Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 27.09.2001

Untertitel: "Wahrscheinlich haben die Menschen Afghanistans in ihrer verzweifelten Lage unsere Hilfe noch nie so dringend gebraucht wie jetzt."
Anrede: Sehr geehrter Herr Oshima, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/78/57978/multi.htm


wahrscheinlich haben die Menschen Afghanistans in ihrer verzweifelten Lage unsere Hilfe noch nie so dringend gebraucht wie jetzt. Deshalb danke ich Ihnen allen, dass Sie so kurzfristig zu dieser Sondersitzung der Afghanistan Support Group nach Berlin gekommen sind.

Die zerstörende Kraft des entsetzlichen Terrorangriffs vom 11. September hält an, ihre Wirkung trifft mittlerweile auch Millionen unschuldiger Menschen in Afghanistan. Die Spur des Terrors weist mehr und mehr zu Osama Bin Laden, sie weist nach Afghanistan. Eines wird in diesen Tagen immer deutlicher: Die Machthaber dort schrecken nicht davor zurück, das seit mehr als zwanzig Jahren geschundene Volk von Afghanistan zur Geisel zu nehmen und mit sich in den Abgrund zu reißen.

Dabei denken wir auch daran, dass in Kabul immer noch acht ausländische Helfer - darunter vier Deutsche - gefangen gehalten werden, um deren Unversehrtheit und schnelle Freilassung wir nach wie vor intensiv bemüht sind.

Als Antwort auf die menschenverachtende Politik des Regimes sollten vom heutigen Treffen der zwei klare Signale ausgehen: 1 ) Wir werden die Menschen Afghanistans in ihrem Hunger und ihrer Not nicht allein lassen, sondern alle Möglichkeiten der humanitären Hilfe ausschöpfen, um ihr Leid zu lindern. 2 ) Wir sind bereit, zum Wiederaufbau des Landes nach mehr als zwei Jahrzehnten Krieg und Zerstörung beizutragen, zu einem neuen Afghanistan, in dem der Terror keinen Platz und keine Chance mehr hat.

Mir ist bewusst, welche Schwierigkeiten der humanitären Hilfe in Afghanistan selbst heute entgegenstehen, sie teilweise sogar unmöglich machen. Die Taleban haben alle ausländischen Helfer gezwungen, ihren Machtbereich zu verlassen. Sie haben Nahrungsmittelvorräte des World Food Program beschlagnahmt, die für die Versorgung der Menschen dringend benötigt werden.

Gleichzeitig ist die Notwendigkeit eines massiven humanitären Engagements der internationalen Gemeinschaft unabweisbar: Die verheerenden Folgen einer jahrelangen Dürre verschärfen sich immer noch. Ein gewaltiges Flüchtlingsdrama spielt sich ab. Dem Land stehen neue Kämpfe bevor.

Trotz der Grenzen unserer Hilfsmöglichkeiten in Afghanistan selbst können wir zwei Dinge tun: zum einen die Unterstützung für die Flüchtlinge in den Nachbarländern nochmals zu verstärken, zum anderen deutlich machen, welche humanitäre Hilfe wir auf dem Gebiet der Nordallianz auch jetzt durchführen - und im übrigen Land sofort wieder aufnehmen können, wenn eine Stabilisierung der Situation es erlaubt.

Deutschland leistet dazu seinen Beitrag: es hat seine humanitäre Hilfe bereits in den vergangenen Tagen massiv aufgestockt. Aus dem vom Bundeskabinett beschlossenen Sicherheitspaket wird das Auswärtige Amt noch einmal bis zu 30 Millionen DM für die Hilfe in der Region zur Verfügung stellen.

Gerade jetzt können und müssen wir zeigen, dass unsere Vorstellungen von Menschlichkeit und Mitgefühl keine religiösen oder regionalen Grenzen kennen. Humanitäre Hilfe enthält keine politischen Konditionen. Sie zielt ausschließlich auf die Linderung von Not und verfolgt keine politische Agenda.

Dieser humanitäre Imperativ ist das eigentliche Mandat der Afghanistan Support Group. Wir sollten aber den Blick auch weiter in die Zukunft richten. Das heutige Treffen hat zugleich eine erhebliche politische Dimension: von ihm muss ein Signal der Hoffnung ausgehen.

Die Menschen in Afghanistan sollen wissen: die internationale Gemeinschaft ist im Rahmen eines politischen Stabilisierungsprozesses bereit, dem Land nach jahrzehntelangem Krieg und Zerstörung Hilfe zu leisten beim Wiederaufbau und bei einer nachhaltigen Entwicklung; Hilfe zu leisten, um den Menschen in Afghanistan eine Perspektive für eine bessere, friedlichere Zukunft zu eröffnen.

Der eigentliche Weg zu einer politischer Lösung wird in anderen Foren erörtert werden müssen. Den Vereinten Nationen kommt eine Schlüsselrolle dabei zu, die Chancen einer breiten Basis der wesentlichen politischen Kräfte Afghanistans für einen solchen politischen Stabilisierungsprozess auszuloten.

Deutschland hat die Vereinten Nationen - insbesondere den Sondergesandten des Generalsekretärs, Vendrell - in diesem Bemühen immer unterstützt und wird dies auch künftig mit all seinen Möglichkeiten tun. Wir wollen und werden den Terror besiegen, wir wollen aber auch ein friedliches und freiheitliches Afghanistan als Teil einer dauerhaften Stabilisierung der Region.

Rasche, wirksame humanitäre Hilfe, die das millionenfache menschliche Leid lindert und eine darüberhinausgehende Wiederaufbauperspektive sind wichtige Bausteine auf diesem Weg. Ich hoffe, dass wir bei der Bewältigung dieser immens schwierigen, aber ebenso wichtigen Aufgabe heute einen Schritt vorankommen.

Ich danke Ihnen.