Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.10.2001

Untertitel: Auch meine politischen Gespräche hier in Indien werden noch ganz unter dem Eindruck dessen stehen, was am 11. September in den Vereinigten Staaten von Amerika geschehen ist.
Anrede: Sehr geehrter Herr Goenka, sehr geehrter Herr Amin, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/61149/multi.htm


Zunächst ganz herzlichen Dank für den sehr großzügigen und außerordentlich freundlichen Empfang.

Auch meine politischen Gespräche hier in Indien werden noch ganz unter dem Eindruck dessen stehen, was am 11. September in den Vereinigten Staaten von Amerika geschehen ist. Die internationale Gemeinschaft, aber auch viele Notenbanken, haben auf die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch den Terrorismus in großer Klarheit und Übereinstimmung außerordentlich angemessen reagiert.

Die Auseinandersetzung, die die internationale Allianz und die gesamte zivilisierte Welt gegen den internationalen Terrorismus führen und gewinnen muss, wird nicht nur mit den klassischen Mitteln der Außen- und Sicherheitspolitik ausgetragen. Es ist eine Auseinandersetzung, die ein vielfaches Engagement aller erfordert. Das ist eben nicht nur eine Verantwortung der Politik. Es ist auch eine Verantwortung, der sich die Kultur, die Wirtschaft, die gesellschaftlichen Eliten, aber auch die verschiedenen Glaubensgemeinschaften und unsere Gesellschaften insgesamt zu stellen haben. Alle werden ihre Beiträge zur Bekämpfung des Terrorismus leisten müssen.

Die terroristischen Anschläge vom 11. September waren nicht nur gegen die Symbole des internationalen Finanzsystems gerichtet. Der Terrorismus sollte die gesamte Weltwirtschaft treffen und auf diese Weise Investoren und Aktionäre, also die Akteure der freien Wirtschaft, verunsichern.

Nicht nur in Amerika, Deutschland und Europa, sondern überall auf der Welt haben die Menschen solidarisch und besonnen auf die menschenverachtenden Anschläge reagiert. Dabei verkennen wir nicht, dass bei Verbrauchern, Arbeitnehmern und auch Investoren Besorgnisse und Verunsicherungen zu spüren sind. Sie alle machen sich Sorgen um die internationale Stabilität, die innere und äußere Sicherheit und natürlich um die weitere wirtschaftliche Entwicklung, die auch die Verhältnisse in unseren Ländern betreffen.

Diese Sorgen sind nur zu verständlich. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass aus diesen Sorgen Ängste erwachsen, die uns lähmen, unsere Volkswirtschaften schwächen und unsere Zukunft blockieren. Mehr denn je kommt es daher jetzt darauf an, die internationale Zusammenarbeit nicht zurückzunehmen, sondern sie entschlossen zu fördern und zu vertiefen. Damit schaffen wir neues Vertrauen und legen auch die Basis für eine nachhaltige Erholung der Weltwirtschaft.

In dieser Situation wird es noch wichtiger, dass wir bei der neuen Runde der Welthandelskonferenz in Doha zu echten Fortschritten bei der umfassenden Gestaltung des freien Welthandels kommen. Freier Handel beschränkt sich nicht auf den Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Freier Handel ist viel mehr. Gerade heute müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der Handel sich über die Jahrhunderte zu einer weltumspannenden Kulturtechnik entwickelt hat. Freien Handel zu fördern, das heißt auch, Menschen aus unterschiedlichen Regionen, Kulturen und Religionsgemeinschaften einander näherkommen zu lassen, und zwar mit dem Ziel, dass alle an einem gerechten Austausch teilhaben und von ihm profitieren können.

In der Weiterentwicklung des internationalen Regelwerks für freien Welthandel manifestiert sich nicht ein Kampf zwischen Kulturen, sondern der Kampf um eine Kultur des Austausches, der Begegnung, der Toleranz und der Offenheit. Dieses großartige Land Indien steht für diese Wertvorstellungen in besonderer Weise. Dies deutlich zu machen, ist eine wesentliche Aufgabe der nächsten Wirtschaftsrunde. Es ist aber auch eine wesentliche Aufgabe solcher Treffen wie der, die wir hier miteinander haben.

Freier Handel allein kann jedoch die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an Frieden, Entwicklung und Wohlstand nicht sicherstellen. Dazu bedarf es auch und vor allem einer angemessenen politischen Rahmenordnung. Für uns gehört zu einer solchen internationalen Ordnung der Teilhabe und der Entwicklung neben dem freien Handel auch ganz elementar die Wahrung der Menschenrechte und mehr und mehr auch der Schutz der Umwelt. Wir sind deshalb der festen Überzeugung, dass wir die Diskussionen der Welthandelsrunde um die soziale Dimension und die Folgen für den Schutz unserer Umwelt erweitern müssen.

Natürlich weiß ich um die Sorge - gerade auch hier in Indien - , dass die Europäer damit protektionistischen Tendenzen Vorschub leisten und einen neuen Schutzwall der Industrieländer gegen freien Marktzutritt errichten können. Ich kann Ihnen versichern - das sage ich insbesondere den anwesenden indischen Wirtschaftsführern - , dass Deutschland solchen Tendenzen auch künftig energisch entgegentreten wird.

Deutschland sieht sich in der Verantwortung, dass die Industrieländer substanzielle Zugeständnisse beim Abbau von Handelsbarrieren gegenüber den Entwicklungsländern machen müssen. Wir haben uns bereits mit Erfolg dafür eingesetzt, dass im vergangenen Februar die Europäische Union eine Handelsinitiative verabredet hat, die den ärmsten Entwicklungsländern den vollständig freien Zugang zu den Märkten der Europäischen Union ermöglicht.

Nun müssen wir gemeinsamen in einer neuen Handelsrunde dafür sorgen, dass auch für die anderen Länder substanzielle Handelserleichterungen eingeführt werden. Unsere beiden Regierungen verfolgen dabei in vielen Bereichen durchaus identische Ziele. Dies gilt zum Beispiel für die aus indischer Sicht wichtigen Fragen zur Implementierung der vorherigen Handelsrunde und zum Antidumping.

Ich bin zuversichtlich, dass wir in diesem Sinne einen wirklich konstruktiven Dialog mit unseren Partnern und vor allen Dingen mit Indien, das in dieser Frage eine außerordentlich gewichtige Stimme in der Welt hat, führen werden.

Ich bin sehr erfreut darüber, dass sich die deutsch-indischen Wirtschaftsbeziehungen solide und sehr positiv entwickeln. Auf diesem Fundament, das ja nicht nur ein Fundament wirtschaftlicher Zusammenarbeit ist, sondern das insbesondere auch die kulturelle Dimension einschließt, müssen und können wir aufbauen und den Wirtschaftsaustausch weiter intensivieren. Denn ich bin ganz sicher, das Potenzial für unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit sowohl im Handel als auch bei der industriellen Kooperation und im Bereich der Kooperation der Dienstleistungen ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es ergeben sich unübersehbare Chancen zum Nutzen beider Seiten.

Deshalb werde ich während meines Besuches auch von einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation aus Deutschland begleitet. Der Bundeswirtschaftsminister, der diese Zusammenkunft mit organisiert hat, führt diese Wirtschaftsdelegation. Ich verspreche mir davon, dass wir gemeinsam das große Interesse der deutschen Wirtschaft am Geschäfts- und Handelspartner Indien unterstreichen.

Der IT-Sektor war in den letzten Jahren der dynamischste Wirtschaftsbereich in Indien, und dieser Zukunftssektor spielt auch in den bilateralen Wirtschaftsbeziehungen eine zunehmend größere Rolle.

Ich freue mich deshalb sehr auf die Begegnungen mit deutschen und indischen Unternehmen in Bangalore. In diesem - Sie haben es gesagt - "Silicon Valley" - dieser "Stadt der Zukunft", wie Nehru sie vor Augen hatte - haben sich neben bedeutenden indischen auch große deutsche Software-Unternehmen niedergelassen. Ich bin davon überzeugt, dass sich gerade in diesem Hochtechnologiebereich neue Chancen für eine zukunftsgerichtete Kooperation zwischen deutschen und indischen Unternehmen entwickeln lassen.

Dabei sollte man aber auch die traditionellen Bereiche unserer Zusammenarbeit nicht vergessen. Das, was man völlig zu Unrecht "old economy" im Vergleich zur so-genannten "new economy" nennt, ist richtig betrachtet nicht wirklich "old", sondern es geht um die Durchdringung dieser klassischen Industrie mit den Möglichkeiten und Ergebnissen der "new economy". Deswegen ist die gelegentlich anzutreffende Aufteilung eine, die wir in dieser Form nicht akzeptieren können und nicht akzeptieren sollten. Es geht bei allem Interesse für die "neweconomy" auch und gerade darum, das zu fördern, was man auf dem Gebiet der klassischen industriellen Zusammenarbeit fördern kann.

Im Übrigen gilt: Nur auf der Basis von gleichberechtigter Partnerschaft kann eine erfolgreiche Verbindung dauerhaft gedeihen. Lassen Sie uns deswegen für diese gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Indien und Deutschland gemeinsam arbeiten.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche Veranstaltung hier und heute und, was noch wichtiger ist, eine wirklich gelungene Zusammenarbeit, die durchaus - das ist jedenfalls unser Wunsch - in guten Geschäften zum Nutzen beider Seiten münden kann.