Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 12.10.2001

Untertitel: Staatsminister Rolf Schwanitz am 12. Oktober 2001 im Begegnungszentrum St. Marienthal in Ostritz zum Solidarpakt II und zur Situation in den neuen Bundesländern.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/65/62765/multi.htm


Referat von Staatsminister Rolf Schwanitz anlässlich der Akademietagung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt im Begnungszentrum St. Marienthal in Ostritz

Die Situation in den neuen Bundesländern ist in den vergangenen Wochen und Monaten heftig diskutiert worden. Diese Debatte ist nicht beendet, sondern setzt sich fort. Die Bundesregierung und Länder haben sich im Sommer diesen Jahres über den Solidarpakt II geeinigt. Bis zum Jahr 2020 werden noch einmal 306 Milliarden DM in die neuen Länder fließen. Damit soll - wie es so unspektakulär im Gesetzestext heißt - "der teilungsbedingte Nachholbedarf" ausgeglichen werden.

Allerdings ist der Solidarpakt II nicht nur ein neuer Aufbauvertrag für die zweite Hälfte des Weges. Er ist auch der erste Solidar-Vertrag für die neuen Bundesländer, der in seiner zeitlichen Dimension Realismus und Wahrhaftigkeit verpflichtet ist. Er beschreibt den Abbau des teilungsbedingten Nachholbedarfs bis zum Jahr 2020, also als ein Gemeinschaftswerk von 30 Jahren, als eine Generationenaufgabe.

Gerade aber der Abschluss des Solidarpaktes II, auf dem Papier ein Werk über reine Summen und Zeiträume, sollte uns auch Anlaß sein, über das Mentale der deutschen Einheit nachzudenken. Der Aufbau Ost, das Beschreiten der zweiten Hälfte des Weges, ist eben nicht nur eine Frage um Geld und Projekte, um Mark und Pfennig oder Euro und Penny. Es geht vielmehr auch, und wahrscheinlich mehr als früher gedacht, um Anschauungen und Gefühle bei uns selbst. Politikwissenschaftler und Soziologen weisen seit langem darauf hin, dass es gravierende Werteunterschiede zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen gibt. Nicht nur der Gestalt, dass bei Ostdeutschen stärker Gleichheit und Identität im Zentrum der Werteskala stehten und bei Westdeutschen Freiheit und Individualität dominieren. Sondern auch im Bereich des zentralen Ordnungsprinzips "Gerechtigkeit" sind gravierende Unterschiede nachweisbar.

Zwar haben sich in den letzten Jahren auf der individuellen Ebene auch Annäherungen vollzogen. Insbesondere wird in Ostdeutschland heute akzeptiert, dass eine Beurteilung nach Leistung gerecht ist. Unterschiedliche Leistung wird unterschiedlich belohnt. Das ist vor allem bei jungen Leuten und Menschen mittleren Alters ausgeprägt, gepaart mit einem Gefühl, sich selbst zu verwirklichen im Beruf, in der Gesellschaft und in der Familie.

Ein anderes Bild zeichnen Sozialwissenschaftler bei der Werteskala auf kollektiver, auf gesellschaftlicher Ebene in den neuen Ländern. Hier wird im Osten weiterhin stark das Gleichverteilungsprinzip idealisiert. Westdeutsche werden als Bessergestellte wahrgenommen. Das wird als ungerecht empfunden. Reaktionen auf Differenzen zwischen Ost und West sind oft mit Angst, Empörung, Neid und Hoffnungslosigkeit verbunden. Gegenüber Westdeutschland prägt sich, so der Befund der Wissenschaft, eine negative soziale Identität heraus. Es gilt die Devise: "Wir Ostdeutschen sind eine Gemeinschaft Benachteiligter." Diese wird emotional ausgedrückt und hierdurch gleichzeitig mental verstärkt. Das oft beschriebene Bild vom "Bürger 2. Klasse", von der PDS postuliert und in jüngster Zeit auch von Rechtsradikalen auf Flugblättern benutzt, ist hierfür der wohl bekannteste Ausdruck.

Wir haben es also bei der Gefühlslage mit einem gespaltenen Befund in Ostdeutschland zu tun. Während sich individuell die Lebensziele zunehmend angleichen, das Leistungsprinzip vom Einzelnen akzeptiert wird, passiert auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene das Gegenteil. Hier dominiert nach wie vor und unvermindert das Gleichheitsprinzip als wichtigster Maßstab in Ostdeutschland. Diese zwei Arten von Gerechtigkeitsempfinden erschweren die politische und kulturelle Verankerung der Ostdeutschen in der neuen Gesellschaft. Sie drohen, so der Befund einiger Sozialwissenschaftler, zu einem eigenständigen Nachteil zu werden.

Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit diesen Fremd- und Selbstbildern auseinandersetzen. Die unkritische Akzeptanz dieser Bilder oder deren Instrumentalisierung führt uns nicht weiter.

Wir müssen uns differenziert mit den vorherrschenden Vorstellungen von Gerechtigkeit befassen. Wir müssen die wechselseitigen Etikettierungen aufbrechen.

Den Zwiespalt zwischen Anspruch und Gerechtigkeitsempfinden der Ostdeutschen erleben wir auf individueller und kollektiver Ebene an vielen Stellen. Auf der individuellen Ebene, bei den persönlichen Ansprüchen, gibt es einen hohen Integrationsgrad, eine zum Teil erstaunliche "westliche Verortung", die zum Teil in überzogene, stark im materiellen Bereich angesiedelte Orientierungen hinüberwächst.

Da ist zum Beispiel die Rentnerin mit einem Auffüll-Betrag im Rentenbescheid. Er wurde ihr gewährt als Besitzschutzregelung, weil sie nach bundesdeutschem Rentenrecht nur einen geringeren Auszahlungsbetrag erhalten hätte. Dieser höhere Rentenzahlbetrag, ein klassisches Ostprivileg, wird über mehrere Jahre gewährt und allmählich mit der Dynamisierung der Rente abgeschmolzen. Der zusätzliche Zahlbetrag wird mittlerweile als Selbstverständlichkeit, der Abschmelzungsvorgang hingegen als ungerechte Benachteiligung empfunden.

Da ist die Frau, welche in den 70er Jahren nach dem DDR-Familienrecht geschieden wurde. Sie möchte heute rückwirkend den Versorgungsausgleich, also eine Teilung der Rentenanwartschaften mit dem geschiedenen Ehemann, erreichen, der für Geschiedene in den neuen Bundesländern natürlich erst nach der staatlichen Einheit möglich wurde.

Da ist der ehemalige DDR-Funktionär, der sich für die Tätigkeit in den Staatsorganen zum Diplom-Staatswissenschaftler ausbilden ließ. Er erwartet heute die Anerkennung seines Abschlusses als Jurist oder Politologe in der Bundesrepublik.

Und da ist der ehemalige NVA-Offizier außer Dienst, der seinen Dienstgrad gern trotz entgegenstehendem Recht mit der Abkürzung a. D. tragen will. Nachdem ich ihm das Angebot unterbreite, stattdessen die Abkürzung Oberst der NVA a. D. künftig führen zu können, teilt er mir mit, dass dies auch nicht seinem Ziel entspricht.

Auf der Ebene der individuellen Ansprüche, bei den persönlichen Gerechtigkeitsempfindungen, sind wir in den vergangenen 11 Jahren, wie man an den wenigen Beispielen ablesen kann, erhebliche Schritte vorangekommen. Auf der individuellen Ebene ist die Richtung klar. Man wächst in seinen Ansprüchen gesamtdeutsch zusammen. Bei manchen Forderungen müssen wir aufpassen, dass wir in 10 Jahren nicht eine Diskussion bekommen, ob es die DDR überhaupt gegeben hat.

Gleichzeitig leben auf der gesellschaftlichen Ebene alte Orientierungen und Maßstäbe, alte Selbst- und Fremdbilder fort. Sie werden auch benutzt und instrumentalisiert, nicht zuletzt von politischer Seite. Sie begegnen uns auch als Illusionen aller Art über den Weg zur inneren Einheit oder zur wirtschaftlichen Stärkung der neuen Bundesländer. Werden sie nicht erfüllt, verfällt man in kollektive Enttäuschung und Resignation.

Ich meine deshalb: Wir müssen aus dieser Instrumentalisierung heraus und in eine Auseinandersetzung mit diesen Fehlprojektionen und falschen Selbst- und Fremdbildern hinein. Wir dürfen diese Chance nicht vertun. Jetzt ist die Zeit dafür. Deshalb möchte ich einige dieser Illusionen, dieser falschen kollektiven Selbst- und Fremdbilder ansprechen und benennen. Einiges mag dabei für die westdeutschen Ohren selbstverständlich und trivial klingen. Gemessen an ostdeutschen Erwartungen ist dennoch eine Verständigung hierüber geboten.

Erstens gehört zu diesen Fehlprojektionen, dass der Aufbau Ost nicht primär eine staatliche Aufgabe und Leistung ist. Den Osten bauen stattdessen in erster Linie die Menschen und die in der Wirtschaft Tätigen auf. Das entlastet den Staat nicht seiner Mithilfe. Er setzt jedoch nur die Rahmenbedingungen, schafft Anreize und fördert die handelnden Akteure. Der Staat verfügt aber nicht über einen Zauberstab und kann entsprechende ökonomische Wege nicht künstlich verkürzen oder mit einem Fahrplan vorherbestimmen.

Daraus folgt zum zweiten, dass auch die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West in erster Linie kein Ergebnis exekutiven oder legislativen Handelns ist. Weder Staat noch Parlament können per Gesetz eine Angleichung der Lebensverhältnisse beschließen. Diese Angleichung ist stattdessen das Ergebnis eines wirtschaftlichen, sozialen und auch psychologischen Prozesses zwischen den ehemals geteilten Regionen. Deshalb ist übrigens auch die Beschreibung der momentanen Ungleichheit mit Gerechtigkeits- oder Ungerechtigkeitsbegriffen im Blick auf die administrativ Handelnden fehl am Platz. Diese Fehlorientierung verdeckt die eigentlichen Handlungs- und Entwicklungsebenen.

Zu den Fehlprojektionen gehört die Vorstellung, dass es sich beim Aufbau Ost um eine ökonomische Transformation konservierbarer DDR-Strukturen auf höherem ( westdeutschem ) Niveau handeln müsse. Stattdessen richten sich die unter planwirtschaftlichen Bedingungen entstandenen Strukturen seit 1990 unter marktwirtschaftlichen Bedingungen neu aus. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Regionalstruktur, auf die Verteilung der Produktionsfaktoren, aber auch auf die Wanderungsbewegungen im Land. Diesen Prozeß an sinnvollen Stellen zu befördern und an schmerzlichen zu mildern, ist wichtig. Ihn zu verhindern, jedoch vergeblich.

Und schließlich muß auch das Bild von den westdeutschen Lebensverhältnissen im Osten relativiert werden. Eine Gleichheit der Lebensverhältnisse gibt es auch in den alten Bundesländern nicht. Dagegen gibt es enorme regionale Unterschiede. Dies betrifft sowohl die Produktivität, das Einkommen und andere Strukturdaten. Natürlich liegt im Durchschnitt in den neuen Ländern das Brutto-Inlandsprodukt pro Erwerbstätiger im Verhältnis zum Westen bei ca. 68 % . Aber auch der Erwerbstätige in Rheinland-Pfalz kommt im Vergleich zum Kollegen in Hessen im Durchschnitt nur auf eine Produktivität von 75 % , ohne dass in Rheinland-Pfalz dadurch gegenüber den Hessen das Gefühl von Bürgern 2. Klasse aufkommt.

Diese vier Projektionen, die wir in Ostdeutschland zum Teil seit mehreren Jahren mit uns herum schleppen, gehören auf den Prüfstand. Sie ließen sich sicherlich beliebig ergänzen, und ich bin sicher, dass auch in den alten Bundesländern Vergleichbares über den Osten oder sich selbst existiert.

Deshalb werbe ich für eine offene, kritische und ehrliche Diskussion über die Selbst- und Fremdbilder innerhalb unseres Landes. Eine solche Diskussion und Verständigung könnte neue mentale Freiräume schaffen und Kräfte freilegen. Wir haben in Ostdeutschland trotz aller vorhandenen und uns noch über viele Jahre hinweg begleitende Probleme allen Grund zur Freude, zum Stolz und zur Zuversicht.

Ein typisches Beispiel für mich ist hierfür die jüngste Standortentscheidung von BMW. Der bayerische Konzern ist nicht nach Mitteldeutschland gegangen aus nationaler Solidarität, Mitleid oder Mildtätigkeit. Sondern einzig und allein aus einem Grund: hier findet er den besten Platz in Europa, um seine Autos zu produzieren. Die Menschen sind hoch qualifiziert, die Infrastruktur hat sich gut entwickelt, Antrags- und Genehmigungsverfahren laufen schnell und höchste Investitionshilfen stehen bereit. BMW zeigt: Wir in Ostdeutschland können in einem europaweiten Standortwettbewerb erfolgreich bestehen. Und wir haben mit dem Solidarpakt II Planungssicherheit für diesen Wettbewerb bis ins Jahr 2020. Es gibt keinen Standort in Europa, der über solche langfristige Bedingungen verfügt. Deshalb sollten wir uns auch dieser kritischen Selbstverständigung unterziehen. Denn richtig ist: Noch Vieles liegt vor uns, aber wir sind große Schritte vorangekommen, und es gibt gute Perspektiven für den Weg, der vor uns liegt.