Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 05.07.2001

Untertitel: Eine humane Gesellschaft bedarf der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich insbesondere für die komplexe und ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne eine Herausforderung.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/53831/multi.htm


Digitale Spaltung der Gesellschaft überwinden - Eine Informationsgesellschaft für Alle schaffen

Ich beginne mit einigen Bemerkungen zum Rollenverständnis. Dass die Frage der "digitalen Spaltung" unserer Gesellschaft die Zuständigkeiten des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Medien betrifft, ist offenkundig, ebenso offenkundig wie der Umstand, dass der vorliegende Antrag Bereiche betrifft, die in die Zuständigkeiten vor allem der Bundesministerien für Bildung und Forschung sowie für Wirtschaft und Technologie fallen. Die mit dem Begriff "Digital Divide" benannte Problematik ist aber auch eine eminent kulturelle.

Eine humane Gesellschaft bedarf der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich insbesondere für die komplexe und ausdifferenzierte Gesellschaft der Moderne eine Herausforderung. Die Fähigkeit zur Orientierung, gerade auch zur Orientierung am Humanum, dem menschlichem Maß, setzt die Existenz öffentlicher Foren voraus. Je umfassender die Netze der Interaktion - nicht zuletzt durch das Internet sind sie teilweise weltumspannend - , umso wichtiger wird die Verständigung. Es wäre gar nicht möglich, in einer Gesellschaft, die so vielfältig, so hochmobil ist wie eine moderne Gesellschaft, stabile Strukturen der Kooperation über lange Zeiträume aufrecht zu erhalten, wenn wir uns nicht coram publico verständigen könnten, zum Beispiel über grundlegende Normen und Werte, die unsere Kooperationen leiten. Wir müssen daher darauf achten, dass die Foren der öffentlichen Verständigung nicht parzelliert werden. Ich sage dies auch mit Blick auf den europäischen Einigungsprozess. Ein demokratisch verfasstes Europa ist auf eine europäische Öffentlichkeit angewiesen. Diese europäische Öffentlichkeit existiert bislang allenfalls in Ansätzen.

Der Bezug zum Thema "Digital Divide" liegt auf der Hand: Eine digitale Spaltung würde eine tiefgreifende soziale Spaltung nach sich ziehen, aber auch eine kulturelle Spaltung in dem Sinne, dass Öffentlichkeit strukturell gefährdet wäre, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen keinen Zugang zu den mit dem Internet verbundenen Formen der Interaktion und der Verständigung hätten.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich alle im Antrag der Koalitionsfraktionen genannten Maßnahmen und Projekte. Sie sind wichtig, denn sie leisten unverzichtbare Beiträge zur Erreichung des Ziels einer Stärkung demokratischer Öffentlichkeit. Die im Antrag aufgeführten Programme sind auch im Hinblick auf dieses Ziel von der Bundesregierung konsequent angegangen worden. Ich kann diese Maßnahmen und Programme hier nicht im Einzelnen erläutern, sondern beschränke mich auf zwei Aspekte. Dies ist zum einen die Qualität der im Internet verfügbaren Inhalte, zum anderen die Frage nach den Herausforderungen für das Bildungswesen.

Zum ersten Aspekt: Rein technisch betrachtet bietet das Internet eine neuartige Grundlage für die Errichtung öffentlicher Foren mit großem Potenzial. Seine Bedeutung wird weiter zunehmen - Stichwort Konvergenz der Medien. Insofern ist es unabdingbar, möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu Informations- und Kommunikationsnetzen zu ermöglichen. Alle Bemühungen mit diesem Ziel werden allerdings entwertet, wenn der technische nicht mit einem inhaltlichen Zugang einhergeht. Ein genuiner inhaltlicher Zugang setzt aber strukturierte Angebote voraus. Bisher hat das Angebot im Internet einen eher zufälligen Charakter. Das sorgt für einen gewissen Charme, der jedoch schnell in Unübersichtlichkeit verfliegt. Dies erhöht nicht zuletzt die Barrieren für die diejenigen, die potenziell auf der internetabgewandten Seite des "Digital Divide" stehen.

Lösungsmöglichkeiten ergeben sich aus meiner Sicht in erster Linie aus der Übertragung des Public-Service-Gedankens auf den Online-Bereich. Ein fester Anteil strukturierter gemeinwohlorientierter Angebote ist ein probates Antidot zur drohenden Parzellierung und Verkarstung der Internet-Öffentlichkeit. Er wäre ein wichtiges Element kooperativer zivilgesellschaftlicher Strukturen. Das Spektrum reicht dabei von ganz praktischen Effizienz- und Transparenzgewinnen in der Interaktion zwischen Bürgern und Administration bis zu anspruchsvollen kulturellen Inhalten.

In diesem Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, die Erfahrungen und die hohe Kompetenz der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verstärkt für das Internet nutzbar zu machen. Sie können maßgeblich dazu beitragen, ein breites, gleichwohl inhaltlich strukturiertes Angebot in den neuen Medien für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich zu machen. Meiner Einschätzung nach hätte dies übrigens auch Auswirkungen auf die Qualität der von privater Seite angebotenen Inhalte, die sich am öffentlichen Sektor orientieren würden. Die den Rundfunkanstalten zugestandene Entwicklungsgarantie muss gewährleisten, dass sie Öffentlichkeit auch auf dem Weg herstellen können, den immer mehr Bürger beschreiten werden. Der Name dieses Wegs lautet "Internet". Das geltende Recht der Bundesländer erlaubt den Öffentlich-Rechtlichen nur Online-Dienste mit "vorwiegendem Programmbezug". Wie immer dieser Begriff genau ausgelegt wird: Er ist zu eng. Daher mein Appell, über Erweiterungsmöglichkeiten nachzudenken.

Zum zweiten Aspekt, den ich herausgreifen möchte, der Frage nach den Herausforderungen an das Bildungswesen: Das, was man "digitale Spaltung" nennt, lässt sich am ehesten dadurch verhindern, dass Menschen in die Lage versetzt werden, mit digitalen Medien umzugehen. Dabei geht es zum einen um das Erlernen basaler technischer Fertigkeiten im Umgang mit Hard- und Software, zum anderen um den Erwerb von Kompetenz, die es den Nutzern ermöglicht, Informationen in einen Sinnzusammenhang einzuordnen. Diese Feststellung scheint zunächst banal. Aus ihr ergeben sich aber durchaus nicht-triviale Konsequenzen. Ich nenne drei Punkte.

Erstens: Die Vermittlung der technischen Fertigkeiten müsste Bestandteil des elementaren schulischen Kanons werden, so wie das Lernen von grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder das Rechnen in den Grundrechenarten.

Zweiter Punkt: Die Vermittlung der kognitiven Kompetenz im Umgang mit neuen Medien ist zu einem guten Teil die Vermittlung von Orientierungswissen, der Fähigkeit, sich selbst in einen bestimmten Bezug zur Welt, zu anderen Menschen, zu anderen Dingen zu stellen. Dazu gehört unter anderem - ich kann das hier nur andeuten - das Vermögen mit Sprachen, der eigenen und fremden, sorgsam und klar umzugehen. Es wäre jedenfalls ein großer Fehler zu meinen, dass technische Fähigkeiten im Umgang mit dem Internet Teile dessen substituieren können, was wir unter Allgemeinbildung verstehen. Im Gegenteil: Das Niveau der Allgemeinbildung wird eher steigen müssen, auch unter dem Gesichtspunkt "Herstellen von Öffentlichkeit". Vor dem Hintergrund der Gefahr einer digitalen Spaltung ist dies keine leichte Herausforderung.

Drittens: Unser Bildungswesen muss sich verstärkt darauf einstellen, dass die digitalen Medien kulturelle Veränderungen nach sich ziehen. Diese Veränderungen betreffen gerade den Bereich der Pop- und Jugendkultur. Wir sollten darauf achten, dass die Schulen nicht den Kontakt zu jugendlichen Lebenswelten verlieren - Stichwort auch hier wieder Öffentlichkeit. Und wir sollten einbeziehen, dass sich die Entwicklung von Intelligenz nicht allein an kognitiven Faktoren festmachen lässt. Wir brauchen im Bildungswesen eine Balance zwischen Sinnlichkeit und der Fähigkeit, distanziert Gründe abzuwägen und Urteile zu fällen.

Quelle: BT-Drucksache 14/6374