Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 06.07.2001

Untertitel: Seit wenigen Tagen sitzt Slobodan Milosevic, der Brandstifter des gefährlichsten europäischen Flächenbrandes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in einer Haftzelle in Den Haag.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/24/47724/multi.htm


Seit wenigen Tagen sitzt Slobodan Milosevic, der Brandstifter des gefährlichsten europäischen Flächenbrandes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in einer Haftzelle in Den Haag. Milosevic wird sich in einem rechtsstaatlichen Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müssen. Dies ist ein Sieg des Rechts über die Gewalt und ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Fortschritt für Europa und die Welt. Wir erwarten nunmehr auch die Festnahme weiterer Gesuchter, an erster Stelle von Karadic und Mladic.

Es begann mit der Unterdrückungspolitik im Kosovo dem Angriff auf Slowenien. Am Ende standen vier blutige Balkankriege, Hunderttausende Tote und Millionen von Vertriebenen. Während sich Milosevic in Den Haag für seine Taten verantworten muss, geht die Saat seiner verbrecherischen Politik auf dem Balkan an anderer Stelle weiter auf. Seit einigen Monaten steht Mazedonien am Rande eines Bürgerkriegs.

Viel zu lange waren die Europäer uneins und nicht bereit, die notwendigen Instrumente einzusetzen, um dem entfesselten Nationalismus in Jugoslawien Einhalt zu gebieten. Erst nach der Tragödie von Srebrenica hatten sie begriffen, dass der Balkan nicht eine entlegene Weltregion mit eigenen Gesetzen ist, sondern dass dort ihre eigene Sicherheit und ihre eigenen Ideale auf dem Spiel stehen; dass der Balkan ein untrennbarer Teil Europas und seiner Sicherheit ist.

Zwei Dinge waren es, die die mörderische Strategie Milosevic beendeten und in Südosteuropa eine grundlegende Wende zum Besseren auslösten:

das entschlossene Eingreifen der Staatengemeinschaft zuerst in Bosnien und dann im Kosovo, und die Bereitschaft Europas, den Balkanstaaten eine europäische Perspektive, eine Perspektive für das Europa der Integration zu eröffnen. Dies ist der Kern des Stabilitätspakts und hierauf sind alle Bemühungen zur Unterstützung der demokratischen Kräfte in Ex-Jugoslawien gerichtet. Diese Politik war sehr erfolgreich. Heute sind Jugoslawien und Kroatien auf demokratischem Kurs. In Albanien fanden am vorletzten Sonntag erneut freie, demokratische Wahlen statt. Im Kosovo wird es Krieg und massenweise Menschenrechtsverletzungen nicht wieder geben, auch wenn das Zusammenleben der Volksgruppen noch lange schwierig bleiben wird. Das Gleiche gilt für Bosnien. Auch der Stabilitätspakt greift. Dies zeigen die Einigung von 7 Balkanstaaten, bis Ende 2002 eine Freihandelszone zu schaffen und die beachtlichen Ergebnisse der Geberkonferenz für Jugoslawien.

In Mazedonien aber ist heute der europäische Frieden wieder bedroht. Die Probleme dort sind anders gelagert als in Bosnien oder im Kosovo. Aber eines ist klar: Wir haben nicht gegen einen großserbischen Nationalismus und seine Gewaltpolitik gekämpft, um nun einem anderen extremen Nationalismus nachzugeben.

Die angespannte Lage in Mazedonien, die fast 100.000 Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat, gibt Anlass zu großer Sorge. Setzen sich die Hardliner auf beiden Seiten durch, dann ist eine gewaltsame Zuspitzung bis hin zum Bürgerkrieg nicht auszuschließen. Entscheidend für den Frieden in Mazedonien ist eine neue Grundlage des Zusammenlebens, eine geänderte demokratische Verfassung in einem einheitlichen Staat. Sie muss der Kern einer politischen Lösung sein.

Alle Anstrengungen von außen - hierin sind sich EU und NATO einig - müssen auf eine solche politische Lösung gerichtet sein. Die Mission Francois Léotards in Skopje in enger Kooperation mit der NATO und dem neuen US-Sondergesandten Pardew bietet die Chance, den Verhandlungen einen neuen Impuls zu geben. Die Bundesregierung hat diese Verhandlungen aktiv und mit eigenen Vorschlägen begleitet. Diese Vorschläge haben breite Zustimmung gefunden.

Eine grundsätzliche Einigung über die politische Lösung muss auf wesentlichen Grundprinzipien aufbauen, die auch in den Friedensplänen beider Konfliktparteien enthalten sind. Vor allem:

territoriale Integrität, kein Sonderstatus für Teilgebiete, und ein Bekenntnis zu Mazedonien als multiethnischem Staat. Eine politische Lösung sollte darüber hinaus Maßnahmen zur Vertrauensbildung und zur Integration der Ethnien sowie eine Einigung über Verfassungsfragen beinhalten. Die strittigen Punkte dabei sind

eine Änderung der Präambel in Richtung einer Bürgerverfassung, eine Säkularisierung des Staates, das Recht zur Benutzung der albanischen Sprache als eine der offiziellen Sprachen Mazedoniens, Schutzklauseln zur Wahrung der Interessen der ethnischen Gemeinschaften in für sie existentiellen Fragen. Die mazedonische Regierung hat mit Hilfe des Verhandlungsteams ein Rahmenpapier erarbeitet, das gegenwärtig noch abgestimmt wird. Es steckt die Bereiche für zukünftige Verhandlungen ab und soll bereits jetzt konkrete Verpflichtungen festlegen.

Die Umsetzung einer politischen Lösung wird - dies muss allen klar sein - eine entsprechende Absicherung durch die Staatengemeinschaft voraussetzen. Diese zentrale Lektion der vergangenen vier Balkankriege darf heute nicht in Vergessenheit geraten.

Präsident Trajkowski hat die NATO um Unterstützung bei der freiwilligen Entwaffnung der NLA gebeten. Alle Angehörigen der mazedonischen Regierung haben dem zugestimmt. Die Bundesregierung ist bereit, im Rahmen der NATO hieran mitzuwirken, wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

1. Eine belastbare Grundsatzvereinbarung zur politischen Lösung der Probleme in Mazedonien und der Verzicht auf jede militärische Option. Wir werden darauf hinwirken, dass die Weichen irreversibel in Richtung eines dauerhaften Friedens gestellt werden.

2. Eine Einigung über den Waffenstillstand und seine Modalitäten,

3. Eine Selbstverpflichtung der NLA zu freiwilliger Waffenabgabe.

Gestern haben die NLA und die mazedonische Regierung in einseitigen Erklärungen eine Einstellung der Kampfhandlungen für heute angekündigt. Wenn diese Waffenruhe anhält, ist eine erste wichtige Voraussetzung für den Frieden in Mazedonien geschaffen worden. Damit ist aber, wohlgemerkt, erst eine der drei Voraussetzungen für die Operation "Essential Harvest" der NATO erfüllt.

Erst wenn aber wirklich alle drei Voraussetzungen gegeben sind, kann die NATO eine sinnvolle Rolle spielen. Jeder falsche und voreilige Schritt birgt die große Gefahr, die ethnischen Siedlungsgrenzen faktisch zu zementieren. Dies hätte negative Folgewirkungen für die gesamte Region.

Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann darf und wird sich Deutschland seiner außenpolitischen Verantwortung nicht entziehen. Alles andere würde nicht nur die deutsche Bündnisfähigkeit, sondern auch die europäische Handlungsfähigkeit massiv beeinträchtigen.

Wir haben deshalb sichergestellt, dass die Vorbereitungen für eine deutsche Beteiligung an der Operation "Essential Harvest" in der Größenordnung von etwa zwei Einsatzkompanien eingeleitet werden und dies in den laufenden NATO-Planungen berücksichtigt wird. Die beiden Kompanien sollen gemeinsam mit dem französischen Kontingent zum Einsatz kommen, wenn die NATO nach Vorliegen aller Voraussetzungen diesen Einsatz beschließt und der Deutsche Bundestag ihrer Entsendung zustimmt.

Der Bundeswehr werden für den Fall ihrer Beteiligung die nötigen materiellen Voraussetzungen zur Verfügung stehen. Politischer Wille und materielle Fähigkeiten gehören untrennbar zusammen - auch das ist eine der Lehren, die Europa aus den Krisen in Südosteuropa gezogen hat.

Lassen Sie mich noch einmal unterstreichen: Eine Beteiligung der Bundeswehr bei der Waffenabgabe ist nur unter den genannten Voraussetzungen vorstellbar. Das Schreiben Präsident Trajkowskis an NATO-GS Robertson, das von allen Parteien der Koalitionsregierung gebilligt wurde, ist nach Auffassung der Bundesregierung hierfür die eindeutige Rechtsgrundlage. Der Bundeskanzler hat gestern den Fraktionsvorsitzenden zugesagt, sie vor einer möglichen Beschlussfassung im Kabinett erneut zu unterrichten. In letzter Instanz ist es Sache des Bundestages, über eine solche Beteiligung zu entscheiden.

Der Realismus gebietet es, darauf hinzuweisen, dass auch eine Verschlechterung der Lage in Mazedonien denkbar ist, die eine andere Planung der NATO nach sich ziehen könnte. In diesem Fall müssten wir die Umstände auch mit Blick auf eine mögliche Beteiligung der Bundeswehr dann neu bewerten.

Meine Damen und Herren, die komplexen Probleme Südosteuropas hängen weitgehend miteinander zusammen. Die Fragen um Bosnien-Herzegowina, um Montenegro, um den Kosovo oder um Mazedonien sind eng verwoben mit der Situation in den jeweiligen Nachbarstaaten und -regionen. Ohne deren Einbindung wird ein Zusammenleben der Völker auf dem Balkan letztlich nicht dauerhaft friedlich geregelt werden können. Es ist daher von verschiedener Seite vorgeschlagen worden, den Versuch einer regionalen Gesamtlösung zu machen.

Dabei ist eines entscheidend: Wenn wir über eine Gesamtlösung sprechen, dann müssen Substanzfragen ganz ans Ende gerückt werden - eben weil diese Fragen unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum friedlich lösbar sind. Am Anfang muss die Definition der Verfahren und Regeln stehen. So verlief der KSZE-Prozess und diese positive Erfahrung sollte auch die Grundlage für das Vorgehen in Südosteuropa sein. Oberste Prinzipien müssen Gewaltverzicht, die Achtung der Grenzen und der Menschen- und Minderheitenrechte sein.

Auf einer solchen Grundlage könnte dann ein Konferenzprozess für Sicherheit und Stabilität ins Auge gefasst werden, aber nicht in der Perspektive des 19. Jahrhunderts, nicht also dass Großmächte erneut über das Schicksal Südosteuropas entscheiden, sondern in der klaren Perspektive der Heranführung der gesamten Region an das integrierte Europa. Es sollte eine "Brüsseler", nicht eine Berliner Konferenz sein. Der Stabilitätspakt sollte dazu Vorarbeiten leisten.

Meine Damen und Herren, die entscheidende Lektion aus vier furchtbaren, blutigen Kriegen in Südosteuropa lautet: der Balkan ist ein Teil von Europa. Seine Zukunft ist die zentrale Frage der europäischen Sicherheit und damit auch eine der zentralen Fragen des europäischen Integrationsprozesses. In Mazedonien haben wir diesmal die große Chance, einen Bürgerkrieg präventiv zu verhindern. Wir müssen uns dieser Aufgabe mit allen unseren Kräften stellen, sonst würden wir alles gefährden, was in den vergangenen Jahren erreicht wurde.

Deutschland darf dabei nicht abseits stehen, das ist unsere europäische Verantwortung. Das war bisher breiter Konsens in diesem Haus. Es geht um den Frieden auf dem Balkan, um die Zukunft Europas und um die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik.