Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 30.10.2001
Untertitel: Trotz aller Herausforderungen und trotz der noch immer viel zu hohen Arbeitslosigkeit: In den neuen Ländern wurde in den vergangenen 11 Jahren Beeindruckendes geleistet.
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. von Brocke, sehr geehrter Herr Prof. Dr. Pohl, sehr geehrter Herr Staatssekretär Elze, sehr geehrte Frau Kuban, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/48/61648/multi.htm
I. Immer wieder stoße ich in der Diskussion mit Vertretern der Medien, aber auch mit Kollegen auf die Auffassung, der Osten stehe auf der Kippe, der Entwicklungsprozess der neuen Länder sei zum Stillstand gekommen, Wachstumsraten und Arbeitsmarktdaten seien schlecht, der Aufbau Ost sei daher gescheitert.
Abgesehen davon, dass derart pauschale Urteile einer differenzierten, realistischen Betrachtung der Dinge im Wege stehen, finde ich, wir sollten endlich mehr die Chancen sehen und nutzen anstatt einen Großteil unserer Energie darauf zu verwenden, nach dem Haar in der Suppe zu suchen.
Trotz aller Herausforderungen und trotz der noch immer viel zu hohen Arbeitslosigkeit: In den neuen Ländern wurde in den vergangenen 11 Jahren Beeindruckendes geleistet. Neue Verkehrs- und Telekommunikationsadern entstanden; ausreichend Wohnraum ist vorhanden; die Umwelt ist sauberer geworden; Konsumgüter aller Art sind keine Mangelware mehr. Es bildet sich allmählich eine moderne, auch international wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur mit einem starken Verarbeitenden Gewerbe heraus.
Die erzielten Fortschritte klein zu reden, nützt niemandem. Nur wenn wir selbst an uns glauben, werden es auch andere tun.
Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, hat in seinem neuen Buch "Zukunft Ost" herausgestellt, dass Veränderung im Kopf beginnt, dass wir einen Bewusstseinswandel in Ostdeutschland brauchen. Westdeutsche Muster dürfen nicht unhinterfragt übernommen werden. Von zentraler Bedeutung sei vielmehr, dass die neuen Länder eigenverantwortlich Zukunftsentwürfe entwickeln, neue Strukturen der Selbstorganisation finden und vorhandenes Potenzial neu bewerten und aktiv nutzen.
Ich stimme Wolfgang Thierse hier voll und ganz zu. Auch ich finde, wir brauchen einen neuen mentalen Aufbruch in den neuen Ländern. Passivität und Pessimismus bringen uns nicht weiter. Es gilt vielmehr, die vorhandenen Fähigkeiten und Potenziale selbstbewusst zu nutzen und die Zukunft aktiv zu gestalten.
II. Die neuen Länder haben hervorragende Potenziale. Die Menschen sind gut ausgebildet und engagiert. Die Infrastruktur ist weit entwickelt. Sie erfahren zudem auch weiterhin eine umfassende gesamtstaatliche Solidarität. Bund und Länder haben im Sommer dieses Jahres den Solidarpakt II verabredet, der mit Finanzmitteln von 306 Mrd. DM im Zeitraum von 2005 - 2019 noch mal so viel Hilfe mobilisiert wie der Solidarpakt I Anfang der 90er Jahre. Mit diesen Mitteln wird es uns gelingen, den "teilungsbedingten Nachholbedarf" abzuarbeiten.
III. Chancen für die neuen Länder ergeben sich auch aus der anstehenden Osterweiterung der Europäischen Union, meinem heutigen Thema. In öffentlichen Diskussionen werden oft einseitig die Risiken in den Vordergrund gestellt. Die Chancen werden außer Acht gelassen. Die Konkurrenz aus den Beitrittsländer erscheint übermächtig. Die eigenen Fähigkeiten und die eigene Wirtschaftskraft werden dagegen klein geredet und scheinen den künftigen Herausforderungen kaum gewachsen zu sein.
Selbstverständlich muss die Politik die in der Bevölkerung anzutreffenden Sorgen und Ängste ernst nehmen und möglichen Risiken entgegenwirken. Unsere Hauptenergien sollten wir jedoch darauf verwenden, die Chancen aus der Osterweiterung selbstbewusst zu nutzen. Wir sollten uns bestmöglich auf den erweiterten Binnenmarkt vorbereiten.
Nach Auffassung von Wolfgang Thierse ist in Ostdeutschland ein Perspektivenwechsel vom "Beitrittsgebiet" hin zu einer "europäischen Verbindungsregion" erforderlich. Ich teile diese Auffassung. Die neuen Länder müssen vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung ein neues Selbstverständnis entwickeln und ihre spezifischen Vorteile in die erweiterte Union einbringen. Die neuen Länder haben in den vergangenen elf Jahren wertvolle Erfahrungen gesammelt, die sie nutzbar machen können. Sie verfügen zudem über erhebliche Vorteile bei Produktivität, Infrastruktur und Innovation.
Nicht zuletzt die Entscheidung von BMW, sein neues Werk in Leipzig anzusiedeln, zeigt, dass die neuen Länder im internationalen Standortwettbewerb - auch gegenüber den osteuropäischen Nachbarstaaten - bestehen können. Mit Leipzig / Halle und Schwerin sind gleich zwei ostdeutsche Regionen unter 250 Bewerbern in die engste Auswahl gekommen.
IV. Lassen Sie mich einige Chancen der deutschen Wirtschaft allgemein und insbesondere der neuen Länder im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung verdeutlichen:
Die EU-Osterweiterung schafft Zugang zu einem über 100 Mio. Menschen größeren Binnenmarkt. Mit den Beitrittskandidaten bestehen bereits jetzt enge wirtschaftliche Verflechtungen: Über Deutschland werden rd. 40 % des Handels der EU mit den Beitrittsländern abgewickelt. Für Deutschland sind die MOE-Staaten nach den USA bereits heute schon der wichtigste Handelspartner außerhalb der EU. Ihr Anteil am deutschen Außenhandel lag 2000 bei knapp 9 % . Die ostdeutschen Unternehmen können in besonderem Maße profitieren. Die Industrie in den neuen Ländern hat sich sei 1990 eine enorme Befähigung beim Eindringen in internationale Exportmärkte erworben, die weitgehend gesättigt waren. Dieses Know-how wird ihr in den mittel- und osteuropäischen Märkten zugute kommen.
Zu mittel- und osteuropäischen Märkten bestehen traditionell gute Lieferbeziehungen und Kontakte.
Die Wirtschaft in den neuen Ländern verfügt über wertvolle Transformationserfahrungen, die für Osteuropa nutzbar gemacht werden können. Chancen ergeben sich z. B. bei der Sanierung von Plattenbauten oder der Braunkohlesanierung.
Der Wachstumsprozess in den Beitrittsländern wird zu erhöhtem Importbedarf vor allem bei Investitionsgütern führen. Hierdurch ergeben sich Chancen vor allem für ostdeutsche Unternehmen in kapitalintensiven Branchen wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der Gummi- und Kunststoffindustrie sowie im Computerbereich.
Aber auch konsumorientierte Branchen wie z. B. die Nahrungsmittelindustrie, die in den neuen Ländern ein besonderes Gewicht hat, werden von Osterweiterung profitieren. In dieser Branche ist häufig die marktnahe Fertigung ein entscheidender Standortfaktor.
Die Versorgung regionaler Absatzmärkte hat hier nach wie vor große Bedeutung.