Redner(in): k.A.
Datum: 20.07.2001

Untertitel: Wo auch immer sich rechtsextremistisches, menschenverachtendes Denken zeigt, muss jeder Einzelne dem entschieden entgegentreten.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/96/49396/multi.htm


Ich dachte an die vielen Morde "Ich dachte an die vielen Morde" so antwortet Ulrich Graf Schwerin, Mitglied des Kreisauer Kreises, vor dem Volksgerichtshof, als er nach den Motiven für den Umsturzversuch am 20. Juli 1944 gefragt wird. Graf Schwerin von Schwanenfeld kann mit seiner eindrucksvollen, ruhigen Stimme gerade noch hinzufügen: "Die Morde im In- und Ausland", bevor Freisler, der berüchtigte Vorsitzende jenes Mordinstruments Volksgerichtshof, ihn brutal unterbricht und niederschreit. Ich dachte an die vielen Morde ".

Wir gedenken heute der Männer und Frauen des 20. Juli, weil sie den Mut hatten, sich aufzulehnen gegen den "Triumph des Bösen" - so die bekannten Worte von Helmuth James Graf von Moltke.

Ihre Empörung gegen das unfassbar schreckliche Unrecht führte die ganz unterschiedlichen Gruppen des Widerstands zusammen, die Empörung über die heute unvorstellbare Verletzung jeder Menschlichkeit, jeden Rechts.

Der 20. Juli 1944 war ein Aufstand des Muts und des Anstandes gegen dieses Unrecht, ein Aufstand zur Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit. Er war ein Aufstand der Menschlichkeit gegen die Unmenschlichkeit.

Statt Menschenliebe praktizierte die Nazidiktatur Rassenhass, statt Frieden Krieg.

Wo vorher Menschen ganz unterschiedlicher Nationalitäten in Europa zusammenlebten, vernichteten die Nazis nun "Todfeinde" und "Untermenschen".

Dabei nutzten sie Gesetze als Fassade, hinter der sie ihren Hass und ihr Unrecht austobten. Terror und Gewalt ummäntelten sie perfide mit dem Schein der Gesetzlichkeit.

Ausgrenzung, Entwürdigung, Erniedrigung und Vernichtung der Juden, Vernichtungskrieg gegen die Länder Osteuropas, Ausrottung von Behinderten und Menschen, die nicht in ihr unmenschliches ideologisches Rassenschema paßten und die sie zuvor für "lebensunwert" erklärt hatten, Verfolgung und Ermordung von Andersdenkenden,"Der Tod ist ein Meister aus Deutschland".

Dagegen kämpften die Männer und Frauen des 20. Juli und alle, die sich gegen das Nazi- Unrecht empörten. Daran erinnern wir heute in Dankbarkeit und im Bewußtsein unserer Verpflichtung.

Die Männer und Frauen des 20 Juli waren geleitet von der Idee, Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Das einte sie.

Carlo Mierendorff - ein Sozialdemokrat im Kreisauer Kreis - hat das in seinem Aktionsprogramm der Sozialistischen Aktion gefordert. Er setzte die Worte: Die "Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit" an die erste Stelle.

Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler, hatten für den gelungenen Umsturz eine Regierungserklärung vorbereitet. Auch Sie beginnt mit Worten zur Bedeutung des Rechts in einer menschenwürdigen Gemeinschaft: "Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts."

Und Helmuth James Graf von Moltke - er war bekanntlich Völkerrechtler - sah für die Zukunft ein gemeinsames internationales Völkergericht vor, das die "Rechtsschänder", die das Menschenrecht auf unerträgliche Weise verletzen, bestrafen sollte: Dieses gemeinsame Gericht aller am Kriege gleich auf welcher Seite beteiligten Völker der Welt könnte allein die nötige sittliche und rechtliche Autorität haben, um das Maß sittlicher und rechtlicher Aburteilung auszusprechen, welches die Rechtsschändungen verdienen ",

diese Vision hat er uns hinterlassen.

Heute, 60 Jahre später, werden wir Moltkes Vision in die Wirklichkeit umsetzen können. Der ständige Internationale Straf-Gerichtshof wird seine Arbeit bald aufnehmen können; er soll - auch das hatte Moltke gefordert - seinen Sitz in Den Haag haben.

Damit verbinden wir heute endlich die Botschaft, die Botschaft der großen Mehrheit der Menschen auf dieser Welt, dass Massenmörder und Verbrecher gegen die Menschlichkeit sich an keinem Ort der Welt mehr sicher fühlen können.

Wir verdanken den Männern und Frauen des 20. Juli noch viel mehr:

Wir sind ihnen verpflichtet, weil heute alle wissen, auch wenn es längst nicht jeder wissen will, dass ihre Ideale von Toleranz, Nächstenliebe und Menschenwürde unverzichtbar sind für jede lebenswerte, zukunftsfähige Gemeinschaft. Alle wissen das. Gerade deshalb ist es unsere Verpflichtung und unsere Aufgabe, jene, die das nicht wissen wollen, unablässig daran zu erinnern, sie zu überzeugen und zu ermahnen, und sie - wenn das alles nicht helfen sollte - mit der Kraft und der Macht des Rechtsstaats entschlossen in die Schranken zu weisen.

Die Verpflichtung des 20. Juli heute heißt nicht Heldenmut; sie heißt Zivilcourage!

Hinsehen ist gefordert, nicht Wegsehen.

Die Anständigen und die Zuständigen müssen das gesellschaftliche Klima schützen und Institutionen fördern und stärken für Demokratie und Toleranz.

Wo auch immer sich rechtsextremistisches, menschenverachtendes Denken zeigt, muss jeder Einzelne dem entschieden entgegentreten. Zu dieser Zivilcourage gehört Verantwortung, wie Dietrich Bonhoeffer sie gefordert hat, Zivilcourage aus der freien Verantwortlichkeit des freien Menschen. Er sagte das zum Jahreswechsel 1942 auf 1943, als er sich auch persönlich in schwerster Bedrängnis befand, und in einer Zeit, in der sich der Widerstand zu regen begann unter schwierigsten Umständen: Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung heißt ".

Wie viel leichter haben wir es heute, seiner Aufforderung zu folgen.

Übersetzt in die Sprache unserer Zeit heisst das vor allem, nicht immer nur in vorgegebenen Schablonen zu denken und die Verantwortung auf Andere, auf "Zuständige" abzugeben. Es heisst, dem eigenen Urteil zu trauen, die eigene Verantwortlichkeit auch anzunehmen.

Nicht nur der Mut und die Visionen, sondern gerade die Ideale der Männer und Frauen des 20. Juli haben die Brücke in unsere Zeit gebaut: Helmuth James Graf von Moltke formulierte als Aufgabe für die Zukunft,"das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger" wiederherzustellen.

Das haben die Väter und Mütter unserer Verfassung im obersten Gebot unseres Grundgesetzes, in Artikel 1, mit den Worten verankert: Die Würde des Menschen ist unantastbar " verpflichtend für jeden einzelnen Bürger und - selbstverständlich gerade auch für den Staat.

Auch viele andere zentrale Grundsätze unserer Verfassung nehmen auf, was jene mutigen Männer und Frauen in ihrem Kampf gegen das Naziunrecht gedacht und geschrieben haben.

Für alle, die sich- wie der Reichsgerichtsrat Dr. Hans von Dohnanyi, als Juristen zu dieser Verpflichtung bekannten und ihren Mut und ihre Haltung mit dem Leben bezahlen mussten, haben wir im Bundesministerium der Justiz ein Ehrenmal errichtet. Zur ehrenden Erinnerung und zugleich als besondere Mahnung.

Umso beschämender war, dass unser Rechtsstaat Bundesrepublik erst spät, viel zu spät, an die Männer und Frauen aus dem Widerstand gedacht hat. Sie mussten die Achtung und den Respekt, der heute selbstverständlich ist, sehr lange entbehren. Auch ihre ausdrückliche juristische Rehabilitierung nach Widerstand und Ermordung hat lange, viel zu lange auf sich warten lassen.

Und so erinnern wir heute mit Scham an jenes erst Jahre später aufgehobene Urteil des BGH, das sogar den Volksgerichtshof, jenes Nazi- Mordinstrument, als "Gericht", und seine willfährigen juristischen Mordhelfer, als "Richter" anerkennen wollte.

Welch eine Verhöhnung gerade für alle, die ihr Eintreten für Recht und Gerechtigkeit mit Verfolgung und Ermordung bezahlt haben. Es hat bekanntlich bis zum Jahr 1998 gedauert, bis alle Unrechts-Urteile der nationalsozialistischen Strafgerichte endlich aufgehoben waren.

Dietrich Bonhoeffers Familie hatte Recht, als sie in einem Leserbrief 1996 betonte: Dietrich Bonhoeffer hat keine Rehabilitierung nötig. Es gibt nichts Ehrenvolleres, als daß er und seine Mitstreiter ( ... ) ihr Leben im Widerstand eingesetzt und geopfert haben. Dietrich Bonhoeffer ist es, der ( ... ) nun 50 Jahre lang Deutschland in der Welt rehabilitiert."

Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass hinzufügen:

Auch wenn es ein großer politischer Erfolg ist, dass das Zusammenwirken von Bundesregierung, Bundestag und Wirtschaft der Zwangsarbeiterstiftung endlich die Möglichkeit gegeben hat, in diesem Jahr mit der Auszahlung der längst überfälligen Entschädigung für die ehemaligen Zwangsarbeiter zu beginnen, so kann uns das doch nicht nur mit Freude erfüllen - auch dieser Versuch der Wiedergutmachung von Unrecht und schrecklichem Leid kommt so unendlich spät. Ich dachte an die vielen Morde " - so hat Graf Schwerin es auf den Punkt gebracht.

Das Mitgefühl mit den Ermordeten und die Erkenntnis des Unrechts der Mörder hat den Männern und Frauen des 20. Juli die Kraft zum Widerstand gegeben. Sie hatten das Ideal einer menschenwürdigen Gesellschaft vor Augen, das auch uns heute Leitbild für unser politisches Handeln in der Zukunft ist.

Wir ehren die Männer und Frauen des Widerstandes des 20 Juli und mit ihnen alle, die gegen Hitler und sein Unrecht aufgestanden sind.

Sie sind unser Vorbild, weil sie - so Dietrich Bonhoeffer - auch in ihrer unendlich schwierigen Lage - das Leben bejahten, das "die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt."

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