Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 26.09.2001

Untertitel: Ich bin gebeten worden einige Bemerkungen zum Thema "Kulturpolitik im Zeichen der Gewalt" zu machen.
Anrede: Sehr verehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/30/59730/multi.htm


leicht überarbeitete Abschrift einer freigehaltenen Rede]

ich bin gebeten worden, einleitend zu der Podiumsdiskussion, die wir im Anschluss führen werden, einige Bemerkungen zum Thema "Kulturpolitik im Zeichen der Gewalt" zu machen. Eigentlich wären "20 Jahre Deutscher Kulturrat" natürlich Anlass, über den Deutschen Kulturrat zu sprechen. Die, die hier versammelt sind, wissen, glaube ich, sehr gut um die Leistungen des Kulturrates, gerade auch die Leistungen in den letzten Jahren. Ich denke, es ist vernünftig, dass wir uns auf das aktuelle Thema konzentrieren. Aber meinen Respekt und meine Anerkennung für Ihre Arbeit möchte ich doch aussprechen.

Meine Damen und Herren, ich will Eines vorausschicken und dann drei Gedanken formulieren oder zu formulieren versuchen. Ich möchte vorausschicken, dass ich den Eindruck habe, dass die Politik, und ich meine hier insbesondere die Politik der US-amerikanischen Regierung, in hohem Maße besonnen agiert hat in den Tagen seit dem 11. September. Die Politik hat nicht, weder in den USA noch anderswo, auf innenpolitische Wirkungen abgestellt, jedenfalls nicht primär. Und ich denke, dass wir als Intellektuelle, als Künstlerinnen und Künstler, als diejenigen, die die symbolische Auseinandersetzung in dieser Gesellschaft mitgestalten, auch aufgefordert sind, besonnen zu sein. Ob uns dies immer gelingt, sei dahingestellt. Es ist klar, dass große Emotionen im Spiel sind, und ebenso, dass Gedanken, die angesichts der neuen Situation auch in eine neue Richtung gehen müssen, nicht immer diplomatisch geschickt formuliert werden können.

Ich möchte drei Gedanken äußern. Die erste Frage ist: Um was für eine Art von Erschütterung handelt es sich eigentlich? Am 11. September sind nicht Tausende Menschen gestorben. Und es kommt auch gar nicht so sehr darauf an, wie hoch diese Zahl am Ende genau sein wird. Wir haben Erdbebenkatastrophen in den letzten Jahren gehabt mit einer größeren Zahl von Toten. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es Kriege gegeben, viele Kriege mit sehr viel mehr Toten. Dennoch glaube ich, dass mit dem 11. September eine ganz spezifische Form von Erschütterung verbunden ist, unabhängig vom Leid, das jedes Auslöschen eines menschlichen Lebens mit sich bringt.

Es handelt sich um eine spezifische Erschütterung, weil das Vertrauen der Menschen darin, dass in Staaten Vorkehrungen getroffen sind, die im Großen und Ganzen vor dem Allerschlimmsten bewahren, angegriffen ist. Über alles aktuelle Leid hinaus erschüttert es, dass Tausende Menschen, die nichts ahnend, nicht in Konflikte verwickelt, nicht auf Grund eines Unglücksfalls - menschliches Versagen, ein Pilotenfehler, was auch immer - , sondern auf Grund gezielter Zerstörung zu Opfern werden, ohne dass jemand etwas dagegen unternehmen könnte. Und die Erschütterung besteht auch darin - ich sage das ganz deutlich, ohne dass irgendein Anlass besteht, Angst zu schüren - , dass völlig unklar ist, wie sich Staaten, Gesellschaften - welches Entwicklungsstandes auch immer - gegen diese Art von Zynismus, von Menschenverachtung zuverlässig schützen sollen. Dies ist nicht klar, da brauchen wir uns nichts vormachen, weil die Gesellschaften auf solche Formen von Gewalt nicht vorbereitet sind, und vielleicht auch gar nicht vorbereitet sein können. Es wird, denke ich, eine große Anstrengung kosten, und es wird viele Jahre brauchen - unter der Voraussetzung, das die Entwicklung günstig verläuft - bis ein gewisses Vertrauen wieder hergestellt ist. Es geht um das Vertrauen darin, dass wir nicht unvorhergesehen, von einem Moment auf den nächsten, von Menschen bedroht sind, die die Tötung von anderen, von Unschuldigen, zum Mittel der Politik machen. Was dies für die Politik insgesamt heisst, ist eine schwierige Frage, die wir sicher auch auf dem Podium nicht erschöpfend diskutieren können.

Das zweite Stichwort, auf das ich eingehen möchte, ist das des Kulturkampfes. Vor einigen Tagen noch hatte man den Eindruck, als ob die politische Agenda sich verschiebt zum Thema innere und äußere Sicherheit, und dass andere Themen damit von der politischen Agenda verdrängt werden. Meine anfängliche Sorge nach dem 11. September war, dass die kulturelle Dimension dieses Tages aus dem Blick gerät. Damit wären wir Interpretationen ausgeliefert, die den 11. September als den Beginn einer neuen Ära verstehen, in dem Sinne, dass die viel diskutierte, viel kritisierte Prophezeiung insbesondere US-amerikanischer Intellektueller - Huntington ist nur einer von ihnen - wahr geworden sei, und nun die nächste Epoche bestimmen würde. Es wäre eine Epoche, die nicht von Konflikten zwischen Staaten, auch nicht von inneren Konflikte in Form von Bürgerkriegen, sondern von Konflikten zwischen großen Kulturregionen geprägt sein würde. Der 11. September hätte diese zunächst etwas vage Interpretation einer zukünftigen Entwicklung - einschließlich der angedeuteten Gegenstrategien - endgültig zum Durchbruch gebracht.

Ich bin froh, dass sich in den vergangenen Tagen die Diskussionslage grundlegend verändert hat, dass sich nicht nur die eine oder die andere dünne Stimme gegen die skizzierte Interpretation erhebt, sondern dass sich unterdessen alle verantwortlichen politischen Positionen gegen diese Interpretation wenden. Aber es lohnt sich, glaube ich, über diesen Punkt noch einmal sehr genau nachzudenken. Und zwar nicht nur, weil es wichtig ist, hier intellektuell redlich zu sein - das ist es auch - , sondern weil die Interpretation von Ereignissen wie die des 11. Septembers politisch-historische Prozesse ganz wesentlich mitbestimmt. Das heißt, es geht in letzter Instanz nicht nur um die genaue Analyse der Vorgänge, sondern es geht letztlich darum, diese Analyse so vorzunehmen, dass die durch Ideen, Theorien, Ideologien und Weltanschauungen geprägten Handlungsfelder der Politik nicht in einer Weise geordnet werden, die unvereinbar wäre mit einer zivilen globalen Entwicklung.

Deswegen möchte ich kurz bei diesem Punkt stehen bleiben. Wir haben ja insofern eine Auseinandersetzung zwischen Kulturen, als in dem Prozess einer Globalisierung, der wesentlich geprägt ist durch finanzielle und wirtschaftliche Interessen, ganz offensichtlich in vielen Weltregionen ein Bedürfnis entstanden ist, sich auf das Eigene, auf das Regionale, auf das religiös Geprägte, auf die eigene Identität zu besinnen. Und in vielen Weltregionen heißt das, sich abzugrenzen gegen andere kollektive Identitäten und andere Lebensformen, spezifisch gegen die mit dem Prozess der Globalisierung - jedenfalls äußerlich - verknüpfte Lebensform, die weite Teile, wenn auch nicht alle, der westlichen Welt prägt.

In der politischen Philosophie gibt es einen prominenten Ansatz, mit Differenz umzugehen, sei es eine Differenz der Interessen, eine Differenz der Kultur, eine der Lebensform oder eine Differenz der Werte. Diese Unterscheidungen sind nur Markierungspunkte in einem Spektrum mit fließenden Übergängen. Die Antwort, die Thomas Hobbes im Kern auf das Problem der Differenz gegeben hat, und die bis heute eine wichtige Prägekraft entfaltet, ist die, dass der Staat dafür zu sorgen hat, dass die Differenzen nicht eskalieren, nicht zu Gewalt eskalieren. Dies tut der Staat, indem er droht. Er droht denjenigen, die bestimmte Regeln brechen, mit Sanktionen. Bei Hobbes sind diese Sanktionsmöglichkeiten unbegrenzt, der Souverän ist nicht an moralische Grenzen gebunden. Es liegt auf der Hand, dass Akteure, die sich bestimmten Ideologien verschrieben haben, und die ihr eigenes Leben dafür zu opfern bereit sind, durch diese Form der Hobbesschen Befriedung nicht zu bezwingen sind. Hinzu kommt, dass wir im internationalen Rahmen offensichtlich nur relativ schwache Institutionen haben, die diese Form der Gewalt kontrollieren können, trotz zum Teil sehr differenzierter, mit großem Aufwand aufgebauter Sicherheitssysteme.

Es gibt einen Gegenpol in der politischen Philosophie, man könnte sagen, die linkere Variante, die darauf setzt, dass Menschen einsehen, dass sie gemeinsame Interessen haben, dass es so etwas gibt wie einen gemeinsamen Willen, einen Gemeinwillen. Sie setzt darauf, dass Menschen als Privatpersonen ihre Differenzen austragen, aber nicht als Bürgerinnen und Bürger eines politischen Gemeinwesens, dass sie als Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwillen geeint sind, dass sie sich an den Werten und Interessen der Gemeinschaft, der sie angehören, orientieren. Die Idee ist, dass die Differenzen der Privatpersonen im Bürgerstatus eingeebnet werden. Der Staat tritt dann unter Umständen mit Sanktionen hinzu, aber er unterstützt nur einen tieferen normativen Konsens. Ansätze dieser Art haben das problematische Merkmal, dass sie kulturell einebnen, oder jedenfalls eine gewisse kulturelle Angleichung erwarten. Viele Lobpreisungen des Nationalstaates konventioneller Prägung sind zum Beispiel genau darauf ausgerichtet. Er ebnet ein, ebnet die Differenzen ein, die Differenzen der Regionalkulturen, der Weltanschauungen, der Wertorientierungen. Deswegen bietet dieser antipodischer Ansatz offensichtlich für unsere aktuelle Situation ebenfalls keine überzeugende Antwort.

Damit bin ich bei meinem dritten Punkt. Wir führen seit einigen Jahren eine merkwürdig verkürzte Debatte um Zivilgesellschaft. Da wird in der Regel betont, dass die Rolle von NGOs im internationalen Handlungsfeld aufgewertet werden müsste. Und es gehe darum, die Akteure im Inneren, die nicht an den Staat gebunden sind, zu stärken: Vereinigungen, Stiftungen, und was dergleichen mehr ist. Dies ist alles sehr wichtig. Ich habe mich auch kürzlich recht dezidiert dazu geäußert, wie bedeutend dieses Feld des gesellschaftlichen Lebens für die kulturelle Verfasstheit einer Gesellschaft ist. Aber Zivilgesellschaft ist viel mehr. Zivilgesellschaft ist - -ich schlage jedenfalls vor, sie so zu verstehen - eine Gesellschaft, die auf der Basis gemeinsamer normativer Grundüberzeugungen ihre Konflikte, ihre Differenzen in einer zivilen Weise - und das heißt insbesondere: in einer ohne Gewalt auskommenden Weise - austrägt. Der Staat allein kann dies nicht erzwingen, die Sanktionen sind viel zu schwach. Das andere große Modell der Befriedung von Differenzen, nämlich das des globalen und uneingeschränkten Marktes, kann diese Zivilisierung ebenfalls nicht erreichen, weil auf dem Markt die kulturellen Identitäten nicht gehandelt werden und die Lebensformen nicht ver- und gekauft werden können.

Zivilgesellschaft heißt, dass wir Differenzen anerkennen, dass wir Respekt vor der Differenz haben, heißt aber zugleich, dass wir uns auf minimale Normen verständigen. Dass diese Normen dann auch staatlich sanktioniert sein sollten, liegt auf der Hand. Aber vorausgehen muss die Verständigung über die Normen selbst. Und ich glaube, darum - und damit bin ich auch schon am Schluss - muss es in den kommenden Monaten und Jahren gehen: um das Ringen um einen globalen normativen Minimalkonsens. Im Zentrum stehen dabei natürlich die Menschenrechte. Es geht um die Substanz einer zivilen Weltordnung, die nur möglich ist, wenn es diesen Minimalkonsens gibt. Und wer jetzt sagt, das sei eine eurozentrische Sicht, der irrt. Es gibt sehr sorgfältige Analysen, die zeigen, dass die normative Substanz, von der ich rede, in der islamischen Kulturtradition ebenso tief verankert ist, wie in der christlichen. Man sollte keine Zerrbilder der islamischen Kultur zulassen, Bilder, die diejenigen verbreiten, die Religion, religiöse Bindung für ihren Fanatismus, ihren politisch motivierten Terror ausnutzen. Und ich würde gerne jetzt auf dem Podium und mit ihnen darüber diskutieren, ob sich daraus nicht auch die eine oder andere kulturpolitische Schwerpunktsetzung ergibt, auch im Inneren. Es gibt ein Entsprechungsverhältnis der internationalen und der nationalen Situation, weil in diesem Land eine Vielfalt von kulturellen Prägungen aufeinander trifft. Ich bin sicher, die Kulturpolitik kann nur hinzutreten. Die großen Rahmenbedingungen der Entwicklung wird sie nicht setzten können, aber wir müssen um dieses geistige Fundament einer globalen zivilen Ordnung kämpfen. Der Terror des 11. Septembers hat deutlich gemacht, dass es um mehr geht als nur um die Befriedung lokaler Konflikte.