Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.05.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/05/11705/multi.htm


Vor 50 Jahren, am 23. Mai 1949, verkündete der Parlamentarische Rat die vorläufige Verfassung für die neue Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz. Mit seinem Inkrafttreten am 24. Mai 1949 entstand die Bundesrepublik. Das Grundgesetz hat die Grundlage geschaffen für den Aufbau eines demokratischen Verfassungsstaates. Strikte Gewaltenteilung, Föderalismus und parlamentarische Demokratie haben ein stabiles und leistungsfähiges Regierungssystem in der neuen Republik ermöglicht.

Mit Fleiß und Opferbereitschaft haben die Deutschen, die Frauen vor allem, den Wiederaufbau des zerstörten Landes angepackt. Staat und Regierung hatten eine Verfassung bekommen, wie es in Deutschland noch keine gegeben hatte: eine Verfassung, in der die Grundrechte des Menschen als unabänderliches, unmittelbar bindendes Recht festgeschrieben sind. Zumindest der westliche Teil unseres Landes hatte eine "zweite Chance" bekommen.

In der Folge konnte die Bundesrepublik diese Chance nutzen und eine Entwicklung in Frieden, Demokratie und Wohlstand nehmen, wie sie kein deutsches Staatswesen der Neuzeit erreicht hatte. An ihrem 50. Geburtstag erfährt diese Republik, mit dem Umzug der Verfassungsorgane von Bonn nach Berlin, nochmals einen Einschnitt: das "Provisorium" des deutschen Nachkriegsstaates ist endgültig vorüber. Schon seit dem Beitritt der neuen Bundesländer am 3. Oktober 1990 hat die Verfassung nichts "Vorläufiges" mehr.

Der Umzug nach Berlin steht für Kontinuität, aber auch für Wandel und Erneuerung.

Gerade an einem solchen Jubiläumstag ist es nützlich daran zu erinnern, worauf dieser Erfolg dieser deutschen Entwicklung in der Bundesrepublik gegründet war.

Obwohl die neue Republik auf die besten und nobelsten deutschen und europäischen Verfassungstraditionen gestellt war, war die Skepsis am Anfang groß, ob sich im "Weststaat" eine dauerhaft stabile Demokratie würde entfalten können. Daß die Geschichte der Bundesrepublik trotz des sich verschärfenden Kalten Krieges eine Geschichte der "ausgebliebenen Katastrophe" werden konnte, ist der konsequenten Eingliederung in die westliche Wertegemeinschaft und der mit Nachdruck betriebenen europäischen Integration zu verdanken.

Bei der gesellschaftlichen Entwicklung wurde das Prinzip der "Teilhabe" zum Schlüssel des Erfolges. Die Partizipation der Menschen, die den Wohlstand erwirtschaften, am Haben und Sagen in der Gesellschaft, wurde zum Garanten des sozialen Friedens und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Die Politik der Versöhnung mit dem Osten, wie sie von Willy Brandt und seinen Nachfolgern betrieben wurde, schaffte schließlich eine wichtige Grundlage für die demokratische Revolution im östlichen Teil Deutschlands.

Die Menschen in der DDR hatten nicht die Chance einer demokratischen und wirtschaftlich gedeihlichen Entwicklung bekommen. Sie vor allem waren es, die den Preis für die deutsche Kriegsschuld zahlen mußten - bis sie in bewundernswerter Zivilcourage 1989 das Zwangssystem des Einparteienstaates abschüttelten. So wurde es möglich, die staatliche Einheit Deutschlands wiederherzustellen.

Die Freude darüber, der Stolz auf unsere Verfassung, auf die gelebte Demokratie, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungen unserer Bürger und Bürgerinnen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß unser Land im 51. Jahr der Bundesrepublik und im 11. Jahr der deutschen Einheit vor schwierigen Herausforderungen steht.

Im Osten Deutschlands ist noch längst nicht zusammengewachsen,"was zusammengehört". Die im Grundgesetz geforderte Herstellung gleicher Lebensverhältnisse, die feste Verankerung der Demokratie, die gerechte Verteilung wirtschaftlicher Chancen wird noch auf lange Zeit all unsere Anstrengungen erfordern.

Das Prinzip der Teilhabe und der sozialen Sicherung ist durch die Globalisierung der Produktion und die dramatische Veränderung der Arbeitsmärkte ernstlich unter Druck geraten. Ohne gewaltige Anstrengungen zur Innovation kann die Arbeitslosigkeit nicht wirksam bekämpft werden, könnte die Arbeitslosigkeit zum politischen Sprengstoff für unser Gemeinwesen werden.

Schließlich stellen uns die Entwicklung auf unserem eigenen Kontinent und Deutschlands gewachsene internationale Verantwortung vor neue, schmerzliche Entscheidungen und große Aufgaben. Das hat nicht erst die Krise im Kosovo gezeigt. Gemeinsam mit seinen europäischen und atlantischen Partnern steht Deutschland heute unmittelbar in der Pflicht, Stabilität, Menschenrechte und friedliche Entwicklung in ganz Europa zu fördern und zu gewährleisten. Dazu gehören ökonomische Hilfen, Sicherheitspartnerschaften und Konzepte für eine wirksame Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationsproblematik.

Unsere Verfassung bietet auch für die Zukunft eine tragfähige Grundlage, die gesellschaftlichen Veränderungen erfolgreich zu gestalten.

50 Jahre Bundesrepublik sind trotz mancher Höhen und Tiefen "eine Erfolgsstory", sind Anlaß zu Stolz und Zuversicht.