Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.11.2001

Untertitel: Bundeskanzler Schröder zur Partnerschaft zwischen China und Deutschland
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident der Universität, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/61566/multi.htm


ich danke Ihnen sehr für die Gelegenheit, heute mit Ihnen über die Partnerschaft zwischen Deutschland und China sprechen zu dürfen. Besonders dankbar bin ich dafür, dass ich das an einer so ausgezeichneten und sehr berühmten Universität wie dieser tun darf.

Denn wenn wir von Partnerschaft, ja, der Entwicklung von Freundschaft sprechen, dann kommt es ganz wesentlich darauf an, dass wir das Verständnis füreinander und die Achtung voreinander weiter entwickeln. Wenn wir dies auf der Grundlage ausgeprägter Kenntnis und sorgfältiger Analyse versuchen wollen, dann fällt den jeweiligen akademischen Führungskräften und vor allem den Eliten von morgen, den Eliten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, eine ganz besondere Rolle zu.

Doch beginnen möchte ich mit dem zweiten Teil unseres Themas. Darin heißt es, China und Deutschland seien: "Partner in einer veränderten Welt". Ich denke, diesen Aspekt des rasanten Wandels, der tiefgreifenden Veränderungen in der Welt und in den internationalen Beziehungen kann man gar nicht stark genug betonen.

Dazu gehört ohne Frage die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus. Der Terror vom 11. September war ein barbarisches Verbrechen und ein bis dahin undenkbarer Angriff auf die Grundlagen jeder Zivilisation. Gerade deshalb hat er die Zivilisationen in unserer einen Welt darin bestärkt, näher zusammen zu rücken und sich gemeinsam dieser Bedrohung zu erwehren. Entscheidend wird aber sein, welche langfristige Antwort wir auf die Attentate in den Vereinigten Staaten von Amerika finden.

Die Katastrophe vom 11. September, der Angriff auf alle Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens, bietet also auch eine Chance - eine Chance für die Neugestaltung der internationalen Beziehungen, die Überwindung von Gewalt und Unrecht, Hunger und Unterdrückung in der Welt. Von der Art, wie wir diese Chance nutzen, wird es auch abhängen, welche Art von Veränderung der 11. September wirklich ausgelöst haben wird.

Die Veränderungen, von denen wir hier sprechen und die unsere gegenseitigen Beziehungen prägen, haben aber nicht erst am 11. September begonnen. Zu einem Teil liegt der Anfang dieser Veränderungen in den Umwälzungen des Jahres 1989, der daraus folgenden Auflösung der Machtblöcke und dem Ende des Kalten Krieges. Dieser Wandel hat zwar in erster Linie Europa betroffen, aber seine Auswirkungen sind keineswegs auf Europa beschränkt.

Von der Natur der Sache her haben diese Veränderungen uns die Chance auf ein neues Denken der internationalen Beziehungen eröffnet - ein Denken, das von den wohlverstandenen Interessen der einzelnen Völker und Nationen ausgeht, das aber auf dieser Grundlage zu einer ebenso wohlverstandenen, weil gerechteren Form des Interessenausgleichs führt.

Im Deutschen übrigens - ich will mich schon jetzt bei den Übersetzern entschuldigen, weil das sicher unmöglich zu übertragen sein wird - klingen die Wörter "wohlverstanden" und "Wohlstand" durchaus verwandt. Gemeint ist jedenfalls, dass das Prinzip des "geteilten Wohlstands", der Teilhabe am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand und an den politischen Entscheidungen, eine gute Grundlage für die Entwicklung sein kann.

Wir alle - und damit meine ich nicht nur die Politiker, sondern die maßgeblichen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft - müssen uns heute fragen lassen, ob wir diese Chance für ein besseres Verständnis der Welt nach 1989 wirklich begriffen und vor allem genutzt haben. Das gilt um so mehr für die zweite große Veränderung, die uns alle unmittelbar betrifft und gemeinhin "Globalisierung" genannt wird.

Niemand kann die Beschleunigung der Welt durch die neuen Möglichkeiten weltweiter Produktion und internationaler Markt- und Finanzbeziehungen aufhalten. Aber niemand sollte auch glauben, dass die Kräfte des Weltmarktes von allein für internationale Gerechtigkeit sorgen.

Die Welt der Globalisierung darf keine Welt der "Gewinner" auf der einen und der "Verlierer" auf der anderen Seite sein. Globalisierung und freier Welthandel müssen Entwicklungschancen für alle Völker der Erde bieten. Wir müssen die Menschheitsprobleme - angefangen von regionalen Konflikten über Terrorismus bis hin zu Klimaschutz und Armutsbekämpfung - gemeinsam bewältigen. Gemeinsam, das heißt auch und vor allem: im Rahmen der Vereinten Nationen.

Ich bin der Überzeugung, dass China als bevölkerungsreichstes Land der Erde, als Ständiges Mitglied des Sicherheitsrats und als eine wirklich aufstrebende Wirtschaftsmacht international und regional noch mehr Verantwortung als bisher wird übernehmen müssen.

Ebenso wie China wollen auch wir Deutschen die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen durch Reformen stärken. Dazu gehört, dass der Sicherheitsrat repräsentativer und vor allen Dingen effizienter arbeiten kann. Wir sollten die Chance ergreifen, die breite internationale Koalition gegen den Terror für eine Verbesserung der kooperativen Sicherheitsstrukturen insgesamt zu nutzen.

Im Rahmen der Europäischen Union haben wir eine enge Zusammenarbeit von Polizei und Justiz vereinbart, die ein stabiles Fundament für einen gemeinsamen Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts legen soll. Auch die Staaten des asiatisch-pazifischen Raums haben sich auf ihrem Gipfeltreffen in Shanghai auf eine gemeinsame Erklärung zur Verurteilung des internationalen Terrorismus geeinigt. Dies alles sind gute Ansatzpunkte, ein umfassendes Konzept für Stabilität, Frieden und Entwicklung zu erarbeiten und es vor allen Dingen auch umzusetzen.

Dies sind, grob skizziert, die weltpolitischen Hintergründe und Veränderungen, vor denen es die Partnerschaft zwischen China und Deutschland zu entwickeln gilt. Dabei gehen wir von guten Grundlagen aus.

Im nächsten Jahr feiern wir den 30. Jahrestag der Aufnahme der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China. Die Beziehungen zwischen unseren Staaten gehen jedoch noch ein wenig weiter zurück: Bereits 1861 erfolgte der Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrages zwischen China und Preußen. 1877 wurde die erste chinesische Gesandtschaft in Berlin eröffnet.

Heute verbindet unsere beiden Länder ein Netz von vielfältigen und sehr intensiven Beziehungen in den Bereichen Politik und Wirtschaft, aber auch - das ist mir wichtig - in den Bereichen Wissenschaft, Hochschulen und Kultur.

Diese Beziehungen sind geprägt von gegenseitigem Vertrauen und Verlässlichkeit. So arbeiten Deutschland und China auch auf dem Gebiet der Sicherheit zusammen. Schon im vergangenen Jahr haben wir beispielsweise eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität geschlossen. China ist auch ein wichtiger Partner der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit Deutschlands.

Wir unterstützen die Reformpolitik der chinesischen Regierung durch Projekte zur Förderung der Wirtschaftsreformen, im Bereich des Umweltschutzes, wie auch auf den Gebieten des Wassermanagements und Transportwesens. Auch im Bereich des Umweltschutzes haben Deutschland und China durch die gemeinsame Umweltkonferenz im Dezember letzten Jahres in Peking ein Zeichen für verstärkte multilaterale Zusammenarbeit auf diesem für uns alle so wichtigen Gebiet gesetzt. Wir freuen uns über die Erfolge, die China bei der Eindämmung der Armut erzielt hat.

Eine besonders wichtige Ergänzung der politischen Beziehungen ist der im November 1999 zwischen Ministerpräsident Zhu Rongji und mir vereinbarte Rechtsstaatsdialog. Dialog bedeutet eben nicht einseitige Belehrungen, sondern Dialog bedeutet, ein offenes Gespräch über die Probleme zu führen.

Grundlage für eine dauerhafte Partnerschaft sind gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Interessen - beides setzt gründliche Kenntnis des anderen voraus. Deshalb möchte ich Ihnen einige deutsche Erfahrungen und Sichtweisen vorstellen und hoffe, dann im Gespräch mit Ihnen mehr über China zu lernen.

Ich will zunächst an eines erinnern: Der große deutsche Wissenschaftler und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hat in seinem Werk die Wurzeln der Rationalität hier in China entdeckt. Ich bin kein Philosoph, aber als Politiker weiß ich um die Bedeutung nicht zuletzt der Rationalität. Wer unsere Politik verstehen will, sollte die wesentlichen Gegebenheiten kennen, die sie im Inneren und in ihren Beziehungen nach außen bestimmen.

Ich betone dies, weil es heute, zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, keine klare Trennung von inneren Verhältnissen und Außenpolitik eines Landes mehr gibt. Das ist übrigens eine Entwicklung, die gerade wir Deutschen mit Hoffnung betrachten; wissen wir doch, was ein überbordender Nationalismus ausrichten kann.

Deutschland als exportorientiertes Land ist auf friedlichen Austausch und Ausgleich mit dem Ausland ganz existenziell angewiesen. Wir können und wollen uns nicht gegen andere Länder abschotten.

Das gebieten nicht nur die Interessen einer der größten Volkswirtschaften der Erde, die, wie Sie wissen, über keine nennenswerten eigenen Rohstoffvorkommen verfügt. Nein, Offenheit, das gebietet auch unsere Lage im Herzen Europas: Wir mögen aus Ihrer Sicht - damit haben Sie auch Recht - ein relativ kleines Land sein, aber wir haben neun angrenzende Nachbarn. Wir haben offene Grenzen, aber auch einen hohen Anteil von Zuwanderern in unserer Bevölkerung.

Ich weiß: Deutschlands Ansehen in der Welt, und möglicherweise auch bei Ihnen, beruht zu einem großen Teil darauf, dass es uns in Deutschland nach 1945 gelungen ist, gleichsam aus dem Nichts eine leistungsstarke Wirtschaft zu schaffen, die zu Hause Vertrauen genießt und in der Welt einen guten Namen hat.

Ich bin schon oft gefragt worden, ob dieser Weg Deutschlands ein "Modell" auch für andere Länder sein kann. Ich kann das nicht beantworten, jedenfalls nicht letztlich beantworten, aber ich kann eines sagen: Wir alle haben gute und schlechte Erfahrungen gemacht, bestimmten Modellen nachzueifern. Jedes Land, jede Kultur hat seine eigene Modernität und seinen eigenen Weg, seine Modernität zu entwickeln.

Nun weiß ich sehr wohl, dass das Wort "Weg" in China eine schillernde Geschichte hat. Aber folgender Satz scheint mir doch wichtig: Der Weg, den wir beschreiten, das ist nicht der "ewige Weg". Wir wissen, dass wir uns jederzeit auf das Neue einstellen müssen.

Der Gründer Ihrer Republik, Dr. Sun Yat-sen, hat einmal gesagt: "Die Strömungen der Welt sind gewaltig. Wer ihnen zu folgen versteht, wird prosperieren. Wer sich ihnen entgegensetzt, wird zu Grunde gehen". Diese Aussage ist unverändert aktuell und klingt heute geradezu wie eine gedankliche Vorwegnahme der Modernisierung.

Die Besonderheiten der deutschen Erfolgsgeschichte - die auch eine europäische Erfolgsgeschichte ist - liegen für mich in der segensreichen Verbindung aus zwei Prinzipien: dem Prinzip des Rechtsstaates und dem Prinzip der Teilhabe.

Das Prinzip des Rechtsstaates verleiht dem Einzelnen Sicherheit. Es sagt ihm, dass seine grundlegenden Pflichten und Rechte nicht vom Staat verliehen sind, sondern dass er sie unveräußerlich besitzt und es dem Staat aufgegeben ist, die Rechte des Einzelnen zu wahren und zu schützen.

Das zweite Prinzip ist das der Partizipation. Ich bin überzeugt: Der Erfolg der deutschen Wirtschaft und des deutschen Staatswesens beruht darauf, dass den Menschen, die den wirtschaftlichen Reichtum schaffen, ein gerechter Anteil zukommt - und zwar allen - am Haben und Sagen in der Gesellschaft. Diese gerechte Teilhabe stärkt beides: die Eigenverantwortung der Menschen und den Zusammenhalt des Gemeinwesens.

Zum anderen haben wir lernen müssen, dass Reformen Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration in die Weltwirtschaft sind. Nur wenn wir uns bei Zeiten auf die Veränderungen der Welt einstellen, haben wir eine Chance, die Zukunft selber aktiv und positiv mitzugestalten.

Wir haben diese Erfahrung in Europa gemacht. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass ab 1. Januar 2002 immerhin mehr als 300 Millionen Menschen in der gesamten Eurozone die neuen Eurobanknoten und -münzen verwenden werden, dann mögen Sie die Tragweite der europäischen Integration erkennen. Dies ist ein Ereignis von historischer Bedeutung: für die Europäer selber, aber auch für die Weltwirtschaft insgesamt und damit auch für die europäisch-chinesischen Beziehungen. Durch die Bargeldeinführung wird die internationale Akzeptanz des Euro neue Schubkraft erhalten. Dies kommt der internationalen Finanzstabilität auch in Ihrem Land zugute.

Vor dem Hintergrund dieser eigenen Erfahrungen in Europa wollen wir China ermuntern, die Chancen einer auf gegenseitiges Vertrauen gründenden multilateralen Zusammenarbeit auch in der asiatisch-pazifischen Region noch stärker zu nutzen.

Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Integration und multilaterale Zusammenarbeit führen nicht zum Verlust der eigenen Identität. Im Gegenteil: Ich bin fest überzeugt, dass wir unsere eigene kulturelle Identität als Deutsche oder Chinesen nur wahren können, wenn wir die neuen Herausforderungen annehmen und uns aktiv an der Gestaltung der Globalisierung beteiligen. Deutschland und die Europäische Union begrüßen daher auch den unmittelbar bevorstehenden Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation. Dies ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer von uns angestrebten universellen Geltung des WTO-Regelwerks.

Vor meiner Abreise habe ich mir einen schönen und, wie ich finde, sehr gut zu unserem Thema passenden Satz aus dem Taoismus aufgeschrieben. Dort heißt es: "Die Menschen sollen in einem Dorf leben, das selbst verwaltet ist und gut geschützt, aber so nah an der Außenwelt, dass man die Hunde aus dem Nachbardorf bellen hört".

Was heißt das für unsere Politik? Es kann meines Erachtens nur heißen, dass wir auf Sicherheit und Zusammenarbeit setzen - aber auch auf Freiheit, den freien Zugang zu Informationen und den freien Fluss der Informationen, dass wir auf die unveräußerlichen Rechte eigenverantwortlich handelnder Menschen setzen, aber auch auf Dialog, freie Meinungsäußerung und Kritik - und bei alledem und auf Grundlage all dessen: auf eine Kultur der Begegnung.

Dies betrifft insbesondere die jüngere Generation. Ich freue mich daher besonders, dass bereits heute nahezu 12.000 chinesische Studentinnen und Studenten in Deutschland studieren. Der Deutsche Akademische Austauschdienst und das Goethe-Institut leisten hier einen wichtigen Beitrag. Leider studieren umgekehrt nur etwa 250 bis 300 deutsche Studenten in China. Schon bei meinem letzten Besuch in Peking habe ich gesagt: Mein Wunsch ist, dass sich auch diese Zahl alsbald deutlich erhöht.

Auch der Kulturaustausch und das Erlernen der jeweils anderen Sprache tragen wesentlich dazu bei, dass wir uns besser kennenlernen und als Folge dessen besser verstehen. Die chinesischen Kulturwochen vor zwei Monaten in Berlin waren ein besonders gutes Beispiel für den Dialog der Kulturen.

Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, wie die Welt künftig aussehen wird. Trotz aller technischen Veränderungen wird es auf die Menschen ankommen, die in dieser Welt leben und sie gestalten. Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, als die künftige Führungselite eines wirklich bedeutenden Landes, des bevölkerungsreichsten Landes der Erde, werden diese Zukunft ganz wesentlich mitgestalten.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie die vor Ihnen liegenden schwierigen Aufgaben mit Zuversicht, Weitblick und Mut, aber auch mit Augenmaß bewältigen - zum Wohle Ihres Landes, aber auch zum Wohle der deutsch-chinesischen Partnerschaft.