Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 20.09.2001
Untertitel: Nida-Rümelin zum 11. September: Kein Kampf der Kulturen. Außerdem sprach er zu Baukultur und Stadtentwicklung.
Anrede: Sehr verehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/98/59798/multi.htm
Dinner Speech zum Empfang der Sächsischen Staatsregierung anlässlich des11. Deutschen Architektentages, korrigierte Fassung einer frei gehaltenen Rede; dies bei Veröffentlichung bitte angeben]
unmittelbar nach dem 11. September sind aus verständlichen Gründen viele Veranstaltungen abgesagt worden, auch wir haben Veranstaltungen abgesagt. Ich glaube, es ist gut, dass unterdessen Begegnungen wie die heutige wieder selbstverständlich stattfinden, weil wir nicht zulassen dürfen, dass das Netz einer komplexen Gesellschaft, ein Netz, das Kultur, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft miteinander verbindet, in dieser Situation zerreißt. Dennoch bitte ich Sie um Verständnis dafür, dass ich nicht gleich zum Thema komme, sondern auch hier eine Bemerkung mache, wie ich es seit dem 11. September tue, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Ich möchte dazu auffordern, dass wir - bei aller Besorgnis, bei aller Notwendigkeit, über die Sicherheit auch dieses Landes nachzudenken, bei aller Solidarität mit dem amerikanischen Volk, bei aller Bereitschaft zusammenzustehen, auch wenn es darum geht, in naher Zukunft zu handeln - die kulturelle Dimension des 11. Septembers nicht aus dem Blick verlieren. Ich möchte es etwas vereinfachen: Wenn die Folge des 11. Septembers sein sollte, dass das eintritt, was von manchen Intellektuellen seit Jahren prophezeit wird, das, was in dem berühmten Buch von Huntington als "Clash of Civilisations" bezeichnet wird, dann wäre zu erwarten, dass die Folgen des 11. Septembers das Grauen, die Belastungen und die Unmenschlichkeit dieser Ereignisse noch wesentlich übertreffen werden. Dazu darf es nicht kommen. Ich glaube, dies ist eine Herausforderung nicht nur der internationalen Politik, sondern es ist eine Herausforderung, die sich in gewissem Sinne an jeden und jede von uns richtet, die auch etwas mit der inneren Verfasstheit jedes Landes zu tun hat.
Wir haben keine Auseinandersetzung zwischen dem American Way of Life - wie manche unglückliche Formulierungen in den vergangen Tagen nahe gelegt haben - und dem Rest dieser Welt. Wir haben auch keine Auseinandersetzung zwischen dem Westen und der westlichen Zivilisation einerseits und dem Osten und einer "östlichen Zivilisation" andererseits. Wir haben sicher keine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Wir haben eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die die Menschenrechte beachten, die das Recht jedes einzelnen Menschen zu leben und unversehrt zu leben, achten, und denjenigen, die Menschenleben, Menschenleben Unbeteiligter, auslöschen, um politischer Ziele willen. Das ist der Konflikt.
Und insofern handelt es sich hier nicht um einen internationalen Krieg, sondern es handelt sich um ein internationales Problem des Terrors. Ein Problem, das bei aller Schrecklichkeit des Mordens am 11. September - wenn Sie die Weltgesellschaft als eine Gesamtheit betrachten - ein internes Problem ist, man könnte auch sagen ein Problem der inneren Verfasstheit der Weltgesellschaft und der Rolle des staatlichen Gewaltmonopols im globalen Rahmen. Dieser Konflikt darf nicht in den Bildern eines heraufziehenden Dritten Weltkrieges gezeichnet werden. Es handelt sich auch um einen kulturellen Konflikt. Uns steht ein langer und mühsamer Weg zu einer befriedeten Welt bevor. Diese kann nur begründet sein auf einem globalen normativen Grundkonsens, zu dem der unbedingte Respekt vor dem individuellen menschlichen Leben gehört. Die Kulturen sind unterschiedlich und sollen unterschiedlich bleiben, aber es muss dieses Gemeinsame geben, sonst wird sich die Welt nicht befrieden lassen. Ich möchte es dabei bewenden lassen, denn wir haben ein anderes Thema.
Meine Damen und Herren, ich soll eine, wie es genannt wird,"Dinner Speech" halten. Wenn ich es richtig sehe, ist eine Dinner Speech etwas, das angenehm für den Redner ist - er kann sich nämlich kurz fassen - und unangenehm für die Zuhörer - die haben nämlich Hunger. Zusätzlich ist vielleicht für Sie unangenehm, dass hier kein Architekt, kein Architekturkritiker, kein primär mit Fragen des Bauens Befasster eingeladen wurde, sondern ein Vortragender, der von Beruf Philosoph ist und seit einigen Jahren Kulturpolitik macht. Wenn Sie also am Ende der Meinung sein sollten, dass meine Anmerkungen die Sache nicht voll treffen, bin ich Ihnen nicht böse.
Ich denke, dass wir in Deutschland - auch in anderen Ländern, aber eben besonders auch hier in Deutschland - ein Defizit haben, das den öffentlichen Diskurs über die Kultur des Bauens und über die Entwicklung unser Städte angeht. Ich rede nicht vom Fachdiskurs, sondern vom öffentlichen Diskurs. Es hängt zum Teil mit dem merkwürdigen Sachverhalt zusammen, dass - soviel ich weiß - in den Curricula der Schulen Fragen des Bauens und der Baukultur keine Rolle spielen. Sie sind vielleicht zugelassen, aber schon mangels der Qualifikationen in der Ausbildung werden sie nicht berücksichtigt, sie kommen praktisch im Unterricht nicht vor.
Aber das Problem liegt, glaube ich, noch tiefer. Es gibt das paradoxe Phänomen, dass in einer Phase, in der es wichtiger geworden ist, dass Menschen eine ästhetische Bildung in umfassendsten Sinne genießen, der Unterricht von Kunst und Musik an den Schulen, ästhetische Erziehung also, reduziert wird. Es geht mir dabei um Ästhetik sowohl im Sinne des ursprünglichen Begriffes von Aisthesis - nämlich Wahrnehmung, Wahrnehmungsfähigkeit, Sinnlichkeit - als auch im Sinne des späteren, vor allem im Neu-Humanismus geprägten Begriffs von Ästhetik als Theorie der guten Form. In beiderlei Hinsicht scheint mir Ästhetik ganz wesentlich zu sein für eine Orientierung in einer unübersichtlicher gewordenen Welt, übrigens auch für die Fähigkeit, sich auf neue Situationen einzustellen. Und dennoch wird der ästhetische Unterricht an den Schulen abgebaut.
Es ist schwer zu verstehen, was da eigentlich genau vor sich geht. Wir haben eine Situation, in der Menschen mehr als in der Vergangenheit sich der ästhetischen Dimension des Lebens, jedenfalls ihres je individuellen Lebens, bewusst zu werden scheinen, und sei es in der oberflächlichen Gestalt von äußeren Zugehörigkeitssymbolen. Ich glaube, es gibt ein zunehmendes Bewusstsein dafür, dass das eigene Leben auch von seiner ästhetischen Qualität mitbestimmt wird. Und trotzdem haben wir einen rudimentären öffentlichen Diskurs, wir haben eine rudimentäre Begleitung von großen Stadtentwicklungsprojekten durch eine aufgeklärte, interessierte, informierte, aber selbstverständlich auch kritische Öffentlichkeit. Was wir haben, sind regelmäßige Konflikte von Interessenlagen, die oft mit ziemlicher Vehemenz ausgetragen werden und dann auch zu einer entsprechenden öffentlichen Aufmerksamkeit führen. Jeder, der einmal in der Kommunalpolitik tätig war, kennt dieses Phänomen, Architekten und Stadtplaner kennen es nur zu gut.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Ebene tiefer ansetzen. Vielleicht ist es nicht völlig falsch zu sagen, dass in der Praxis des Bauens - sowohl einzelner Gebäude als auch des Bauens der Städte - sich das Selbstverständnis, und zwar das individuelle Selbstverständnis der jeweiligen Personen, aber auch so etwas wie das kollektive Selbstverständnis nolens volens niederschlägt. Hier kommt das Menschenbild ins Spiel, das Bild, das man sich von der eigenen Person macht, aber auch das Bild vom Menschsein als solchem. Ich will das etwas konkretisieren: In den Grundrissen zum Beispiel, wie sie von Bauherren, die ihren Traum, das eigene Heim zu bauen, endlich realisieren können, bevorzugt werden, kommen Intuitionen zum Ausdruck. Intuitionen, die Bedürfnisse betreffen, nach Distanz, nach Nähe, nach Familienstruktur, Fragen der Hierarchie, der Disziplinierung und Ähnliches. Intuitionen, die oft gar nicht bewusst sind, die sich aber äußern in bestimmten Vorstellungen davon, wie man lebt, wie man die bauliche Umgebung gestaltet, wie man den durch Bauen beeinflussten Teil der Umwelt gestaltet.
Gegenwärtig verschiebt sich das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem. Dafür gibt es zahlreiche Ursachen, ein Grund ist natürlich die zunehmende Rolle, die das Internet spielt. Manche scheinen daraus den Schluss zu ziehen, dass das, was ein Qualitätsmerkmal der europäischen Stadt war und ist, nämlich das Vorhandensein von Räumen der Begegnung im öffentlichen Außenraum, unwichtiger werden wird, zurücktreten wird. Dieser Sicht zu Grunde liegt die Auffassung, dass die Verkehrsfunktion und die Kommerzfunktion im Mittelpunkt der Stadt der Zukunft stehen werden, während die Stadt als Raum der öffentlichen Begegnung, als Raum der gemeinsamen Öffentlichkeit, eine Reminiszenz ist, ein europäisches Stadtbild, das für die Zukunft nicht mehr prägend sein wird. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Ich glaube dies ist falsch. Ich bin mir ziemlich sicher, und vieles deutet darauf hin, dass diese Einschätzung auch einem entsprechenden Bedürfnis unter den Bürgerinnen und Bürgern korrespondiert. Gerade durch die teilweise Verlagerung des Öffentlichen in die eigenen vier Wände gibt es einen erhöhten Bedarf nach realer Begegnung, nach Begegnung, die nicht primär unter dem Diktat kommerzieller Interessen und nicht primär unter dem Diktat des Verkehrs steht.
Wenn diese Einschätzung richtig ist, dann gibt es eine Herausforderung für die Stadt. Wenn die Stadt nicht diesen Bedürfnissen Adäquates anbietet, dann werden auch diese Bedürfnisse wieder verkümmern. Ich glaube, damit würde mehr verkümmern als nur ein individuelles Bedürfnis, nämlich eine besondere Qualität der europäischen Kulturentwicklung. Und damit wollte ich eigentlich schließen, mit dem Appell nämlich, dass wir gemeinsam urbane Qualität sehr ernst nehmen im Sinne von gemeinsamer Öffentlichkeit, auch im Sinne gemeinsamer Verantwortung und eines gemeinsamen Diskurses über die Fragen der Gestaltung unserer baulichen Umwelt, und dass wir uns diesem gemeinsamen Projekt verpflichtet fühlen.