Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.07.2001
Untertitel: Wie keine andere Institution bündelt und repräsentiert die DFG die akademische Forschung in Deutschland.
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Winnacker, sehr geehrter Herr Bürgermeister Böger, meine sehr verehrten Damen und Herren Ministerinnen und Minister, sehr verehrte Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/76/47376/multi.htm
Wie keine andere Institution bündelt und repräsentiert die DFG die akademische Forschung in Deutschland. Sie leistet Hervorragendes im und für den wissenschaftlichen Diskurs. Aber sie ist auch unverzichtbarer Anstoßgeber und Ansprechpartner im Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie zwischen Wissenschaft und Politik.
Als unabhängige Organisation zur Forschungsförderung ist sie darüber hinaus ein wesentliches Element unseres dezentral organisierten Forschungssystems. Aus diesen Funktionen - die die DFG vorbildlich erfüllt - ergibt sich naturgemäß eine ganz besondere Verantwortung. So ist der Beitrag der DFG von zentraler Bedeutung, wenn über die wissenschaftliche Forschung in Biomedizin und Gentechnik zu entscheiden ist. Die DFG ist dieser Verantwortung nachgekommen, indem sie eine umfassende Stellungnahme zur Forschung an menschlichen Stammzellen vorgelegt hat. Sie hat damit erneut bewiesen, wie ernst sie ihren Auftrag nimmt, Öffentlichkeit und Politik frühzeitig über die Ziele und auch über die Hintergründe der Forschungsförderung zu informieren.
Die DFG tut das im Geiste der Aufklärung und in der forschungsfreundlichen Tradition Deutschlands. Diese forschungsfreundliche Tradition muss verteidigt werden. Ich betrachte das auch als meine ureigene Aufgabe. Sie muss verteidigt werden gegen Debattenbeiträge - in welcher Diskussion auch immer - , die geeignet sind, ein Zerrbild verantwortungsbewusster Forschung und verantwortungsbewusster Forscherinnen und Forscher in Deutschland zu zeichnen und zu verfestigen.
Ich denke, nach der Konstituierung des Nationalen Ethikrates war es angemessen und vernünftig, dass der Hauptausschuss der DFG gestern eine Entscheidung über den Förderantrag von Professor Brüstle zur Forschung an importierten Stammzellen bis zum Jahresende zurückgestellt hat. Ich füge aber genauso klar hinzu: Dann muss entschieden werden. Weiteres Zuwarten wäre nicht zu verantworten, jedenfalls nach meiner Auffassung nicht. Ich halte diese Entscheidung eines unabhängigen Gremiums auch deshalb für wichtig und richtig, weil sie die Gesellschaft nicht vor vollendete Tatsachen stellt.
In den letzten Monaten ist es uns gelungen, die Diskussion um die Chancen und Möglichkeiten von Biomedizin und Gentechnik zu intensivieren, gelegentliche Einseitigkeiten abzustellen und weite Kreise der Gesellschaft in diese Debatte einzubeziehen. Gerade in einer Frage, die wie kaum eine andere das Selbstverständnis der Menschen berührt, brauchen wir eine offene und gewissenhafte Debatte, brauchen wir Information und Aufklärung. Um genau diese Debatte zu fördern und ihr neue Impulse zu geben, habe ich den Nationalen Ethikrat berufen. Aber auch, um die Entscheidungssicherheit für die Politik und alle, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen, zu erhöhen. Es ist eben ein Unterschied, ob man eine so zentrale Entscheidung für sich selbst oder die ganze Gesellschaft und die Perspektiven unseres Landes trifft.
Deshalb war es gut, dass die DFG nicht vorzeitig Fakten geschaffen, sondern dem Nationalen Ethikrat und anderen die Möglichkeit gegeben hat, sich mit diesen Fragen zu befassen. Übrigens ist dabei nicht auszuschließen, dass die Debatte auch nach Entscheidungen weiter kontrovers geführt wird. Eine Diskussion, in der es um Freiheit und Verantwortung jedes Einzelnen geht, die das Selbstverständnis des Menschen berührt, lässt sich von niemandem stoppen, weder von der Politik, noch von Beratungsgremien. Genauso wenig lässt sie sich mit moralischen, religiösen oder anderen Machtworten beenden.
Ich will in diesem Zusammenhang einen Beitrag erwähnen, den der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, vor einigen Tagen veröffentlicht hat. In einer, wie ich finde, sehr fundierten Rede hat er darauf hingewiesen, dass der Mensch eben nicht nur biogenetisch, sondern durch historisch-kulturelle Einflüsse und Entwicklungen bestimmt ist. Ich halte gerade das in dieser Debatte für außerordentlich bedenkenswert. Den Menschen auf eine primär biologische Tatsache zu reduzieren, scheint mir wirklich nicht dem Geist der Aufklärung zu entsprechen, auf den wir uns alle so häufig berufen. Im Kern geht es doch um die Frage, wie wir eine Ethik des Heilens und Helfens mit der Achtung vor der Schöpfung und dem Schutz des Lebens in Einklang bringen können.
Mit dem Embryonenschutzgesetz haben wir übrigens eine Regelung, die sich bewährt hat. Die meine Regierung tragende Koalition hat sich darauf verständigt, dieses Gesetz nicht zu verändern - und das natürlich in Kenntnis der Reichweite des Gesetzes. Das gilt es, klarzustellen. Das schafft hinreichende Sicherheit für unsere Forscher, übrigens auch hinreichende Sicherheit, die der Internationalität des Gegenstandes, mit dem wir es zu tun haben, gerecht wird. Vor einer Weiterentwicklung der rechtlichen Regelungen werden wir die Empfehlungen des Nationen Ethikrates und der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages sorgfältig zu bedenken haben. Eine solche Weiterentwicklung wird es jedoch nicht mehr in dieser Legislaturperiode geben.
Es liegt in der Natur von Wissenschaft und Forschung, sich mit einem erreichten Erkenntnisstand nicht einfach zufrieden zu geben, sondern in immer neue Grenzbereiche vorzustoßen. Vor allem aber sind es die Menschen selbst, die seit Jahrtausenden ihre Intelligenz, ihr Wissen und ihren Forschergeist einsetzen, um ihr Leben zu erleichtern und ihre Lebensbedingungen zu verbessern, um Naturgesetze bewusst anzuwenden und beherrschen zu können. Um einen schicksalsergebenen "Naturzustand" zu überwinden und der Selbstbestimmung des Menschen zum Durchbruch zu verhelfen.
Spätestens seit Kopernikus ist klar, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse es erforderlich machen können, geltende weltanschauliche Grundsätze neu zu bewerten. Auch Männer wie Galilei und Einstein, wie Newton oder Descartes haben die Gesetze des Denkens - und damit auch unsere Anschauung von der Welt - grundlegend verändert. Niemand kann wissenschaftlichen Fortschritt einfach anhalten, schon gar nicht im nationalen Maßstab. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre in unserer Demokratie Verfassungsrang zugewiesen sind. Ihre Grenzen findet die Forschungsfreiheit in der Achtung und im Schutz der Menschenwürde. Die Forschung hat Recht und Gesetz zu achten.
Aber man muss wohl kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass ein Gesetz, das etwa einen ganzen Forschungszweig von vornherein und umstandslos verbieten wollte, auch und nicht zuletzt der Internationalität der Disziplin wegen, zum Scheitern verurteilt wäre. Unsere Werteordnung ist stark und gefestigt. Sie wird uns Entscheidungen ermöglichen, die Erkenntnisse der modernen biowissenschaftlichen Forschung menschenwürdig zu nutzen.
Es ist zu Recht immer wieder betont worden, dass ethische Fragen nicht nach wirtschaftlichem Nutzen entschieden werden können. Aber ebenso richtig ist es, dass die Qualität der Forschung ganz wesentlich für die Zukunftsfähigkeit eines Landes und seiner Gesellschaft und damit für das Wohlergehen seiner Menschen ist.
Diese Qualität entscheidet über die Fähigkeit zur Innovation und damit über die Chancen auf Wachstum und Beschäftigung. Sie ist mitentscheidend dafür, ob es uns gelingt, Wohlstand und Gerechtigkeit und bessere Lebensverhältnisse zu schaffen und unsere Umwelt zu bewahren. Es ist deshalb von großer Bedeutung, dass sich das gesamte deutsche Wissenschaftssystem einer groß angelegten und inzwischen abgeschlossenen Evaluation unterzogen hat.
Neben den in vielen Bereichen konstatierten Spitzenleistungen gab es dabei auch berechtigte Kritik. Kritik, die wir sehr ernst nehmen. Es ist daher an der Zeit, die Mängel in unserem Wissenschaftssystem zu beseitigen. Deshalb werden wir das Hochschuldienstrecht reformieren. Die Grundlage dafür haben wir am 30. Mai im Kabinett gelegt. Diese Reform ist ein wesentlicher Baustein bei der Schaffung eines modernen und leistungsfähigen deutschen Hochschulwesens. Andere Bereiche müssen jetzt hinzukommen. Ich denke dabei zum Beispiel an eine leistungsorientierte Hochschulfinanzierung. Mit der Reform des Hochschuldienstrechts werden wir die Juniorprofessur als neuen Qualifikationsweg einführen. Angehende Hochschullehrerinnen und -lehrer werden so bereits im Alter von 30 Jahren - und nicht erst mit 40 oder womöglich noch später - selbstständig forschen und lehren können.
Die Juniorprofessur soll auch dazu beitragen, den Anteil der Frauen in der männlich dominierten Wissenschaftswelt zu erhöhen. Bereits heute - so zeigt eine neuere Statistik - entscheiden sich erheblich mehr Frauen als noch vor wenigen Jahren für eine wissenschaftliche Karriere. Wir können es uns weder aus gesellschaftlichen noch aus wirtschaftlichen Gründen leisten, das Begabungspotenzial der vielen talentierten Hochschulabsolventinnen brach liegen zu lassen.
Außerdem werden wir die Professorinnen und Professoren auf einer neuen Grundlage - lassen Sie es mich untechnisch sagen - "bezahlen". Nicht mehr Lebensalter, sondern Engagement und Leistung werden künftig honoriert. Ich weiß: Die meisten der in Deutschland Forschenden und Lehrenden scheuen den Wettbewerb nicht - im Gegenteil. Denjenigen, die dem neuen System dennoch skeptisch gegenüberstehen, lassen wir die Wahl, ob sie in das neue System wechseln oder im alten verbleiben wollen.
Gerade in den zukunftsträchtigen Bereichen, die sehr stark von der Wirtschaft nachgefragt werden, ist es besonders schwierig, junge Menschen für eine wissenschaftliche Karriere in Deutschland zu gewinnen. Umso wichtiger ist hier die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Nachwuchsförderung ist eine Ihrer zentralen Aufgaben. Die Zukunft dieses Landes liegt damit auch in Ihren Händen. Ich weiß, dass Sie damit immer verantwortungsbewusst umgegangen sind und weiter umgehen werden.
Die Graduiertenkollegs zum Beispiel sind ein voller Erfolg; das noch junge Emmy-Noether-Programm ist sehr gut angelaufen. Aber auch mit vielen anderen Programmen und Projekten setzen Sie wichtige Impulse. Bei der Förderung des Nachwuchses geht es nicht nur um die künftige Personalausstattung unserer Hochschulen. Die Nachwuchsförderung ist vielmehr Garant für den Erhalt und den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft.
Die Diskussion um den Fachkräftemangel - vor allem bei Ingenieuren, Informatikern und Naturwissenschaftlern - führt uns das deutlich vor Augen: Wir brauchen einfach mehr glänzend ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Auch die erst kürzlich veröffentlichten Zahlen der OECD sind unmissverständlich: In Deutschland studieren viel zu wenig junge Menschen. Selbst wenn es uns gelingt, Studierneigung und Absolventenzahlen entscheidend zu verbessern: Schon auf Grund der demografischen Entwicklung werden wir den Fachkräftemangel nicht aus eigener Kraft beheben können. Das heißt, wir müssen uns noch mehr als in der Vergangenheit öffnen und internationale Kompetenz in Deutschland versammeln.
Der begabte Nachwuchs sucht sich heute dort seinen Platz, wo er für seine Arbeit das richtige Umfeld findet. Der internationale Wettbewerb um Studierende, Doktoranden, Wissenschaftler und hochspezialisierte Arbeitskräfte ist längst entbrannt. Unser Land darf in diesem Wettbewerb nicht zurückfallen. Im Gegenteil: Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, Deutschland weit internationaler zu machen, als es bisher ist. Deutschland wird nur dann attraktiv sein, wenn wir im Sinne der Internationalität eine transparente Zuwanderungspolitik betreiben und Integration nicht als Einbahnstraße begreifen.
Gerade ausländische Absolventinnen und Absolventen, die hier ihr Studium oder ihre Promotion abgeschlossen haben, müssen eine Perspektive zum Bleiben erhalten, und zwar eine unbürokratische Perspektive. Ihre Sprachkenntnisse, ihre hohe Qualifikation und ihre Lebenserfahrung in Deutschland bieten beste Voraussetzungen für eine dauerhafte Integration und für einen hohen - beiderseitigen - Nutzen. Ich setze mich für eine offene und umfassende Diskussion über das Thema Zuwanderung ein - eine Diskussion, die die ökonomischen Aspekte ebenso berücksichtigt wie die humanitären.
Die von Bundesinnenminister Schily eingesetzte unabhängige Zuwanderungskommission hat ihre Vorschläge heute veröffentlicht. Auf dieser Grundlage wird die Bundesregierung umgehend ihre Vorstellungen formulieren. Dabei ist wichtig, dass wir uns durch die Förderung der Qualifikation unserer Menschen, durch die Förderung von Frauen - übrigens nicht nur, aber auch in der Wissenschaft - die nötige Legitimation in der Gesellschaft dafür beschaffen, internationaler zu werden, uns also für Zuwanderung zu öffnen.
Wenn wir keine eigenen Anstrengungen machen - das gilt für die ganze Gesellschaft, für die Wissenschaft und vor allen Dingen für die Wirtschaft - , den Menschen Qualifikationsmöglichkeiten und den Frauen die Möglichkeit zu eröffnen, in Deutschland ihre Begabungen wirklich auch anzuwenden, dann werden wir die gesellschaftliche Legitimation für ein modernes Zuwanderungsrecht nicht in dem Maße erreichen können, wie wir das wollen. Wir werden es umso weniger können, wenn diese Frage wieder ein angstbesetztes Thema in Deutschland wird, was es vor der Debatte um die Green Card immer gewesen ist. Im Interesse Deutschlands und seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung appelliere ich an alle Beteiligten, aus dieser Frage, die so wichtig ist für die Perspektive unseres Landes und unserer Volkswirtschaft, keine vordergründige Stammtisch-Debatte werden zu lassen.
Noch in diesem Jahr wollen wir die gesetzliche Neuregelung verabschieden. Wir, die Bundesregierung, streben dabei einen breiten, parteiübergreifenden Konsens an; denn dies ist eine Problemlösung, die von allen wichtigen Kräften der Gesellschaft gemeinsam getragen werden sollte. Bei allem Respekt vor taktischen Überlegungen: Ich glaube, dass dies ein Thema ist, das so wichtig ist, dass sie nicht im Vordergrund stehen dürfen.
Weltoffenheit und Wissenschaftlichkeit, Forschergeist und Internationalität sind untrennbar miteinander verbunden - übrigens nicht erst seit der Globalisierung. Wo beides nicht miteinander in Einklang ist, leidet entweder die Freiheit oder das Wohlergehen der Menschen - meistens beides. Gerade darum geht es: Wissenschaft und Forschung müssen der Entwicklung der Menschen dienen, nicht ihrer Unterdrückung oder gar Vernichtung. Das einzige Ziel der Wissenschaft ", heißt es bei Brechts" Galilei "," besteht darin, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern " - ein ebenso richtiger wie herrlicher Satz und ein wunderbares Ziel, dem vor allen Dingen Sie verpflichtet sind.
Dieses Ziel zu erreichen, zur Befreiung der Menschen beizutragen - Befreiung von Not und Zwang, aber auch Befreiung der eigenen Kreativität - , ist die Verantwortung, die Politik und Wissenschaft miteinander gemein haben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft steht beispielhaft für eine Forschungstradition, die dieser Verantwortung, diesem aufklärerischen Geist immer gerecht geworden ist und ganz sicher auch weiter gerecht werden wird.