Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.08.2001

Untertitel: "Die Deutschen sind auf dem Balkan, weil sie ein eigenes nationales Interesse an der Stabilität in der Region haben; denn Instabilität in der Region bedroht uns vielleicht nicht unmittelbar und gegenwärtig, aber potenziell schon."
Anrede: Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/53938/multi.htm


Ich bin heute nicht an Polemik interessiert. Deswegen, Herr Westerwelle, will ich nicht nachzeichnen, wie sich der Entscheidungsprozess gestaltet hat, von dem Sie gesprochen haben.

Ich bin und war immer an einem Ergebnis interessiert. Das Ergebnis, an dem ich immer interessiert war, ist eine möglichst breite Mehrheit im gesamten Deutschen Bundestag für diesen Einsatz. Das war mein Interesse. Ich denke, dass dieses Interesse verständlich ist. Wie es aussieht, wird dieses Ergebnis auch erreicht werden. Deshalb interessieren mich die unterschiedlichen Beiträge zu diesem Ergebnis nur nachrangig. Sie sind unterschiedlich, aber sie müssen nicht Gegenstand unserer Diskussion sein, weil das Ergebnis, das erzielt werden wird, stimmt. Das liegt im Interesse der Soldaten, die einen schwierigen Einsatz vor sich haben, wofür sie die Unterstützung des gesamten Hauses brauchen und im Übrigen - da bin ich mir ganz sicher - auch wollen.

Sehr viele Menschen in Deutschland, weit über den Kreis derjenigen hinaus, die hier versammelt sind und die sich zu Recht für Fachfrauen und Fachmänner halten können, stellen sich ein paar wesentliche Fragen, zunächst folgende: Was tut ihr eigentlich auf dem Balkan? Was wollt ihr da? Diese Fragen stellen sich zumal ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt und Erinnerungen daran haben, anders als ich und andere meines Alters sowie diejenigen, die jünger sind.

Sie fragen: Was tut ihr da? Auf diese Frage müssen wir ihnen eine Antwort geben. Wir müssen ihnen sagen: Wir sind dort, weil wir als Deutsche daran interessiert sind, dass in dieser Region Europas Stabilität herrscht. Stabilität heißt, dass es eine Chance für Frieden und Wohlfahrt der Menschen in dieser Region gibt.

Es ist mir wichtig, dass das klar wird. Die Deutschen sind auf dem Balkan, weil sie ein eigenes nationales Interesse an der Stabilität in der Region haben; denn Instabilität in der Region bedroht uns vielleicht nicht unmittelbar und gegenwärtig, aber potenziell schon. Deswegen ist es so wichtig, dass wir den Menschen, die sich nicht jeden Tag mit Politik beschäftigen können und wollen, klarmachen, dass es ein nationales Interesse Deutschlands an der Stabilität in dieser Region gibt.

Das bedeutet zugleich, dass Investitionen für den Frieden, aber auch der Einsatz, um den es hier geht, keineswegs nur den In teressen der Mazedonier und der Menschen in der Region, sondern auch uns selbst dienen. Leisteten wir diese Investitionen nicht, würde das früher oder später sowohl politisch, aber - angesichts der Verflochtenheit Europas - mit Sicherheit auch ökonomisch auf Deutschland zurückwirken, und zwar negativ.

Die zweite Frage, die gestellt wird, ist: Warum dauert die Herstellung vernünftiger politischer und ökonomischer Strukturen so lange? Ich glaube, das fragen sich ganz viele Leute. Die Antwort darauf findet man vielleicht dann, wenn man sich - ganz kurz nur - mit jener Stabilität beschäftigt, die vor dem Zerfall Gesamtjugoslawiens dort herrschte. Wenn man sich die Geschichte an schaut, erkennt man, dass es sich dort zu großen Teilen zunächst um eine Scheinstabili tät handelte, die feudalistisch-autoritär garantiert war, und später um eine Scheinstabilität, die - jedenfalls nach unseren Wertmaßstäben - , diktatorisch hergestellt war.

Jetzt geht es auf dem Balkan darum, politisch und ökonomisch eine Stabilität herzustellen, die demokratisch organisiert ist.

Der Blick in die Geschichte, auch Westeuropas, unsere eigene - von Mittel- und Osteuropa will ich in diesem Zusammenhang erst gar nicht reden - , müsste einem klarmachen - und einen ein bisschen bescheiden werden lassen - , dass es auch bei uns verdammt lange gedauert hat, bis wir die demokratisch organisierte Stabilität als einen Normalfall unse res Zusammenlebens hergestellt hatten.

Die Menschen werden sich fragen, was der Unterschied zwischen dem ist, was vorher auf dem Balkan getan werden musste, und dem, was jetzt in Mazedonien möglich und notwendig ist. Der Unterschied ist: Damals ging es - ich will es so ausdrücken - um die Beseitigung der Diktatur von Milosevic, also jener Stabilität, die diktatorisch hergestellt wurde, und den Neuaufbau demokratisch legitimierter Stabilität. In Maze donien - das müssen sich all diejenigen sagen, die Schwierigkeiten mit der Zustimmung haben - müssen wir nicht abwarten, bis wir neu anfangen können. In Mazedonien gibt es noch - so muss man sagen - die Chance, dass die Stabilität, die demokratisch orga nisiert ist und die einzig dort - ich sehe jetzt von Serbien, das einen Neuanfang macht, ab - noch existiert, bewahrt und entwickelt wird. Das ist der positive Unterschied, und zwar sowohl in Bezug auf das, was von uns verlangt wird, als auch bezüglich dessen, was wir leisten können.

Damit bin ich bei dem nächsten Punkt, den ich erklären möchte: Wir dürfen nicht warten, bis wir wieder dort angelangt sind, wo es um einen Neuanfang demokratisch organisierter Stabilität geht. Wir haben jetzt noch eine Chance - auch ich weiß nicht, ob wir sie realisieren können; es hängt ja nicht allein von uns ab - , das vermeiden zu helfen, was wir sonst in absehbarer Zeit tun müssten, wenn das schief gehen sollte, was nach meiner Meinung nicht schief gehen darf.

Das Bewahren und Entwickeln jener demokratisch organisierten Stabilität ist keineswegs vor allem eine militärische Aufgabe, weswegen - das ist wichtig - der militärische Teil nur ein Ausschnitt von dem ist, was wir dort zu tun haben. Er ist - wenn ich das so sagen darf - eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung. Wenn man politische Stabilität will, muss das weitergeführt werden, was hier als politische Lösung von allen angedeutet wird. Ich werde dazu noch ein paar Bemerkungen machen.

Die nächste Frage - mit der sich weniger die Menschen draußen befasst haben, mit der man sich aber zu Recht hier im Parlament beschäftigt hat - betrifft die Reichweite des Mandats. Dabei geht es nicht darum, dass die Bundesregierung sich nicht ein anderes, ein zeitlich anders gestaltetes, ein anders ausgestattetes Mandat hätte vorstellen können; ich sage gleich etwas zu der Frage "robust oder nicht robust". Vielmehr geht es einzig um die Frage: Welches Mandat konnte man überhaupt bekommen? Wenn man voraussetzte, dass dieses Mandat auf der Bitte des demokratisch gewählten Präsidenten einerseits und der Zustimmung der Konfliktparteien andererseits zu basieren hatte, wenn das eine der notwendigen Bedingungen des Mandats war, dann ist das, was erreichbar war, auch erreicht worden.

Im Übrigen war bei den Partnern selber der Wille zu einem anderen Mandat nicht vorhanden, weswegen in ihm lediglich von hinreichenden Fähigkeiten zum Schutz der eigenen Soldaten, aber auch von hinreichenden Fähigkeiten zur Nothilfe die Rede ist. Diese Fähigkeiten sind vorhanden. Darauf kann sich jeder verlassen. Zum anderen müssen im Fall des Scheiterns der politischen Voraus setzungen des Mandats hinreichende Fähigkeiten zu einem Rückzug gegeben sein, wie SACEUR gesagt hat. Beides ist erfüllt.

Deswegen führt es niemanden weiter, wenn wir jetzt darüber diskutieren, ob man ein anderes Mandat gebraucht hätte. Es war kein anderes zu bekommen. Im Übrigen verbinden diejenigen, die das fordern, mit dem Begriff "robust" wohl etwas, was sie in anderen Zusammenhängen häufig abgelehnt haben. Das kann man nicht bestreiten. Man muss schon bei der Linie bleiben, die man sich selber vorgestellt hat, wenn man ernst genommen werden will.

Ich will auch auf das eingehen, was Herr Gysi gesagt hat. Jetzt gestatte ich mir doch eine kleine Polemik. Bei seinen juristischen Erörterungen hatte ich wirklich das Gefühl, er glaube noch immer, dass die Weltgeschichte ein Amtsgericht sei.

Aber, Herr Gysi, das ist wirklich nicht so. Das werden auch Sie noch merken. Was war nämlich mit dem VN-Mandat? Es geht um die Bitte eines demokratisch gewählten Präsidenten und die Zustimmung der Konfliktparteien. Beides war vorhanden. Deswegen brauchte man kein Mandat der Art, wie Sie es haben wollen.

Im Gegenteil, die Partner, diejenigen, die im Sicherheitsrat und in den VN mehr als wir zu sagen haben, haben sehr deutlich gemacht, dass sie es als einen Präzedenzfall ansehen würden, wenn man angesichts der klaren Situation - Bitte des Präsidenten und Zustimmung der Konfliktparteien - auf einem VN-Sicherheitsrats-Mandat bestehen würde. Diesen Unterschied dürfen Sie wirklich nicht juristisch wegzudiskutieren ver suchen. Lassen Sie mich einmal zu Ende reden. - Es geht dabei um eine politische Frage. Deswegen ist die Zustimmung des Sicherheitsrates mit der Aufforderung an die NATO, das, was die Vermittler vereinbart haben, umsetzen zu helfen, nun wirklich alles, was man in dieser historischen Situation sinnvollerweise von der UNO fordern und von ihr erwarten kann. Diese Erwartung wurde auch erfüllt.

Ihnen, Herr Westerwelle, der Sie die Rolle Deutschlands innerhalb der Partner sehr stark herausgestrichen haben, und anderen, die kritisch über das diskutiert haben, was man in diesen wie auch in anderen Fragen noch in alleiniger nationaler Verantwortung nicht nur tun will, sondern auch tun kann - ich habe in der letzten Zeit kräftig mitdiskutieren müssen - , möchte ich Folgendes sagen: Wir müssen in dem Maße, wie wir daran arbeiten, dass es eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt, auch bereit sein, zu akzeptieren, dass man nicht auf der einen Seite mehr Integration und auf der anderen Seite weniger partnerschaftliches Verhalten fordern kann. Das geht nicht, meine Damen und Herren.

Gerade wenn von Deutschland im Bereich der Europapolitik verlangt wird - das unterstreichen wir - , Motor europäischer Integration nicht nur auf ökonomischem, sozialem und ökologischem, sondern auch auf außen- und verteidigungspolitischem Gebiet zu sein, dann hat das Konsequenzen für das, was man in eigener nationaler Verantwortung noch tun und wollen darf. Das heißt nicht, dass wir uns "verstecken". Das ist die logische Konsequenz der weiteren Integration Europas und nichts anderes.

Man kann, um das mit einem englischen Sprichwort zu sagen, den Kuchen nicht haben wollen und ihn zugleich essen. So kam mir die Bemerkung vor. Das wird nicht funktionieren.

Ich will abschließend sagen: Die Aufforderungen all derjenigen, die an die Adresse der Bundesregierung gerichtet gesagt haben, sie müsse mehr für den politischen Prozess der Stabilisierung der Region tun, sind ungerechtfertigt. Es war vor allem der Bundesaußenminister, der während der Auseinandersetzung mit Serbien und während der Auseinandersetzung mit Milosevic als Erster und lange Zeit als Einziger die Idee des Stabilitäts-paktes den Partnern nahe gebracht und schließlich auch durchgesetzt hat. Dieser Stabilitätspakt ist zu Recht mit dem Namen des Bundesaußenministers verbunden.

Seine Weiterführung, für die ich plädiere, wird nicht das Ergebnis nur einer nationalen, einer deutschen Anstrengung sein. Ich muss darauf hinweisen: Dieser Stabilitätspakt ist noch nicht einmal von Europa alleine veranstaltet worden und wird es auch in Zukunft nicht. Beim Stabilitätspakt sind auch andere Länder, von Amerika bis Japan, beteiligt. Die Bundesregierung wird sich aber auch künftig massiv dafür einsetzen, diesen politischen Prozess weiterzuführen.

Ich komme zu Ihrer Forderung nach einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit. Die Bundesregierung hat mit einer solchen Konferenz weniger ein Problem. Ich bitte Sie aber zu verstehen, dass es den einen oder anderen Partner gibt, der die europäische Geschichte nicht völlig aus dem Gedächtnis verloren hat; das muss ich nicht näher ausführen. Diese Partnerländer sind deswegen bei dieser Frage zurückhaltender als wir; denn sie fürchten vielleicht, dass wir unsere enorme wirtschaftliche Stärke und den Bedeutungszuwachs, den wir durch die Einheit in der Außen- und Sicherheitspolitik ohne Zweifel bekommen haben, nicht eingebunden in die europäische Partnerschaft nutzen könnten. Es liegt zwar jedem in diesem Hohen Hause fern: Aber es gibt Befürchtungen, dass die historischen und gegenwärtigen Empfindsamkeiten unserer Partner nicht richtig bedacht werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben und die wir auch sehen.

Was bleibt mir? - Mir bleibt, Sie zu bitten - gleichgültig welcher Fraktion dieses Hohen Hauses Sie angehören - zuzustimmen. Ich glaube, dass man dies wirklich guten Gewissens tun kann, auch wenn der eine oder andere meint, militärischen Missionen gegenüber prinzipiell gegnerisch eingestellt zu sein. Hier kann man aus einem Grund zustimmen: Es geht wirklich darum, Mazedonien, einem Land, das zurzeit noch über demokratische Strukturen verfügt, dabei zu helfen, diese zu erhalten und entwickeln zu können. Dieser Aufgabe sollte sich niemand entziehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Quelle: Plenarprotokoll 14/184