische Kompetenz angesiedelt ist, nämlich die Kompetenz der Gesetzgebung. Diese Bundesgesetzgebung, ob sie es will oder nicht, bestimmt die Rahmenbedingungen, auch die der kulturellen Entwicklung. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten zum Beispiel intensiv über die Novelle des Urhebervertragsrechts gesprochen. Eine solche Reform verändert die Situation der Kreativen in diesem Land. Oder nehmen Sie ein anderes Beispiel: Wenn sich - was schon erfolgt ist - die Bedingungen für Stifter verbessern, dann verändert dies die Bedingungen für bürgerschaftliches Engagement, mit positiven Folgen auch für Kunst und Kultur. Ich könnte mir ein anderes Verhältnis vorstellen als das gegenwärtige Verhältnis von 2: 1 für die Sportförderung gegenüber der Kulturförderung in Deutschland. Aber immerhin: Die Reform des Stiftungsrechts, bei der wir noch einen zweiten Schritt machen werden, verbessert die Rahmenbedingungen für kulturelle Projekte und ihre bürgerschaftlichen Stützen. Kulturpolitik gestaltet, und es ist besser, diesen Gestaltungsanspruch auch zu erheben, deutlich zu machen, dass wir es letztlich mit Wertfragen zu tun haben. Wir müssen wertend Stellung nehmen: Warum wird das eine gefördert und das andere nicht? Damit Entscheidungen über Förderungen nicht ein bloßes Spiel von Interessen sind, müssen die Positionen begründet werden - in einem öffentlichen Diskurs im Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Politik, so wie es in den letzten Tagen auch bei den fruchtbaren Gesprächen dieses Kongresses geschehen ist.
Ich will nur drei Balancen - wie ich es nennen möchte - ansprechen, die im öffentlichen Diskurs über Ziele der Kulturpolitik, in der Begegnung zwischen Künstlern und Politikern gewahrt werden sollten. Ich hatte bereits - und das führt dann gleich zur ersten Balance - davon gesprochen, dass das Selbstverständnis der modernen Kunst, und zwar aller Sparten, in hohem Maße von Autonomie geprägt ist, und dass deswegen die staatliche Rahmensetzung Autonomie befördern muss und nicht behindern darf. Autonomie ist nämlich nicht schon dann gegeben, wenn es nur die anonymen Kräfte der Nachfrage sind, die bestimmen, ob ein Künstler als Künstler, also in seinem Beruf, überleben kann oder nicht.
Autonomie findet ihre Grenzen dort, wo die Kunst Adressaten hat und sich auseinandersetzt mit der gesellschaftlichen Entwicklung, mit der Rolle der Künstler als Teil dieser Gesellschaft, wenn es also darum geht, ein Kooperationsverhältnis in dieser Gesellschaft zu definieren, in dem auch die Kunst steht. Viele der kreativsten Köpfe in der Künstlerschaft haben immer wieder die Frage als Herausforderung empfunden, wie die Kunst mit dem Alltagsleben, mit alltäglichen Erfahrungen in Verbindung gebracht werden kann. Es geht also um eine Balance zwischen Kunst und Lebenswelt, um die vielfältigen Verbindungen zwischen diesen beiden Bereichen. Gerade in der Gegenwart gibt es eine interessante und ermutigende Entwicklung, nämlich eine Neugierde auf die zeitgenössischen Künste aller Sparten von Seiten der Bürgerschaft, wie sie, soweit ich sehe, seit Jahrzehnten nicht mehr bestanden hat. Und umgekehrt gibt es gerade bei der jüngeren Generation von Künstlerinnen und Künstlern eine Bereitschaft, sich einzulassen auf gesellschaftliche Herausforderungen, auf die Kommunikation mit den Rezipienten, sich nicht zurückzuziehen in die Schutzräume, in denen sie nur zu tun haben mit den Repräsentanten der Art World. Ich finde das sehr ermutigend, und wir müssen versuchen, diese Entwicklung durch entsprechende kulturpolitische Entscheidungen zu unterstützen, da gibt es viel zu tun.
Die zweite Balance ist die zwischen Sinnlichkeit und Reflexion. Ich habe den Eindruck, dass Berlin eine ausgesprochen reflexionsfreudige Stadt ist, im Gegensatz zum Beispiel zu meiner Heimatstadt. Es wird viel diskutiert, auch wenn das Verhältnis von Debattenaufwand und Ergebnis nicht immer ganz überzeugen kann. Davon aber einmal abgesehen: Es wird zunehmend deutlich, dass die Verbindung von Reflexion und Sinnlichkeit ein essenzieller Teil der zeitgenössischen Kultur- und Kunstentwicklung und des gegenwärtigen künstlerischen Selbstverständnisses ist. Es gibt Ansätze, Wissenschaft und Kunst wieder in ein engeres Verhältnis zu bringen. Ich glaube, diese Ansätze sind sehr wichtig, denn es hat seit dem 19. Jahrhundert eine Auseinanderentwicklung stattgefunden, die beiden Seiten nicht gut getan hat, weder der Kunst noch der Forschung. Der Rückzug auf das eigene Fachgebiet sowohl innerhalb der Künste wie auch in den Wissenschaften hat Verbindungslinien verschüttet, die für beide Bereiche sehr fruchtbar sein können.
Die letzte Balance ist die zwischen Repertoire und Innovation. Ich verhehle meine Einschätzung nicht, dass wir hier eine Schieflage haben. Mir ist bewusst, dass es sehr schwierig ist, dieses Verhältnis auszutarieren. Im Detail kann man ganz unterschiedlicher Meinung sein über die Förderungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. Aber insgesamt, wenn man sich unsere Förderstrukturen in den Kommunen, in den Ländern und auch beim Bund ansieht, dann ist der Anteil des Bewahrens schon sehr hoch. Ein Indiz sind die Programme unserer großen Kunstinstitutionen. Die Philharmoniker in München hatten sich zum Beispiel vorgenommen, im Jahr 2000 ein Drittel ihres Programms mit Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert zu bestreiten. Dies hat stapelweise Protestschreiben ausgelöst. Und wenn man mit Komponisten spricht, dann sagen nicht alle, aber viele: "Wir sind in einer schwierigen Situation, weil wir eine so starke zeitliche Verzögerung haben zwischen der Entstehung neuer Musik und ihrer Vermittelbarkeit an ein größeres Publikum, und diese zeitliche Distanz ist größer geworden." Dagegen müssen wir etwas unternehmen, damit sich nicht in einigen Jahrzehnten die Frage stellt: "Was ist denn da passiert, Ende des 20. , Anfang des 21. Jahrhunderts? Hat es da einen Fadenriss in der Entwicklung gegeben? Kann es denn sein, dass die zeitgenössischen Komponisten, die damals - ich bin jetzt mit meinen Gedanken im Jahre 2070 - so Hervorragendes geleistet haben, nicht entdeckt und nicht entsprechend gefördert wurden?" Kurz: Ich habe den Eindruck, dass, alles in allem, ein Missverhältnis zwischen Repertoire und Innovation besteht. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir einen besonderen Akzent in der zeitgenössischen Kunst setzen, gerade auch in den Spielarten, die nicht publikumsgängig sind, die sich auf dem Markt schwer tun, die sich selbst mehr als Forschungsprojekte denn als Kultur-Events verstehen, die nicht schmückend erscheinen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
Ich plädiere dafür, dass wir diesen Entwicklungen eine besondere Aufmerksamkeit widmen, weil sonst kreative Potenziale in der Gegenwart verkümmern würden. Dies ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass ich vorgeschlagen habe, in Kooperation mit den Ländern durch die Errichtung einer Kulturstiftung der Bundesrepublik Deutschland eine zusätzliche Förderung mit den Schwerpunkten Innovation und zeitgenössische Kunst im internationalen Kontext zu etablieren. Wir sollten bewusst diesen Schwerpunkt setzen, weil er zu einem angemessenen Kulturverständnis in diesem Land, zu einem angemessenen Verständnis von Kulturnation im Herderschen Sinne beiträgt.