Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.07.2001

Untertitel: Die vielleicht wichtigste Funktion des Hauses der Geschichte liegt darin zu zeigen, dass die deutsche Nachkriegs­geschichte ihre "Eigengewichtigkeit" hat.
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Schäfer, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/81/47981/multi.htm


Wer sich als Politiker mit dem Thema "Geschichte" auseinander setzt, sollte zwei Dinge bedenken.

Erstens: Politik ohne Geschichte gibt es nicht. Ich meine das nicht etwa nur in dem Sinne, dass uns die Geschichte immer wieder "einholt". Eine geschichtsvergessene Kultur und Politik würde auch an der Aufgabe, Gegenwart zu begreifen und auf dieser Basis Zukunft zu gestalten, notwendig scheitern. Deshalb ist die Auseinandersetzung so wichtig. Übrigens: Dass das für Deutschland in besonderem Maße gilt, habe ich in meinem Amt in einer Heftigkeit erfahren, die mich gelegentlich - ich muss es so sagen - überrascht hat.

Zweitens: Geschichtsforschung und geschichtliche Darstellung müssen sich ihrer Gegenwärtigkeit stellen. Es reicht eben nicht, bloß abstrakte Strukturen und Prozesse zu vermitteln. Das Erlebte der Menschen eröffnet - zusammen mit einer öffentlichen Debatte und der politischen Analyse - eine Perspektive, die Wesentliches zum Selbstverständnis der Gesellschaft beitragen kann und - ich bin dessen sicher - beitragen wird.

Genau in diesem Sinne, meine Damen und Herren, hat das Haus der Geschichte in den sieben Jahren seines Bestehens außerordentlich erfolgreich gearbeitet. Ergebnis dieser Arbeit ist auch die große Akzeptanz beim Publikum - wir haben, Herr Professor Schäfer, über die Zahlen geredet - , die gar nicht genug gewürdigt werden kann und die auch anhält, seitdem die Besuchergruppen der Abgeordneten nicht mehr hier sind.

Dies betrifft übrigens auch das von der Stiftung Haus der Geschichte aufgebaute Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, das wir miteinander im Oktober 1999 eröffnet haben.

Beeindruckt hat mich dabei die konsequente Besucherorientierung. Komplexe und komplizierte Sachverhalte werden in den Ausstellungen anschaulich präsentiert, ohne dass dabei auf wissenschaftliche Maßstäbe verzichtet wird. Wir haben in unserem kurzen Vorgespräch darüber geredet, was Sie gelegentlich, sozusagen als leichten Vorwurf dargereicht bekommen, das hier sei doch Disneyland. Sie haben, wie ich finde, zu Recht darauf erwidert: Warum nicht? Wir sind leider nur nicht so gut wie sie. - Ich würde hinzufügen: im Übrigen auch nicht so reich.

Aber diese Besucherorientierung, die ist richtig. Die Kritik dagegen, die so ein bisschen von oben herab geäußert wird, ist falsch. Denn das, was Sie hier leisten, Komplexität anschaulich zu machen und damit Geschichte im guten Sinne des Wortes erfahrbar, anfassbar zu machen, das hilft ganz vielen Menschen, die sich nicht jeden Tag wissenschaftlich mit Geschichte befassen können und auch nicht wollen.

Zu den Prinzipien der Ausstellungen, die sich übrigens in beiden Häusern bewährt haben, gehören - Sie haben darauf hingewiesen - der Einsatz modernster Medien und eine Interaktivität, die aus Besuchern Nutzer historischer Informationen machen soll und kann.

Meine Damen und Herren, hohe Anerkennung verdienen die Ausstellungsmacher, so finde ich, auch dafür, dass sie das eigene Werk noch einmal gründlich überarbeitet haben. Die Ausstellung über die Geschichte seit den 70-er Jahren wurde konzeptionell verändert und ergänzt. Zeitgeschichte "- das hat Barbara Tuchman, die große Dame der amerikanischen Geschichtswissenschaft, einmal gesagt -" ist Geschichte, die noch qualmt."Hier kann man das riechen oder jedenfalls spüren, wenn ich an einige Ausstellungsstücke denke. Umso schwieriger ist natürlich die Aufgabe, so" zeitnah " die Geschichte dieser letzten Jahrzehnte zu präsentieren und neuen Interpretationen zu öffnen.

Ich denke, meine Damen und Herren, das geht an uns, die wir heute dabei sein können, aber auch an viele, die noch kommen werden. Ich hoffe, dass die anwesenden Medien kräftig Werbung machen - nicht für mich, sondern für das Haus der Geschichte, damit das klar ist.

Wir alle zusammen, meine Damen und Herren, sollten Hermann Schäfer und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, seiner Mannschaft also, danken, dass sie sich dieser großen Herausforderung so erfolgreich gestellt haben. Wenn ich das sage, kommt das von Herzen.

Meine Damen und Herren, die vielleicht wichtigste Funktion des Hauses der Geschichte liegt darin zu zeigen, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte ihre "Eigengewichtigkeit" - auch im Vergleich zu anderen Epochen - hat. Das muss immer wieder deutlich gemacht werden. Ich denke, nach mehr als 50 Jahren gelungener Demokratie und friedlicher Entwicklung in einem prosperierenden Europa sollten wir diesem Kapitel den ihm zukommenden Platz in der deutschen Geschichte einräumen. Natürlich steht es der Politik nicht zu, historische Wertungen für sich zu beanspruchen.

Aber in diesem Zusammenhang möchte ich doch auf die Einschätzungen von Historikern wie etwa Kurt Sontheimer oder Fritz Stern verweisen, der gesagt hat: Die alte Bundesrepublik hat etwas geleistet, was in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht erreicht wurde - die Überwindung der alten Zerrissenheit. Dank wirtschaftlicher Kraft, aber auch dank eines neuen Denkens hat die Bundesrepublik eine innere Befriedung geschaffen. Die Entschärfung innerer Kämpfe gab der bundesrepublikanischen Außenpolitik ihre Beständigkeit."

So weit Fritz Stern.

Und Kurt Sontheimer merkt an: Das neue Deutschland ( ... ) ist auch nach der Wiedervereinigung eine ( ... ) zivile Republik, die den verhängnisvollen historischen Sonderweg Deutschlands für immer verlassen hat - so war Deutschland nie."

Geschichte, meine Damen und Herren, ist immer auch ein Moment der Selbstvergewisserung einer Nation. In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der Bundesrepublik auch deshalb bedeutsam, weil es endlich gelungen ist, den alten Gegensatz von "Nation" auf der einen Seite und "Demokratie" auf der anderen Seite zu überwinden. Unsere nationale Identität ist heute Teil einer europäischen Identität - ohne in ihr aufzugehen. Jenes "rätselhafte", nicht nur seinen europäischen Nachbarn Sorgen bereitende Deutschland, das sich zwischen Nation und Demokratie nicht entscheiden kann - jenes Deutschland gibt es heute nicht mehr.

Meine Damen und Herren, es sind klar benennbare Faktoren und Prinzipien, die dieses Deutschland der Nachkriegsgeschichte auszeichnen:

die Festigkeit unserer auch in Konflikten bewährten Demokratie, die Verankerung im Wertesystem von Freiheit, Teilhabe und Menschenrechten; die feste Einbindung in unsere auf diese Werte gebauten europäischen und transatlantischen Bündnisse, aber auchdie Erfahrung einer friedlichen Revolution im Osten Deutschlands, die durch die Zivilcourage der Menschen die deutsche Einheit ermöglicht hat. Das sind Bedingungen, die uns heute sagen lassen können: Deutschland ist eine demokratische Nation geworden.

Diese Erfolgsgeschichte, auf die wir durchaus mit Stolz blicken können, ändert allerdings nichts an zwei fundamentalen Tatsachen.

Erstens. Natürlich ist die Zukunft offen. Die Geschichte gibt uns eine Handhabe, aus positiven wie aus schrecklichen Erfahrungen Lehren für die Gestaltung der Zukunft zu ziehen. Aber Freiheit und eine Entwicklung in Wohlstand und Wohlfahrt, in Teilhabe und Gerechtigkeit müssen stets aufs Neue erworben, manchmal auch erkämpft werden. Dies wissen wir nicht nur aus der deutschen Erfahrung - aber vor allen Dingen daraus. Aber wir wissen es auch in unserer Verpflichtung, für Stabilität, Freiheit und Menschenrechte auf dem europäischen Kontinent und darüber hinaus einzustehen.

Zweitens. Geschichte kennt keine abschließenden Urteile, zumal über die jüngere Vergangenheit. Und sie kennt - das gilt es zu unterstreichen - keine wie auch immer gearteten Schlussstriche. Dies gilt für die unvorstellbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, für zwei von Deutschen angezettelte Weltkriege im 20. Jahrhundert. Aber es gilt auch, wenngleich in anderer Form, für die Beschäftigung mit der zweiten, der stalinistischen Diktatur. Die Konfrontation mit Geschichte ist politischer Alltag - nicht nur in Deutschland, aber hier vielleicht in besonderem Maße. Das ist übrigens nicht nur Last, sondern auch Chance - ob bei der längst überfälligen Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter, die wir endlich auf den Weg gebracht haben, oder beim Umgang mit Stasi-Akten:

Die Auseinandersetzung mit Geschichte, mit historischer Verantwortung ist Teil unserer Gegenwart. Diese Auseinandersetzung ist aber nicht allein Sache der Politiker. Man muss gar nicht erst auf die unerträglichen Ausschreitungen von Fremdenhass und Rechtsradikalismus hinweisen, um zu wissen, dass eine selbstbewusste, demokratische Gesellschaft das historische Erinnern braucht. Dies umso mehr, als immer weniger Zeitzeugen unmittelbar von jenen Epochen des Militarismus, Nationalsozialismus und totalitärer Diktatur, aber auch von den Zeiten des demokratischen Aufbaus berichten können. Das erhöht die Anforderungen an historische Vermittlung, die sich in unserer Mediengesellschaft durchaus dem Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit stellen muss und - wie hier gezeigt wird - auch stellen kann. Vor dieser Aufgabe steht immer wieder das Haus der Geschichte.

Meine Damen und Herren, ein bekannter englischer Historiker hat darauf hingewiesen, dass der Missbrauch von Geschichte zu ideologischen oder machtpolitischen Zwecken heute weniger auf Lügen als auf Mystifizierungen und Mythologien beruht.

In diesem Zusammenhang ist es ganz entscheidend, auf welche Weise eine Nation die verschiedenen Abschnitte ihrer Geschichte in ihre eigene nationale Identität einbindet. Dabei kann und soll man nicht ein einheitliches Geschichtsbild aller Deutschen anstreben. Das würde sicher auch nicht gelingen. Wie Geschichte gesehen und wahrgenommen wird, hat immer auch mit den eigenen Erfahrungen zu tun - nicht nur den Erfahrungen von Geschichte, sondern auch den Erfahrungen von Gegenwart.

Aber deshalb ist auch der jetzt in dieser Ausstellung neu gestaltete Abschnitt unserer jüngsten Geschichte so interessant. Es hat ja darüber vor kurzem, wenn schon keinen Historiker-Streit, so doch einen Politiker- und Medien-Streit gegeben.

Bekanntlich weiß ich über diese Zeit, die Bernd Faulenbach die "zweite Demokratie-Gründung" genannt hat, auch aus eigenem Erleben einiges. Und auch wenn es Viele nicht glauben wollen: Andere waren zwar vielleicht lauter und radikaler - aber wir Jungsozialisten waren in dieser Bewegung auch eine Menge. Wir wollen uns übrigens auch gar nicht wegschleichen, meine Damen und Herren. Das würde uns auch nicht gelingen. Wie der eine oder andere weiß: Das holt einen immer wieder ein.

Für die politische Generation, die heute Verantwortung in Deutschland trägt, waren die hier beschriebenen Jahre prägend für ihre politische Sozialisation - wie das so schön heißt. Sie machen das aus, was ich einmal als "Biografien gelebter Demokratie" bezeichnet habe. Ich denke, die politische Debatte um die Würdigung jener Zeit hat uns gezeigt, dass dieser Staat und seine Geschichte nicht einer Partei gehören und auch nie gehören können - ebenso wenig, wie die deutsche Nachkriegsgeschichte nur einem Teil der Bevölkerung gehört, und die anderen, namentlich die Menschen aus Ostdeutschland, aus dieser Geschichte ausgesperrt werden könnten.

Die Bundesrepublik ist und bleibt ein Gemeinwesen kultureller und biografischer Vielfalt und des politischen Pluralismus. Diesem Ziel entspricht auch die geplante größere Eigenständigkeit des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, die umgesetzt werden wird.

Dabei wird natürlich eng mit Ihnen, Herr Professor Schäfer, zusammengearbeitet. Mein Dank geht an die drei Stiftungsgremien: Kuratorium, Wissenschaftlicher Beirat und Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen. Sie haben den Fortgang der Arbeit konstruktiv begleitet und, wo nötig, wirksame Hilfestellung geleistet.

Ich wünsche mir das Haus der Geschichte als Ort der Begegnung - nicht nur von Deutschen aus Ost und West, sondern genauso zwischen Menschen aus unseren Nachbarländern, aus Europa und der Welt.

Dem Haus der Geschichte, vor allem aber seinen Besucherinnen und Besuchern, wünsche ich weiterhin viel Erfolg und intensive Verständigung über unsere Geschichte, Gegenwart und Zukunft.