Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 05.07.2001

Untertitel: Die Aufforderung an den Deutschen Bundestag, Geist und Buchstaben der Verfassung zum zentralen Gedanken des Föderalismus zu bekräftigen darf nicht mit der Suggestion verbunden werden, dass, womöglich vom Bund, eine Gefährdung der föderalen Tradition unseres Staatswesens ausgehe.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/53838/multi.htm


Kulturföderalismus in Deutschland erhalten " Der Antrag der F. D. P. bekräftigt Selbstverständlichkeiten und adressiert eine Gefahr, die ich nicht als eine reale erkennen kann. Dennoch sollten wir diesen Antrag zum Anlass nehmen, um uns über die Perspektiven des Kulturföderalismus in Deutschland auszutauschen, zumal die Diskussion um die Zukunft des Föderalismus im Zusammenhang der Verhandlungen über den Bund-Länder-Finanzausgleich in den letzten Wochen und Monaten wieder intensiver geführt worden ist.

Der Bundeskanzler hat das Ergebnis der Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten mit den Worten gewürdigt, dass der "deutsche Föderalismus eine wirkliche Bewährungsprobe" bestanden habe. Der Föderalismus in Deutschland ist seit über 50 Jahren eine der Säulen unseres staatlichen Selbstverständnisses und unserer staatlichen Wirklichkeit. Im Bereich der Kultur hat er eine imposante Leistungsbilanz, um die wir in vielen Ländern der Welt beneidet werden. Die Aufforderung an den Deutschen Bundestag, Geist und Buchstaben der Verfassung zum zentralen Gedanken des Föderalismus zu bekräftigen darf nicht mit der Suggestion verbunden werden, dass, womöglich vom Bund, eine Gefährdung der föderalen Tradition unseres Staatswesens ausgehe. Ich bekenne mich als ein Kulturföderalist aus Überzeugung und Überzeugungen - wenn sie ernst gemeint sind und in einem größeren Begründungszusammenhang stehen - kann man nicht wechseln wie ein Hemd, je nach dem, welches Amt man bekleidet.

II. Der Föderalismus in Deutschland hat eine große Tradition. Er ist keine Erfindung des Grundgesetzes. Föderale Elemente lassen sich über 1919 ( Weimarer Verfassung ) , 1871 ( Reichsverfassung ) , 1848 ( Paulskirchenverfassung ) bis 1663 ( Ewiger Reichstag ) zurückverfolgen. Dies ist Ausdruck einer spezifischen Entwicklung des deutschen Sprach- und Kulturraums in Mitteleuropa, der in seiner Konkurrenz der Völkerschaften, Fürstenfamilien, Regionen und Kommunen von je her eine Vielfalt und Multipolarität hervorbrachte, die mit einem zentralistisch und unitaristisch gestalteten Nationalstaat unvereinbar sind.

Kernstück des bundesrepublikanischen Föderalismus ist der Kulturföderalismus. Dabei sind die kulturstaatlichen Kompetenzen, die das Grundgesetz ex negativo den Ländern zuweist, wesentlich für ihre Identität und Legitimation. Deutschland zerfällt allerdings nicht in Regionen. Deutschland ist keine Union selbständiger Länder. Deutschland ist zweifellos - bei aller föderaler Charakteristik - ein Nationalstaat. Unserer gemeinsamen und für alle Deutschen geltenden politischen Verfassung korrespondiert eine gewachsene, gemeinsame kulturelle Verfasstheit. Der gemeinsame politische Handlungsraum des Nationalstaates hat zweifellos auch eine kulturelle Dimension. Diese ist ganz wesentlich bestimmt von der gemeinsamen Sprache, die seit dem späten Mittelalter zum konstituierenden Element einer deutschen Nationalkultur geworden ist. Die deutsche Sprache verbindet kulturell über staatliche Grenzen hinweg. Der gemeinsame Raum deutschsprachiger Literatur, deutschsprachiger Opern und Theatern umfasst mehrere Nationalstaaten in Mitteleuropa. Die personellen und inhaltlichen Verbindungen sind eng, obwohl dem kein gemeinsamer kulturpolitischer Gestaltungsanspruch korrespondiert.

Es ist kein Widerspruch, wenn einerseits im herderschen Sinne deutsche Kultur über staatliche Grenzen ausgreift und andererseits innerhalb der gegebenen staatlichen Grenzen eine spezifische kulturelle Dimension des deutschen Nationalstaates anerkannt und in der Praxis der Kulturpolitik des Bundes, der Länder und der Gemeinden berücksichtigt wird. Kultur ist in Deutschland seit Jahrhunderten immer zugleich national und regional orientiert. Bach ist kein Thüringer Komponist, Goethe kein hessischer Dichter, Beuys kein rheinischer Künstler, wenn auch jeweils regionale Bezüge in ihrem Werk wirksam geworden sind. Diese Künstler und das, was sie geschaffen haben, bilden das kulturelle Erbe der ganzen Nation und nicht nur der Bayern, Sachsen oder Mecklenburger. Ernst Gottfried Mahrenholz hat denn auch konstatiert, dass aus dem Begriff der Nation eben "logischerweise" folge, dass "die deutsche Nation wie jede andere eine Kultur" habe. Ich halte es für einen gewaltigen Fortschritt und auch seit Jahren überfällig, dass der Kulturstaat Deutschland sich in seinem Selbstverständnis und seiner operativen Verantwortung nicht hinter den Ländern versteckt..... Der Bund hat eine originäre Verantwortung für diesen Kulturstaat."Dies hat ein profilierter Kulturpolitiker aus den Reihen der Opposition ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl von 1998 gesagt und diese Bemerkung mit einem Bekenntnis zum Kulturföderalismus verbunden." Ich kann überhaupt nicht erkennen ", sagten Sie damals, Herr Lammert, dass der Bund dem" Bedürfnis der Länder, Kulturarbeit zu einer Ihrer politischen Schwerpunktaufgaben zu machen ( .... ) dabei in irgendeiner Weise im Wege stünde ". Ich möchte Ihnen darin ausdrücklich zustimmen.

Wenn es eine Nationalkultur gibt, dann hat der Bund eine Mitverantwortung für sie, und zwar wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat "aus der Natur der Sache". Es gibt eine gesamtstaatliche Kompetenz und Verantwortung für bestimmte kulturelle Angelegenheiten auch im Hinblick auf Ziffer 3 des Antrages. Es ist eine der kulturpolitischen Aufgaben des Bundes sich gegenüber den europäischen Institutionen für die Erhaltung der kulturellen Vielfalt einsetzen. Allerdings sehe ich derzeit keine von Brüssel ausgehende Gefährdung der föderalen Strukturen und des kulturellen Pluralismus in Deutschland und in Europa. Gerade die Europäische Union unterstützt ja regionale kulturelle Strukturen und Traditionen, ich erinnere nur an die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992. Es steht für mich zweifelsfrei fest, dass sich die weitere Entwicklung der europäischen Union, die zunehmend die Konturen eines historischen Europa nach dem Schisma des Ost-West-Konfliktes abbildet, nicht an den Vereinigten Staaten von Amerika orientieren darf, da für Europa die sprachliche und kulturelle Vereinheitlichung der USA kein Vorbild sein kann. Europa bleibt multilingual, multipolar, multikulturell - die Vielfalt macht die historische und kulturelle Substanz Europas aus. Jeder Versuch, Europa zu vereinheitlichen ist in einer Katastrophe geendet, für den letzten Versuch war Nazideutschland verantwortlich. Einen europäischen Nationalstaat kann es nicht geben, ohne das Europa seine Seele verliert.

III. Eine wesentliche Bedingung für eine weiterhin gute Entwicklung des Kulturföderalismus ist eine fruchtbare Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden. Kooperation ist im Einzelfall mit klarer Verantwortungsteilung nicht nur vereinbar, sondern verlangt diese geradezu. Dabei liegen die Schwerpunkte der Kulturpolitik des Bundes nach meiner Auffassung im ordnungspolitischen Bereich. Qua Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist der Deutsche Bundestag ein eminenter kulturpolitischer Akteur. Niemand kann vernünftigerweise leugnen, dass die Gestaltung unseres Steuersystems - und dabei denke ich nicht nur an die Besteuerung ausländischer Künstler - , das Urheberrecht, die Künstlersozialversicherung, das Stiftungsrecht, die Buchpreisbindung, die Gegenwärtig macht der Etat meiner Behörde etwa 10 Prozent der gesamten staatlichen Kulturförderung aus. Auch wenn das Gewicht der Kulturpolitik im Bund größer geworden ist, so bedroht das doch die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen und der Länder in keiner Weise. Im Gegenteil, auch die Kommunen und die Länder haben Interesse daran, dass der Bund die kulturelle Dimension seiner Politik so ernst wie nur möglich nimmt. Die Kulturpolitik der Länder und Gemeinden kann von günstigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die kulturelle Entwicklung in Deutschland nur profitieren. Eine wesentliche Ausweitung der Kulturförderung des Bundes ist schon wegen des eingeschlagenen Konsolidierungskurses der Bundesregierung nicht zu erwarten. Wo es zu zusätzlichen Förderungen gekommen ist, wurde diese in keinem Fall gegen den Widerstand des jeweiligen Sitzlandes und der jeweiligen Kommune beschlossen. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. Rahmenbedingungen der kulturellen Entwicklung in Deutschland wesentlich prägt. Es gehört zum Amtsverständnis des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, dass er unabhängig von der jeweiligen Federführung seinen kulturpolitischen Sachverstand in die Beratungen der Bundesregierung zu all diesen Themengebieten einbringt.

Allerdings strebe ich an, die Verantwortlichkeiten in Abstimmung mit den Ländern zu systematisieren. Auch das historisch Gewachsene muss sich die Überprüfung seiner Angemessenheit gefallen lassen. Wie gesagt, Kooperation und klare Verantwortungsteilung schließen sich nicht aus.

IV. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hat vor kurzem im Bundesrat festgestellt, dass der Föderalismus Vielfalt zulasse, ohne die Einheit zu gefährden. Das gilt in besonderem Maße auch für den Kulturföderalismus. Auch hier darf es nach über 50 Jahren kein Denkverbot im Hinblick auf zeitgemäße Anpassungen und Modifizierungen geben. Ich bin sehr dafür, die Verantwortung zwischen Bund und Ländern präzise aufzuteilen. Einen ersten Schritt haben wir in Berlin getan, wo wir eine diffuse gemeinsame Verantwortung des Landes und des Bundes im Rahmen des Hauptstadtkulturvertrages einvernehmlich mit dem Land Berlin abgelöst haben durch eine alleinige Trägerschaft des Bundes bei vier wichtigen Einrichtungen: dem Jüdischen Museum, den Festspielen, dem Haus der Kulturen der Welt und dem Gropius-Bau.

Aber es gibt eben auch Bereiche, die in gemeinsamer Verantwortung wahrgenommen werden sollten, weil, wie Josef Isensee feststellt, unser Grundgesetz die "offene, kommunikative und kooperative Kompetenzwahrnehmung" fördert. Dies gilt zum Beispiel für Gedenkstätten von nationaler Bedeutung. Hier dürfen die Kommunen und die Länder nicht aus der gemeinsamen nationalen Verantwortung entlassen werden. Unser Gedenkstättenkonzept sieht dem entsprechend vor, dass der Bund nur bis zur Hälfte fördern darf. Und so, wie Konsens darüber besteht, dass auch in Zukunft wissenschaftliche Großforschungsanlagen in der gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern bleiben sollen, so plädiere ich dafür, dass auch kulturelle Einrichtungen und Projekte von nationaler Bedeutung in der gemeinsamen Verantwortung bleiben können. So war es der Wunsch der Kultusminister der Länder, dass die geplante Nationalstiftung keine reine Bundeseinrichtung wird, sondern von Bund und Ländern gemeinsam getragen wird. Das von mir vorgelegte Konzept entspricht dieser Idee einer gemeinsamen Trägerschaft und steht insofern in der Logik eines kooperativen Kulturföderalismus, der einer Balance zwischen Konkurrenz und gemeinsamer Verantwortung verpflichtet ist.

Auch das große Projekt, die kulturelle Infrastruktur in den neuen Ländern zu fördern und die Beschädigungen aus der Vergangenheit zu beseitigen, ist ein national bedeutsames Projekt der Kooperation des Bundes mit den neuen Ländern und den Kommunen in den neuen Ländern. Dieses Gemeinschaftsprojekt hat großen Erfolg und es ist in den Haushaltsverhandlungen gelungen, eine Verdoppelung des für 2002 in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehenen Betrages von 30 auf 60 Millionen DM zu erreichen. Auch hier plädiere ich für eine Fortführung der kulturpolitischen Kooperation.

V."Wodurch ist Deutschland groß", notiert Eckermann 1828 einen Gedanken Goethes,"als durch eine bewunderungswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen hat.... Gesetzt wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen wie es um die deutsche Kultur stände?"

Es gibt nicht nur Wien und Berlin, sondern auch München und Dresden, Köln und Weimar, Hamburg und Stuttgart, Frankfurt und Potsdam, es gibt Gotha, Eutin, Donaueschingen und Bückeburg, um auch einige frühere Residenzen kleiner Duodez Fürstentümer zu nennen. An diesen und vielen anderen Orten findet das kulturelle Leben in Deutschland statt. Die Vielfalt ist faszinierend und wir sollten gemeinsam alles tun, um diese zu erhalten und zu fördern. Ohne das kommunale Engagement würde Deutschland kulturell verarmen. Wenn wir vom Kulturföderalismus reden, dürfen wir seine kommunale Basis nicht vergessen.

Quelle: BT-Drucksache 14/4911