Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 16.10.2001
Untertitel: Ich denke, hier im Saal gibt es niemanden, der nicht wüsste, dass die Angriffe auf New York und Washington nicht nur Angriffe auf die Vereinigten Staaten waren, sondern Angriffe gegen eine bestimmte Wertordnung, eine bestimmte Art zu arbeiten und zu leben.
Anrede: Herr Präsident Lambert, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/24/62024/multi.htm
Ich werde gleich zu einigen der Thesen, die Ihr Präsident formuliert hat, etwas sagen. Zuvor - ich glaube, das ist eine allgemeine Erwartung - sollte ich mich jedoch mit den Fragen befassen, die nicht nur die Deutschen beschäftigen, sondern alle, die die grauenvollen Anschläge in New York und Washington erlebt haben. Natürlich beschäftigt uns alle aus Politik, Ökonomie, Kultur - welchen Bereich auch immer Sie nehmen - die Frage der Konsequenzen. Was kommt auf uns zu? Was werden wir leisten müssen?
Vielleicht zunächst so viel: Ich denke, hier im Saal gibt es niemanden, der nicht wüsste, dass die Angriffe auf New York und Washington nicht nur Angriffe auf die Vereinigten Staaten waren, sondern Angriffe gegen eine bestimmte Wertordnung, eine bestimmte Art zu arbeiten und zu leben. Bezogen auf New York war es vielleicht noch mehr als das. Dort ist es den Terroristen nicht nur darum gegangen, die Kapitale einer Marktwirtschaft zu treffen. Mit New York hat man sehr viel mehr getroffen.
Für viele Menschen in der ganzen Welt ist insbesondere diese Stadt nicht nur Inbegriff einer bestimmten Art zu wirtschaften und zu leben, sondern auch Ort der Verheißung von Leben ohne Furcht vor Verfolgung und neuem Anfang gewesen und ist es immer noch.
Getroffen worden ist vielleicht nicht unmittelbar Deutschland, aber über unsere Freunde in den Vereinigten Staaten sind wir es mittelbar eben doch. Wir sind mittelbar betroffen, weil unsere Gesellschaft, wie die der Vereinigten Staaten, nach den gleichen Wertvorstellungen organisiert ist. Uns verbinden also nicht nur Interessen. Uns verbinden gemeinsame Wertvorstellungen und eine bestimmte, weil freie Art, miteinander zu leben.
Deswegen - und das ist der Kern der politischen Äußerungen, die wir gemacht haben - habe ich von uneingeschränkter Solidarität gesprochen. Bezogen auf den einen oder die andere, die Überlegungen anstellen, will ich gleich richtig stellen: Ich habe das uneingeschränkt gemeint und das nicht nur auf eine Woche bezogen, damit sich niemand Illusionen macht, was diese Frage angeht. Denn eines ist klar: Hier handelt es sich um eine neue Form von Krieg - nicht erklärt und jedenfalls überwiegend von Menschen ohne Gesichtern ausgeführt - gegen die zivilisierten Gesellschaften, übrigens gleichgültig, wie sie sich glaubensmäßig fundieren. Dies kann partiell nur mit der Wahrnehmung des Rechts, sich gegen Gewalt zu wehren, beantwortet werden.
Das ist übrigens der Kern der Entschließungen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den Resolutionen 1368 und 1373 zum Ausdruck gebracht hat. Die Vereinten Nationen, also die Völkergemeinschaft, sind es gewesen, die gesagt haben: Das, was in New York und Washington passiert ist, ist eine neue Form von Krieg, ist in der Terminologie der Charta also auch eine Form von Störung des Weltfriedens, den man sich bisher nur durch einen erklärten Krieg von einem Staat gegen einen anderen gestört vorstellen konnte. Beides war im Angesicht der Terroranschläge und auch der Vorstellung des NATO-Vertrags weiterzuentwickeln, der bei seiner Entstehung davon ausging, dass die Bündnispartner gegen einen Angriff von außen solidarisch zu sein hatten. Denn entwickelt worden waren diese Regelungen für den Fall einer Erklärung des Krieges durch einen feindseligen Staat.
Die Vorstellung dieser neuen Art von Bedrohung stand weder Pate bei der Schaffung der VN-Charta noch bei der Schaffung des NATO-Vertrags. Gleichwohl war es angesichts der neuen Situation notwendig, diese Vorstellungen weiterzuentwickeln, sie diesen veränderten Bedrohungen anzupassen und nach innen wie nach außen deutlich zu machen, dass diejenigen, die diesen neuen Krieg führen, mit den gleichen Gegenmitteln zu rechnen haben wie diejenigen, die bislang Kriege erklärten und sie dann führten.
Was Deutschland angeht, standen wir vor der Frage, was Inhalt unserer Bündnissolidarität ist. Doch geht es eigentlich nur um Bündnissolidarität? Das wäre ja schon eine ganze Menge gewesen. Aber wenn man der Analyse folgt, dass es eben nicht nur um Bündnissolidarität geht, sondern um die Verteidigung gemeinsamer Werte, dann konnte man nur uneingeschränkte Solidarität zusagen und entsprechend handeln, weil die Verteidigung nicht nur im Interesse des Bündnispartners und der Bündnissolidarität, sondern im höchst eigenen nationalen Interesse ist.
Ich glaube, wenn man sich das klar macht, wird deutlich, dass nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern auch die Europäer und Deutschland sich auf eine lange Auseinandersetzung werden einrichten müssen. Es wird eine Auseinandersetzung werden, die auch, aber keineswegs ausschließlich mit militärischen Mitteln geführt werden wird, sondern bei der wir die ganze Palette an Kraft einsetzen müssen, über die wir verfügen, um der Geißel des Terrorismus Herr zu werden. Wenn ich das sage, meine ich, dass wir politisch-diplomatische Mittel einsetzen müssen. Vor allem dürfen wir nicht den Fehler machen, uns allzu sehr auf das einzulassen, was in der Absicht der Terroristen liegt. Schaut man sich das an, erkennt man, dass sie vorhaben, die westliche Welt - und nicht nur die westliche Welt - in eine Auseinandersetzung mit dem Islam zu stürzen, um auf diese Weise Massen für ihre verbrecherischen Ziele zu mobilisieren.
Erstens: Wir haben mit kühlem Kopf dagegen zu setzen, dass wir eine Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, vielleicht einer bösartigen Spielart und Interpretation des Islam, aber keineswegs eine Auseinandersetzung mit dieser Religion und ihren Menschen führen. Das ist deshalb wichtig, damit Terrorismus nicht den Zulauf erhält, den er international gerne haben möchte und der im nationalen Maßstab auch zu Verzerrungen des Zusammenlebens in unserem Land führen könnte.
Zweitens: Es ist das Verdienst amerikanischer Politik - und am Anfang waren nicht wenige skeptisch, ob das gelingen könnte - , durch eine Mischung aus Entschlossenheit einerseits und Besonnenheit andererseits eine weltweite internationale Koalition gegen den Terrorismus politisch zusammengebracht zu haben. Es gilt, diese zusammenzuhalten. Innerhalb der Bündnispartner sind wir uns durchaus einig, dass das eine Aufgabe für alle ist, zumal auch für die wichtigsten Partner der Vereinigten Staaten. Es macht Sinn, beim Zusammenhalten dieser Koalition arbeitsteilig vorzugehen. Dazu gehört, dass jedes Land seine spezifischen Möglichkeiten und Kontakte nutzt, um zum Beispiel zu erreichen, dass auch jene islamisch dominierten oder rein islamischen Länder - das sind ja keineswegs nur die arabischen Länder - , die sich aus inneren Gründen nicht aktiv an der Solidarität beteiligen können, in enger oder weniger enger Beziehung zu dieser internationalen Koalition gegen den Terrorismus bleiben.
Je mehr wir davon abhalten können, auf die andere Seite zu gehen - Gott sei Dank haben die meisten oder fast alle dies bisher auch nicht getan - , desto sinnvoller ist das für unsere politisch-strategischen Interessen. Das bezieht sich auch auf Staaten, von denen man dies durchaus nicht erwartet hätte. Nun muss man die Probe aufs Exempel machen, ob mehr als lediglich verbale Ablehnung des Terrorismus dahinter steckt.
Wir werden auch ökonomische Mittel einsetzen müssen, um - ich sage das einmal so - die Finanzierungsquellen des weltweiten Terrorismus auszutrocknen. Das bedeutet angesichts der Tatsache, dass wir bislang 200 Konten in Deutschland haben sperren müssen, weil der begründete Verdacht besteht, dass damit Terrorismus finanziert worden ist und wird, dass wir verbesserte Möglichkeiten schaffen müssen, um "underground-banking" und das, was sich damit verbindet, zu unterbinden. Denn diejenigen, die bei uns redlich Geschäfte machen, können gar kein Interesse daran haben, dass das nicht unterbunden wird. Dabei wird die Balance zwischen dem Vertrauensverhältnis von Kunden und ihren Banken auf der einen Seite und der Aufdeckung verbrecherischer Finanzströme auf der anderen Seite sehr wohl zu wahren sein. Das ist keine Frage. Niemand muss Angst haben, um es zugespitzt zu formulieren, dass in Zukunft anstatt seiner Volks- oder Raiffeisenbank Hans Eichel sein Konto führt. Das will er nicht. Selbst wenn er es wollte, würde er es nicht kriegen, um das sehr deutlich zu sagen. Glauben Sie mir: Er will es auch wirklich nicht.
Ich denke aber, dass gerade diejenigen, die sagen, dass dieses Vertrauensverhältnis nicht gestört werden darf, auch nicht rechtliche Regelungen fordern oder erhalten dürfen, die ganz anderen Zwecken dienen können als der Aufrechterhaltung dieses Vertrauensverhältnisses. Ich weiß, dass das ein weites Feld ist. Aber ich will deutlich machen: Uns geht es wirklich um die Bekämpfung der Finanzströme des internationalen Terrorismus und nicht um gelegentlich vermutete andere Gesichtspunkte, an die man ja auch denken kann. Wobei ich klar machen will, dass Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt ist. Nicht, dass ich irgendjemanden im Auge hätte, aber das ist es wirklich nicht. Es ist ein hinreichend legitimes staatliches Ziel, auch das zu unterbinden. Man muss nur die Begründungszusammenhänge auseinander halten. Und das geschieht auch. Darauf können Sie sich verlassen.
Ich will ein paar Bemerkungen darüber hinaus zu dem machen, was von Deutschland in der nächsten Zeit erwartet wird.
Erstens: Sie wissen aus der Presse, dass wir gegenwärtig im Rahmen der NATO am Ersatz amerikanischer Kräfte in Amerika selbst und im Mittelmeer beteiligt sind. Im Klartext: Die Amerikaner haben Überwachungsflugzeuge für ihren Luftraum - das sind so genannte AWACS-Flugzeuge - aus Amerika in den Nahen Osten verlegt. Wir - das heißt, die NATO einschließlich deutscher Besatzungen - sind damit beschäftigt, den amerikanischen Luftraum ausschließlich zu überwachen. Das hat nichts mit Kampfeinsätzen zu tun, ist aber ein Stück aktiver Solidarität. Weil es nichts mit Kampfeinsätzen zu tun hatte, konnte die Bundesregierung ohne das Parlament entscheiden. Denn immer dann, wenn Einsätze deutscher Soldaten in Frage stehen, die mit Auseinandersetzungen der Art zu tun haben, wie sie jetzt anstehen, müssen wir das Parlament fragen.
Zweitens: Die Amerikaner haben - das wissen Sie, das ist kein Geheimnis, und das weiß jeder - maritime Einheiten in den Indischen Ozean verlegt. Dafür hat die NATO, hat auch Deutschland maritime Einheiten in das östliche Mittelmeer verlegt. Dass wir darüber hinaus - aber das sage ich als Hinweis und keineswegs als Ausrede dafür, nicht anderes tun zu müssen - unsere Bündnispartner auf dem Balkan entlasten, zum Beispiel dadurch, dass wir in der notwendigen Mazedonien-Mission innerhalb der NATO die Führung ubernommen haben, soll nicht unerwähnt bleiben. Das zeigt nämlich, dass das wieder vereinigte Deutschland mehr und mehr bereit ist und bereit sein muss, auch weltpolitische Verantwortung zu übernehmen, weil das auch die Erwartung unserer Partner ist. Das war, siehe Balkan, zunächst noch auf Europa zentriert, wird es aber, siehe Afghanistan, nicht bleiben.
Über diese beiden Fragen aktiver Solidarität hinaus ist damit zu rechnen - und es ist vernünftig, wenn man sich in Deutschland darauf einstellt - , dass unsere Bündnispartner, unsere Freunde in Amerika, auch weitere Unterstützungsmaßnahmen entsprechend dem NATO-Vertrag von uns erwarten. Ich gehe davon aus, dass wir in einem überschaubaren Zeitraum auch über solche Maßnahmen zu entscheiden haben werden. Ich will auch hier deutlich machen, dass das Wort von der aktiven und unbegrenzten Solidarität gemeint war, wie es gesagt worden ist, und wir deswegen das, was uns objektiv möglich und politisch von uns verantwortet werden kann - und das ist mehr, als wir bis jetzt haben leisten müssen - , auch leisten werden. Täten wir das nicht, wäre das Wort von der Solidarität ein leerer Begriff. Ich denke, dass darf niemand von Deutschland denken und schon gar nicht, bezogen auf die Gegner, von Deutschland erwarten.
Über das hinaus, was ich zu diesen aktuellen Fragen gesagt habe, will ich gerne zu einigen wirtschaftspolitischen Fragen Stellung nehmen. In diesem Zusammenhang will ich auch auf das eingehen, was Sie, Herr Lambert, zu Basel II gesagt haben.
Wir haben zurzeit eine außerordentlich muntere wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland, bei der die Regierung auch mit der einen oder anderen Forderung - ob nun zu Recht oder zu Unrecht, will ich einmal dahin gestellt sein lassen - konfrontiert wird. Das ist letztlich eine Debatte über die Frage - und ich sehe da erlauchte Geister der wirtschaftlichen Praxis wie der Wirtschaftswissenschaften sitzen - , wo wir eigentlich wirtschaftspolitisch in Deutschland stehen. Was müssen wir tun, wenn wir nicht so dastehen, wie wir es eigentlich wollen? Ich glaube, das ist es, worum es gegenwärtig geht.
Wer sich diese Frage stellt, kann das natürlich nur in Verbindung zu dem machen, was wir getan haben. Das darf man nicht ganz außen vor lassen. Ich erlebe jetzt eine Diskussion, in der mancher positiver Ansatz, der im Sommer 2000 noch als ein großer Durchbruch etwa in der Steuerpolitik gefeiert worden ist, schlicht vergessen wird. Das finde ich nicht ganz gerecht, weil ich dafür immer noch gelobt werden will. Das werden Sie verstehen.
Vor diesem Hintergrund komme ich zu einigen Bemerkungen zur aktuellen Situation. Die erste Forderung, die gelegentlich an uns gerichtet wird - nicht von der Wirtschaftswissenschaft oder von relevanten Teilen der Wirtschaftswissenschaften und der wirklichen Praktiker - , ist: "Gebt die Konsolidierungspolitik auf. Macht stattdessen ein paar richtig knackige Konjunkturprogramme. Dann werdet ihr erleben, dass die Wirtschaft weit flotter wird, als sie ohnehin schon ist". Ich finde, es lohnt sich, weil das im Bewusstsein vieler Menschen Resonanz findet, sich damit auseinander zu setzen. Am Anfang dieser Auseinandersetzung will ich gleich sagen: Ich glaube, eine Aufgabe der Konsolidierungspolitik wäre absolut kontraproduktiv und würde nicht zu den Zielen, die wir gemeinsam verfolgen, führen. Dies sind nämlich: mehr Wachstum und als Folge dessen auch ein größerer Abbau der Arbeitslosigkeit.
Die Wissenschaftler, die Praktiker, die hier geredet haben, können das noch besser begründen als ich. Ich will es aus meiner Sicht tun. Zunächst einmal können wir die Konsolidierungspolitik nicht aufgeben, weil sie international vereinbart ist. Ich frage mich, was eigentlich passieren würde, wenn ausgerechnet Deutschland, die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa, den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt gleichsam auf den Misthaufen der Geschichte werfen würde. Ich glaube nicht, dass das verantwortbar wäre. Das wäre nicht verantwortbar bezogen auf die Partnerschaften, die wir eingegangen sind, das wäre aber auch ökonomisch außerordentlich falsch, soweit ich das jedenfalls sehe. Denn die Aufgabe des Stabilitätspakts würde es der Europäischen Zentralbank eben nicht erlauben, eine Geldpolitik zu machen, die vernünftigen Linien folgte.
Wobei ich mich hier nicht darüber äußern will, ob die Spitze der Vernunft bei der Europäischen Zentralbank schon erreicht ist. Das kann ich schon deshalb nicht, weil ich zur Ehre und ständigen Verbeugung vor der Unabhängigkeit der EZB gleichsam natürlich verpflichtet bin und das natürlich auch einhalte, wie Sie merken. Aber ich finde, wenn wir jetzt anfingen, die Konsolidierungspolitik aufzugeben, hätte das negative Auswirkungen auf die ständig wachsende Vernunft in eben dieser absolut unabhängigen Bank. Deswegen dürfen wir es schon aus diesem Grunde nicht tun.
Ich glaube aber, es gibt einen weiteren Grund. Meine Auffassung ist: Wenn wir jetzt die Konsolidierungspolitik aufgäben, hätte dies negative Auswirkungen auf das, was gerade diskutiert wurde, als ich eintraf, nämlich die Einführung des Euro-Bargelds, bezogen nicht auf den technischen Vorgang der Einführung der Währung, wohl aber auf deren Stabilität mit allen Auswirkungen, die das natürlich psychologisch auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland hätte, und die das auch für die Akzeptanz einer Währung hätte, die emotional noch nicht akzeptiert ist, jedenfalls nicht so, wie wir das alle miteinander gerne hätten. Die Zuversicht, dass, wenn wir es richtig machen, der Euro just so stabil, wenn nicht perspektivisch stabiler werden kann, als es in einer veränderten Weltordnung die D-Mark alleine je hätte bleiben können, hat noch nicht überall hinreichende Verbreitung gefunden. Das ist also ein zweites Argument dafür, die Konsolidierungspolitik nicht aufzugeben.
Ein drittes Argument: Jetzt schuldenfinanzierte Programme zu machen, würde bei den Investoren, bei Ihnen, eine ganz natürliche Reaktion auslösen. Und zwar: Warten wir mit unserem Investitionsvorhaben ab und schauen wir einmal, ob sich nicht doch das eine oder andere einstellt, das uns bei dieser Investition hilft. Sie merken: Ich bin Diplomat genug, um hier nicht von Mitnahmeeffekten zu reden. So ein Begriff ist mir wesensfremd. Aber er soll gelegentlich ins Auge gefasst werden. Das habe ich mir jedenfalls sagen lassen. Wenn man Attentismus vermeiden will - und das wollen wir - , können wir das auch nicht machen.
Jetzt wird uns gelegentlich gesagt: "Aber die Amerikaner haben doch angekündigt, dass...". Ich glaube, da lohnt der Hinweis auf das Steuersenkungsprogramm der Amerikaner. Das, was Herr Bush vorgeschlagen hat, ist, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, weniger als das, was wir bis 2005 machen werden. Bei den Amerikanern ist das bisher 0,9 Prozent und bei uns 1,0 bis 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch das, so denke ich, gehört in diese Diskussion, wenn sie vorurteilsfrei geführt werden soll.
Dass übrigens den Amerikanern der Begriff der Subvention nicht ganz fremd ist, kann man derzeit feststellen, wenn man sich die Situation der Luftverkehrsgesellschaften einmal anschaut. Da finde ich es bemerkenswert, wenn der Vorstandsvorsitzende der Lufthansa sagt: "Ich will das nicht. Die Aufgabe der Bundesregierung ist es, in Europa zu verhindern, dass meine Marktposition durch die Subventionierung anderer geschwächt wird". Ich finde, das ist eine wohltuende und inhaltlich richtige Aussage, die Herr Weber getroffen hat. Wenigstens für ihn können Sie jetzt klatschen.
Weiter will ich auf eines hinweisen, nämlich dass die Amerikaner ihre Programme aus Haushaltsüberschüssen finanzieren, und zwar immer noch aus kräftigen Haushaltsüberschüssen. Dieselbe Forderung an uns gerichtet, bedeutete, einer wachsenden Verschuldung das Wort zu reden. Das ist schon ein Unterschied, was die Perspektiven unserer Volkswirtschaft angeht. Ich glaube also, dass man in dieser Hinsicht sagen kann: In der aktuellen Situation sind Deutschland und Europa mit Amerika schlechthin nicht vergleichbar.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum das nicht vergleichbar ist: Die Amerikaner befinden sich wirklich in einer Rezession. Nach der gängigen Definition ist das ja dann der Fall, wenn zwei Quartale hintereinander kein Wachstum verzeichnet wird, und in Deutschland ist das nicht der Fall. Wir werden in diesem Jahr viel weniger Wachstum als erhofft haben und sich jeder hier im Saal auch vorgestellt hat. Sie kennen die Ursachen.
Wir haben aber Wachstum, und wir werden im nächsten Jahr, in welcher Größenordnung auch immer, eher mehr als weniger Wachstum als in diesem Jahr haben. Auch die Tatsache, dass man in Deutschland, in Europa von einer Rezession nicht reden kann, setzt ganz natürliche ökonomische Grenzen gegenüber den Forderungen nach Konjunkturprogrammen, wie immer sie im Einzelnen ausgestaltet sein mögen.
Ich glaube, damit ist auch klar, dass wir zwar die Pflicht haben, die wirtschaftliche Situation und ihre Entwicklung insbesondere im letzten Quartal dieses Jahres sehr sorgfältig zu beobachten und nicht zu dogmatisieren, es aber gegenwärtig keinen Anlass dafür gibt, hektisch über Konjunkturprogramme nachzudenken, die in ihrer überlieferten Auskleidung ökonomisch ohnehin nichts bewirken würden. Wer das in Deutschland nicht glauben will, sollte sich die Situation in Japan anschauen. Dann weiß er, was klassische Konjunkturprogramme ausmachen und was nicht. Im Übrigen muss man darauf hinweisen, dass es in Deutschland - vielleicht ohne, dass Herr Keynes das wusste oder wissen konnte, dass man so etwas einmal machen würde - ein großes Wachstumsprogramm gibt, und zwar sehr langfristig bis 2019 angelegt. Dies ist der Solidarpakt II.
Damit verbunden ist ein Transfer immer noch erheblicher Mittel aus dem Westen des Landes in den Osten, was nötig und richtig und eines der größten Wachstumsprogramme ist, das jemals in einer nationalen Volkswirtschaft aufgelegt worden ist. Man muss das ja nicht mit diesem großen Nationalökonom begründen. Man muss es nur machen. Ich glaube also, dass man angesichts dessen, die Forderungen nach Konjunkturprogrammen in der jetzigen Situation getrost abhaken kann.
Dann ist zweitens gefordert: "Zieht doch die Steuerreform vor." Das lässt sich bestimmt hier im Saal hören. Ich muss dazu Folgendes sagen:
Was haben wir gemacht? Wir haben in diesem Jahr 45 Milliarden DM mobilisiert, 25 Milliarden DM davon an die Verbraucher und 20 Milliarden DM an die Unternehmen im Zuge der Unternehmensteuerreform, und dort mit einem Schwerpunkt im Mittelstand. Auch wenn dieser es nicht so recht glaubt, es ist so. Wir haben eine Körperschaftsteuerreform gemacht, die im Wesentlichen nicht den Mittelstand betrifft - das weiß ich wohl - , bei der wir einen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent definiert haben. Hinzu kommt im Durchschnitt des Landes 13 Prozent Gewerbesteuer. Das ist im Wettbewerb mit anderen Ländern, die ähnlich entwickelt sind wie wir, vertretbar. Aber es ist eine Definitiv-Besteuerung. Sie müssen das wirklich ab der ersten Mark abliefern.
Bezogen auf den Mittelstand, der ja klassisch als Personengesellschaft organisiert ist, haben wir gesagt: "Wir müssen mit dem Spitzensteuersatz runter." Das ist vielen nicht schnell genug gegangen. Ich kann das nachvollziehen. Aber ich muss auch auf die andere Seite schauen, die der Finanzierung der staatlichen Ausgaben. Wir werden bis 2005 auf 42 Prozent kommen. Wir haben faktisch, ohne das verfassungsrechtlich zu machen, die Gewerbesteuerbelastung abgeschafft, indem sie, so sie bezahlt wird, auf die Einkommensbesteuerung angerechnet werden kann. Wenn sie nicht gezahlt wird, ist es schwierig, sie anzurechnen. Das ist klar. Aber ich kann ja auch keine Steuer abschaffen, die jemand nicht bezahlt. Das ist auch klar.
Wenn wir jetzt den Spitzensteuersatz von 42 Prozent vorziehen würden, müssten wir uns darüber Gedanken machen, wie wir es bezahlen. Wenn man alles macht, sind das 45 Milliarden DM. Wenn man nur die nächste Stufe vorziehen würde, wären es 14 Milliarden DM. All die Ratgeber, die sagen, dies finanziere sich von selbst, können das nur deswegen tun, weil sie nicht in meiner Lage sind oder in der Lage des Finanzministers. Denn diese Selbstfinanzierungsquote ist zunächst einmal Hoffnung. Es ist nicht ungefährlich, einen Staatshaushalt auf Hoffnung aufzubauen. Das hatten wir schon häufig genug, sonst hätten wir nicht 1,5 Billionen DM Schulden. Das Prinzip Hoffnung taugt in der Steuerpolitik nur begrenzt. Ich sehe einige, die die Stirn runzeln, aber es ist so. Glauben Sie es mir. Die zusätzlichen Aufgaben, wie wir durch die außenpolitische Situation bekommen, müssen bezahlt werden. Diese Finanzierung kann ich nicht auf das Prinzip Hoffnung gründen.
Es kommt noch etwas hinzu: Wir leben in einem sehr föderalen Staat, wie wir wissen. Darüber freut man sich, wenn man - wie ich es auch einmal war - Ministerpräsident ist; darüber ärgert man sich, wenn man Bundeskanzler ist. Das Sein bestimmt manchmal tatsächlich das Bewusstsein. Das ist schon wahr. Aber wir leben in einem solchen Staat, und wir haben unsere Politik in diesem Staat und diesen Staatsaufbau durchzusetzen, mit dem wir übrigens gut gefahren sind. Das ist keine Frage.
Nun zu meinem Punkt: Bei einem Vorziehen der Steuerreform sind die Länder immer zur Hälfte dabei. Zwei süddeutsche Länder - ich sage jetzt nicht, um wen es sich handelt - haben formuliert: "Ihr zieht das vor, aber mehr auch nicht." - Wissen Sie, was sie mir sagen würden, wenn wir das machten? "Wir haben natürlich gemeint, dass du das vorziehen sollst. Aber das hier muss ausnahmsweise der Bund allein bezahlen". Dass dieser Einwand von dort käme, ist sonnenklar.
Die Übrigen, die etwas redlicher mit dem Thema umgehen, aber auch nicht ganz - wie gesagt, ich rede hier über meine eigene Vergangenheit - , werden mir sagen: "Herr Bundeskanzler, es ist alles in Ordnung. Aber wir können uns daran nicht beteiligen, weil unsere Staatshaushalte bis an die Grenzen belastet sind. Wir müssen jetzt mehr für die Polizei tun. Wir sollten mehr für die Lehrer tun und für die Hochschulen sowieso. Also, entweder zahlst du es selber, oder wir müssen dir leider im Bundesrat zeigen, wo Barthel den Most holt".
Wenn man das jetzt täte - wir haben natürlich solche Diskussionen geführt - und das in einem endlosen Streit und Verschiebebahnhof zwischen Bund und Ländern endete, dann würde man - bezogen auf die Stimmung, die im Lande einkehrte - genau das nicht erreichen, was man mit einem Vorziehen erreichen wollte: einen schnellen positiven Signaleffekt für Konsumenten und Investoren.
Fazit: Es ist vernünftig, eine mittelfristig bis 2005 angelegte, im Gesetzblatt stehende Steuerreformpolitik beizubehalten, weil dies erstens Attentismus der Investoren und der Verbraucher verhindert und zweitens Kalkulierbarkeit in einem Maße schafft, wie es Jahressteuergesetze, die wir früher hatten, niemals zu Wege gebracht haben. Das ist der Grund, warum wir meinen, dass wir nach wie vor - bei aller Notwendigkeit, die Entwicklung sehr sorgfältig zu analysieren und zu beobachten - auf dem richtigen Wege sind. Deshalb wollen und dürfen wir nicht von diesem Wege abweichen.
Im Übrigen: Sie haben über die Einführung des Euro diskutiert. Alles, was wir nicht europäisch vereinbaren können, ist in einer so verflochtenen Ökonomie - Gott sei Dank ist sie so verflochten - nur begrenzt wirksam. Wir haben aufgrund der gewünschten größeren Integration immer weniger Möglichkeiten, um im nationalen Maßstab gegensteuern zu können. Das muss man endlich nicht nur sagen, sondern auch dann begreifen, wenn es schwierig ist. Deswegen kann es überhaupt nur eine europäisch abgestimmte Aktion geben, wenn es sie denn geben muss. Ich glaube, den verfügbaren Datenkranz, anhand dessen man das beurteilen kann, kann man nicht vier Wochen nach dem 11. September gewinnen, sondern man braucht schon etwas mehr Zeit, um beobachten und analysieren zu können, was sich wirklich ereignet.
Darüber hinaus - das ist Kern meiner Aussage - gibt es in Deutschland angesichts der Tatsache, dass Rezessionstendenzen nicht erkennbar sind, auch überhaupt keinen Grund, pessimistische Debatten zu führen. Im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass die deutsche, die europäische Wirtschaft robust genug ist, um die Wachstumsdelle, die es gibt - das bestreitet auch keiner - ausgleichen zu können.
Das vorausgeschickt, will ich jetzt noch Stellung zu dem Thema nehmen, das Sie, Herr Lambert, beschäftigt hat und auch uns beschäftigt. Das ist Basel II. Was passiert dort, auch nach unserer Analyse?
Oder was könnte passieren, wenn wir nicht aufpassen? Was in Basel I bereits in Gang gesetzt worden ist, ist die Verschiebung der Refinanzierungsmöglichkeiten in einem Ausmaß, wie es absolut nicht hingenommen werden kann. Verschiebung meint hier die Bevorzugung - das kann man glasklar nachweisen - großer Unternehmen zu Lasten kleiner und mittlerer. Das fände im Grunde statt, wenn man das laufen ließe.
Dann hat man Basel I überarbeitet und das Papier Basel II vorgelegt. Ich sage hier klipp und klar: Dieses Papier ist für Deutschland in dieser Form nicht akzeptabel. Es könnte deswegen auch nur gegen unseren Widerstand in eine europäische Richtlinie geschrieben werden, und wir wollen einmal sehen, wie das gehen soll. Das Papier ist deshalb nicht akzeptabel, weil es zwar ein paar Verbesserungen gibt - zum Beispiel die Berücksichtigung des internen Ratings, die in Basel II enthalten ist, was ohne Zweifel etwas ist - , aber es bleiben erhebliche Gefährdungen, was die Kreditrefinanzierungsmöglichkeiten kleiner und mittlerer Betriebe angeht. Sie sind hier aufgelistet worden.
Ich will noch einen Gedanken hinzufügen, bei dem Sie vermutlich einsehen, dass wir dieser Frage in der nahen Zukunft einen großen Stellenwert in unserer Europa- und Wirtschaftspolitik zumessen werden. Es gibt nach meiner Meinung schon eine Beziehung - zwar nicht direkt, und vielleicht war das von den Schöpfern dieser Papiere auch gar nicht gedacht - zwischen der Frage der Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen einerseits und dem, was sich auf dem Banken- und Sparkassensektor unter dem europäischen Dach vollzieht, andererseits.
Wir dürfen bei dieser Frage nämlich nicht außer Acht lassen, dass wir aufgrund des Agierens der Wettbewerbshüter in Europa Gefahr laufen, in Deutschland eine so gewandelte Banken- und Sparkassenlandschaft zu bekommen, dass auch aus diesem Grunde die klassischen Verbindungen zu den kleinen und mittleren Unternehmen gestört werden, und zwar durch ganz spezifische Intervention gegen die Organisation von Banken, Landesbanken und Sparkassen - das darf ich vielleicht doch sagen, auch wenn sie hier nicht vertreten sind - , aber auch von Unternehmen wie diesen. Wenn man die Kreditinstitute, die bisher auch risikobereit den Handwerksmeister um die Ecke finanziert haben, in Schwierigkeiten bringt, in dem man deren Refinanzierungsmöglichkeiten unter Wettbewerbsgesichtspunkten verschärft, die so nicht gelten können, dann bringt man natürlich auch die Beziehung zwischen dem Kreditinstitut und dem denkbaren Kunden in Schwierigkeiten.
Wenn man das in Beziehung zu dem setzt, was in Basel II an Benachteiligung kleiner und mittlerer Betriebe steckt, dann wird man feststellen, dass das eine oder andere europäische Land keine Schwierigkeiten im Umgang mit beidem hat, weil andere Strukturen vorhanden sind, dass aber spezifisch Deutschland Schwierigkeiten im Umgang mit beidem hat, weil wir eine sehr stark durch mittelständische Unternehmen gekennzeichnete Wirtschaftsstruktur haben - eine Wirtschaftsstruktur, die uns in Krisenzeiten immer geholfen hat, Krisen durchzustehen und zu überwinden.
Nun gehöre ich, wie mir immer unterstellt wird - und dies durchaus zu Recht - keineswegs zu denen, die Feindschaften gegen große Unternehmen hegen, Herr Wiedeking, und auch nicht gegen noch größere. Ich habe jetzt nicht über die Umsatzrendite geredet. Bei der Rendite gibt es ja kaum größere. Ich hoffe, das macht sich dann auch beim Steuerzahlen bemerkbar.
Aber ich will sagen: Das ist nicht gegen die gerichtet, die dann im Vergleich zu Mittelständlern ein wenig schlechter gestellt würden. Denn volkswirtschaftlich betrachtet ist natürlich die Schwächung des Mittelstandes über Basel II etwas, was letztlich, weil sie als Kunden oder als Zulieferer davon betroffen sind, auch den Großunternehmen nicht hilft. Insofern glaube ich, dass es eine gute Möglichkeit gibt, die deutsche Wirtschaft insgesamt, und zwar unabhängig von Umsatz oder Renditegrößen, auf eine Position der kritischen Überprüfung dessen zu bringen, was dort angeboten wird.
Die Bundesregierung - das will ich Ihnen, in Abweichung von meinem Manuskript, sagen - ist jedenfalls daran interessiert, in sehr enger Zusammenarbeit mit denen, die es betrifft und mit denen, die es machen müssen, über Basel II zu reden und in sehr enger Abstimmung mit den Betroffenen, also den Verbänden der mittelständischen Wirtschaft und der Kreditwirtschaft, dafür zu sorgen, dass Schaden von diesem so wichtigen Teil der deutschen Wirtschaft abgewendet wird. Dies ist ausdrücklich eine Bitte an diejenigen, die es angeht, diese Zusammenarbeit zu suchen.
Ich wünsche Ihnen für Ihre Tagung alles Gute.