Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 08.11.2001
Untertitel: Am 8. November 2001 hielt Staatsminister Nida-Rümelin die "Mosse-Lecture" zum Thema "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" an der Humboldt-Universität Berlin.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/68/62668/multi.htm
I."Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" hatte Karl Popper seine polemische Auseinandersetzung mit Platon, Hegel und Marx überschrieben, die er verantwortlich machte für fatale Entwicklungen des politischen Denkens, insbesondere des Marxismus. Die Analysen Poppers haben reichlich Kritik erfahren - wissenschaftliche Kritik und - vor allem von Seiten der Linken - politische, die das Poppersche Verständnis einer offenen Gesellschaft als bourgeoise Ideologie brandmarkte.
Als es spätestens seit 1989 darum ging zu erklären, wie die kommunistischen Regimes des sowjetischen Einflussbereiches so unerwartet kollabieren konnten, reanimierte die westliche intellektuelle Linke den Begriff der Zivilgesellschaft, um das zentrale Versagen der real-sozialistischen Regimes zu charakterisieren. Eine Rehabilitierung Poppers hat es - verständlicherweise, wenn man die Polemiken und wechselseitigen Missverständnisse in Erinnerung hat - nicht gegeben. Ich war damals der Überzeugung, dass Popper hier Unrecht geschehen sei, und ich bin heute noch dieser Auffassung. Die traditionelle Opposition rechten politischen Denkens gegen die Substanz einer freiheitlichen Gesellschaft hatte ein merkwürdiges Pendant im linken politischen Spektrum.
Diese Opposition hatte und hat ihre stärksten Momente in der Kritik am Markt als Ordnungsmodell, aber sie übersieht den unaufgebbaren Kern des politischen und philosophischen Liberalismus: den Respekt vor jeder einzelnen Person, vor der je individuell und möglichst autonom gewählten Lebensform. Die offene Gesellschaft, gleiches Wahlrecht, demokratische Kontrolle politischer Macht, Verpflichtung zum sozialen Ausgleich und Rechtstaatlichkeit scheinen mir direkte Konsequenzen dieser normativen Grundorientierung zu sein. Der freie, von Gewinn- und Konsuminteressen gestaltete Markt ist nicht die Essenz einer offenen Gesellschaft, sondern kann zu seiner Bedrohung werden. Nur ein politisch kontrollierter freier Markt ist mit dem Respekt vor der je individuellen menschlichen Würde vereinbar. Die Kritik der offenen Gesellschaft geht über die Kritik des Marktes weit hinaus, und die Verteidigung der offenen Gesellschaft mündet nicht in eine Apologie des entfesselten globalen Marktes.
Der Terror des 11. September ist ein Anschlag auf die offene Gesellschaft. Aber die offene Gesellschaft darf nicht mit dem american way of life, darf auch nicht mit dem globalen Markt, ja nicht einmal mit christlich-abendländischer Kultur identifiziert werden. Die offene Gesellschaft ist die Grundlage einer zivilen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und in ihrem Mittelpunkt steht ein humanistisches Ethos des Respekts und der Toleranz. Der 11. September ist kein Menetekel des Konfliktes zwischen Erster und Dritter Welt, zwischen Christentum und Islam, zwischen Westen und Osten. Der 11. September hat nicht nur unendliches Leid für die Opfer und ihre Angehörigen gebracht, sondern er hat deutlich werden lassen, über welche materiellen, emotionalen und politischen Ressourcen diejenigen Gruppierungen verfügen, die aus einer islamitisch verbrämten Ideologie heraus die offene Gesellschaft hassen. Hier geht es mir allerdings nicht um eine Interpretation des 11. September und seiner Folgen - so wichtig dies ist, da die Interpretation auch die Optionen der politischen Praxis entscheidend beeinflussen wird. Vielmehr möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen zu klären, was den normativen Kern der offenen Gesellschaft ausmacht.
II. Meine These ist, dass eine spezifische Form von Toleranz, die ich als "Toleranz als Respekt" bezeichnen möchte, den normativen Kern einer offenen Gesellschaft bildet. Bevor ich diese These näher begründe, möchte ich fünf Strukturelemente der offenen Gesellschaft benennen.
Das erste Strukturelement ist das des normativen Universalismus. Es gibt allgemeingültige ethische Prinzipien, die verbindlich sind, und die mit einer Vielfalt kultureller Prägungen vereinbar sind. Nur auf der Grundlage universalistischer ethischer Regeln kann eine offene Weltgesellschaft entstehen.
Das zweite Strukturelement ist das des Individualismus, der beinhaltet, dass Personen nicht erst qua Gruppenzugehörigkeit zählen. Die Rede von "kollektiven Identitäten" bzw."kollektivem Handeln" hat nur einen metaphorischen Stellenwert. Individualismus ist zunächst ein erkenntnistheoretisches Prinzip, hat aber auch normative Konsequenzen: Die Legitimität kollektiven und institutionellen Handelns wird ausschließlich von einzelnen Individuen hergeleitet.
Das dritte Strukturelement einer offenen Gesellschaft ist eine begründungsorientierte politische Praxis. Eine Politik, die Gründe anführt, muss von ihrer Intention her den partikularen Standpunkt verlassen. Strategische Interessen - ob nun persönlich oder parteipolitisch motiviert - sind für sich genommen ungeeignet, um gute Gründe zu bestimmen. Wer genuine Gründe benennt, legt sich auf Werturteile fest und vertritt diese gegenüber kritischen Einwänden. Diese Einwände werden nicht dadurch richtig, dass sie Mehrheiten gewinnen, und sie werden nicht dadurch falsch, dass sie sich in der politischen Meinungsbildung nicht behaupten. Die Demokratie bietet ein Verfahren der Entscheidungsfindung im Rahmen der Verfassung, der Gesetze und der Institutionen an, das Handeln auch bei Dissens erlaubt und den gesellschaftlichen Frieden bewahrt. Abstimmungen entscheiden jedoch keine Wahrheitsfragen.
Das vierte Strukturelement hängt mit dem dritten eng zusammen, es ist die für eine offene Gesellschaft unverzichtbare politische und kulturelle Öffentlichkeit. Begründungen richten sich grundsätzlich an alle, die Zweifel vorbringen oder vorbringen könnten. Der politische Diskurs in einer offenen Gesellschaft ist öffentlich und muss entsprechend von einer Kultur des öffentlichen Argumentierens getragen werden. Ohne kulturelle Gemeinsamkeiten, die diese Öffentlichkeit erst ermöglichen - und dazu gehört zum Beispiel ein gemeinsames Medium der Verständigung - ist eine offene Gesellschaft nicht zu realisieren. Ohne den begleitenden Diskurs und ohne die Bereitschaft, sich auf das Sachargument auch dann einzulassen, wenn es den persönlichen oder Parteiinteressen zuwiderläuft, würde das Spannungsverhältnis von objektivem Begründungsanspruch einerseits und pragmatischer Entscheidungsfindung andererseits unerträglich werden. Ohne ein Ethos der Begründung zerbricht das normative Fundament einer demokratischen und zivilen Gesellschaft.
Das fünfte Strukturelement ist das der Fallibilität und damit der Kontrolle politischer Programme und institutioneller Arrangements. Sowohl die Wissenschaft als auch die Demokratie beruhen auf der Institutionalisierung von Kritik. In der Wissenschaft ermöglicht Kritik neue Erkenntnisse auf dem Wege der Prüfung von Hypothesen; in einer offenen Gesellschaft ermöglicht sie die Zähmung von Machtansprüchen des Staates und der Religion - auch zu diesem Punkt lohnt es sich, Popper erneut zu lesen.
Ich will es bei der Benennung dieser fünf Strukturelemente einer offenen Gesellschaft bewenden lassen, als Hinweis auf den weiteren Zusammenhang mögen sie vielleicht genügen. Ich interessiere mich im Folgenden für einen zentralen Wert oder - präziser - für diejenige Einstellung, die für eine offene Gesellschaft konstitutiv ist. Es ist eine Einstellung, die menschliche Individuen anderen menschlichen Individuen gegenüber haben bzw. haben sollten, und ohne deren weite Verbreitung und tiefe Verankerung in den je individuellen Lebensformen und in der gesellschaftlichen Alltagspraxis keines der genannten Strukturelemente einer offenen Gesellschaft auf Dauer Bestand haben kann.
III. Stellen wir uns vor, zwei kulturelle Gemeinschaften stünden sich gegenüber und seien weit divergierender Auffassung darüber, was das richtige Leben ausmache, in welcher Weise Institutionen verfasst sein sollten, was gerecht und ungerecht sei. Jedes Mitglied der beiden Gesellschaften ist davon überzeugt, dass die eigenen Auffassungen zutreffen und die abweichenden falsch sind. Dabei geht es ihnen nicht um eine Frage der richtigen Erkenntnis, sondern um eine Frage des richtigen Lebens. Mehr noch: Die Auffassungsunterschiede sind so grundlegend, dass die Mitglieder der einen Gruppe jeweils glauben, dass es auch für die Mitglieder der anderen Gruppe am besten wäre, wenn sie davon überzeugt werden könnten, dass sie irrten. Wenn man sich den Konflikt noch als dadurch verschärft vorstellt, dass beide Gruppen davon überzeugt sind, in göttlichem Auftrage zu handeln, so beschreibt diese Situation in etwa die Ausgangslage des 30jährigen Krieges im Europa des 17. Jahrhunderts. Im Selbstverständnis der Beteiligten ging es nicht um persönliche oder ökonomische Interessen. Es ging um die Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung, um die Durchsetzung von Lebens- und Gesellschaftsformen, die als Ausfluss religiöser Erkenntnis gedacht waren. Auch nachdem weite Landstriche entvölkert, die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur weitgehend zerstört und eine allgemeine Entmenschlichung um sich gegriffen hatte, blieb die Ausgangslage unverändert: Beide Gruppen waren weiterhin von der Richtigkeit der eigenen Auffassungen überzeugt, was zeigt, dass es ihnen um genuin existenzielle Fragen ging.
Die einzige Option einer Befriedung lag darin, diese existenziellen Differenzen auszuhalten und den Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe soweit mit Respekt zu begegnen, dass eine Koexistenz möglich wurde. Wohlgemerkt: Diese Form der Toleranz ebnete die religiös geprägten kulturellen und kognitiven Unterschiede nicht ein. Man verbaut sich das Verständnis für die kaum zu überschätzende Rolle einer bis dato nicht gekannten Grundhaltung, wenn man sie aus dem Abstand einiger Jahrhunderte zur "modernen" Toleranz des mangelnden Interesses verkleinert. Die Toleranz, die die Beendigung des 30jährigen Krieges möglich machte, domestizierte nicht die tiefempfundenen religiösen Gefühle und löste auch nicht die Bindungen und Loyalitäten. Sie trieb vielmehr einen Keil zwischen die kulturellen und religiösen Prägungen auf der einen Seite und die Praxis der Rücksichtslosigkeit im Umgang mit Andersgläubigen auf der anderen Seite. Die normative Revolution bestand nicht darin, das bis dato existenziell Bedeutsame zu relativieren, sondern darin, Regeln des respektvollen Umgangs zu befolgen. Am Beginn der Entwicklung zur offenen Gesellschaft stand eine Haltung des Respekts, die tiefe kulturelle Differenzen auszuhalten gestattete.
IV. Bleiben wir einen Moment bei den europäischen Lösungen des 17. Jahrhunderts. Einer der bedeutendsten Theoretiker der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte ist Thomas Hobbes. Er beginnt - vor dem Hintergrund der religiös-politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit - mit einem in dunklen Tönen gemalten Bild des status naturalis. Der Naturzustand zeichnet sich dadurch aus, dass die Individuen versuchen ihre Interessen durchzusetzen. Aus Hobbes' Sicht ist der Bürgerkrieg die unausweichliche Konsequenz dieser schrankenlosen Konkurrenz. Der Übergang in den status civilis wird allein durch die Einsetzung eines starken Souveräns ermöglicht. Für Hobbes hat der Leviathan nur ein Interesse: Die Vermeidung des Bürgerkriegs, denn dieser würde seine eigene Position gefährden. Im Interesse der Stabilität wird der Souverän gewisse Freiräume eröffnen, für den Markt, aber auch religiöse und kulturelle. Insofern ist Toleranz durchaus in der Hobbesschen Denkweise angelegt. Es handelt sich jedoch um eine Form der Toleranz, die auf Indifferenz basiert: Der Souverän ist indifferent gegenüber den moralischen, kulturellen und religiösen Haltungen der Individuen, solange sie privat bleiben, und die Individuen orientieren sich lediglich an Eigennutz und Selbsterhaltung.
Der Hobbessche Ansatz ist attraktiv, weil er auf sparsamen, zumindest prima facie realistischen Annahmen beruht. Aber in der Sparsamkeit liegt auch das Problem: Der Souverän gewährt Räume der Toleranz nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sondern nur unter dem Gesichtspunkt des eigenen Machterhalts. Das heißt aber: Toleranz bei Hobbes ist nicht genuin, da sie nur unter dem Vorbehalt der politischen Stabilität gewährt wird. Der Hobbessche Souverän kann existenzielle Bindungen nicht anerkennen. Für ein Ethos der Toleranz und der Autonomie lässt die Denkweise Hobbes' keinen Raum.
Die Hobbessche Lösung der Bürgerkriegs- und Toleranzproblematik gilt als "rechte" Variante politischen Denkens. Eine andere Variante erfreut sich in der zeitgenössischen Diskussion größerer Beliebtheit. Politisch gesehen ist sie als "links" und philosophisch gesehen als "relativistisch" einzustufen. Wie Hobbes setzen Anhänger dieser Version beim Problem der Gewährleistung des inneren und äußeren Friedens an. Sie konstatieren ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und universellen, objektiven normativen Ansprüchen. Normative Wahrheitsansprüche gefährden ihnen zu Folge das friedliche Zusammenleben in einer Demokratie. Dieselben Bedenken werden für die Interaktion zwischen Staaten und Gesellschaften geltend gemacht.
Vertreter der "links-relativistischen" Variante wie Richard Rorty lösen das von ihnen unterstellte Spannungsverhältnis zu Ungunsten des normativen Universalismus auf. Der dahinter stehende Gedankengang ist, knapp skizziert, folgender: Es sei offenkundig, dass es ganz verschiedene Interpretationen des moralisch Richtigen und Falschen gebe. Dies zeige etwa ein Vergleich von Kulturen und historischen Epochen. Wenn jemand diese Relativität des Moralischen akzeptiere, werde er in normativen Fragen Toleranz gegenüber abweichenden Positionen walten lassen. Toleranz sei die Kardinaltugend der Demokratie. Es gebe einen Primat der Demokratie vor universellen normativen Prinzipien, dem man am besten dadurch gerecht werde, dass man den Glauben an diese Prinzipien aufgebe - insofern: Toleranz als Indifferenz. Auf die Frage, ob er von der Richtigkeit eines ( beliebigen ) moralischen Urteils überzeigt sei, kann der Relativist im Grunde nur mit einem Achselzucken antworten.
Eine Kritik der relativistischen Position kann an mehreren Punkten ansetzen. Man könnte zeigen, dass der normative Relativismus mit Inkohärenzen behaftet ist - ich werde diese Linie hier nicht verfolgen. Geltend machen werde ich aber, dass die für das friedliche Zusammenleben in einer Demokratie notwendige Anerkennung von Differenzen - um die es Rorty und anderen "Linksrelativisten" primär geht - durchaus mit universellen normativen Ansprüchen vereinbar ist.
V. Es gibt in der politischen Philosophie einen Gegenpol zum Verständnis von Toleranz als Indifferenz. Diese Denkrichtung setzt im Kern darauf, dass es eine Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger gibt, die durch einheitliche Wertorientierungen zusammengehalten wird, dass es so etwas wie einen Gemeinwillen gibt. Die Individuen mögen qua Privatpersonen ihre Differenzen austragen, aber nicht als Bürger eines politischen Gemeinwesens. Vorausgesetzt wird also, dass sich die Bürger an einem gemeinsamen Interesse orientieren. Der Staat tritt unter Umständen hinzu, aber er unterstützt nur einen tieferen normativen Konsens.
Man findet diese philosophische Richtung in der Antike, beispielsweise bei Platon und Aristoteles, die sich - auf unterschiedliche Weise - am Ideal der Polis orientieren. In der Neuzeit verdankt diese Sichtweise vor allem Rousseau wesentliche Impulse. Auch viele zeitgenössische Vorschläge speisen sich aus dieser Tradition, z. B. MacIntyres After Virtue.
Toleranz ist hier gewissermaßen Ausfluss eines tieferen normativen Konsenses. Möglich ist sie nur vor dem Hintergrund eines hohen Maßes an geteilten Einstellungen. Deswegen kann man diese Position als "empathische Toleranz" bezeichnen: Sie setzt voraus, dass wir uns weitgehend in das je andere Individuum hineinversetzen.
Ein zentrales Problem dieser Strömung - hier würde ich sogar mit Relativisten wie Rorty übereinstimmen - besteht darin, dass er auf die Einebnung von Differenzen zielt, auf kulturelle Homogenität und Assimilation. Konventionelle Konzeptionen der Nationalstaatsbildung sind zum Beispiel genau darauf ausgerichtet.
Dass aus der Perspektive dieses Ansatzes Toleranz nur um den Preis eines hohen Maßes an Übereinstimmung zu haben ist, lässt ihn auch mit Blick auf die derzeitige weltpolitische Situation wenig attraktiv erscheinen. Es gibt weder im globalen Maßstab noch im Inneren einer multikulturellen Gesellschaft den Gemeinwillen im umfassenden Sinn, den die Konzeption voraussetzt.
Ähnlich wie die Richtung, die Toleranz als Indifferenz versteht ( bzw. missversteht ) , umfasst der an Empathie orientierte Ansatz politisch gesehen ein breites Spektrum. Konservative Varianten zielen auf Einebnung und Assimilation, zeitgenössische linksromantische Versionen dagegen auf ein Nebeneinander möglichst authentischer Kulturen, impliciter auf gesellschaftliche Segregation unter den Vorzeichen des Multikulturalismus. Beide Richtungen unterliegen aber demselben Irrtum, indem sie davon ausgehen, dass das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft von einer kollektiven Identität abhängig sei. Auch die linksromantische Variante hat keine Antwort auf die Frage der Toleranz, jedenfalls dann nicht, wenn die Frage auf den toleranten Umgang zwischen kulturell homogenen communities zielt. Was verbindet diese communities in einer Weise, die es ihren Mitgliedern erlaubt, über kulturelle Grenzen hinweg tolerant miteinander umzugehen?
VI. Die politischen Debatten - implizit in den Parlamenten und den Medien, expliziter in der politischen Philosophie - orientieren sich weitgehend an diesen gegensätzlichen Polen: Toleranz als Indifferenz versus Toleranz im empathischen Sinne. Toleranz als Indifferenz verlangt, dass sich das, was ich als existenzielle Prägungen bezeichnet habe, auflösen oder zumindest privatisieren lässt. Das Projekt der Säkularisierung würde damit radikalisiert, um am Ende lediglich domestizierte Wirtschaftssubjekte übrig zu lassen, die sich auf dem Markt als Anbieter und Nachfrager begegnen. Ich bezweifle, dass das wünschenswert ist, sicher scheint mir: Diese Vision ist unrealistisch. Das Gefühl, ein sinnvolles Leben zu leben, verlangt mehr als die leidenschaftslose Verfolgung privater Interessen. Das Vakuum, das eine auf diese Weise befriedete Gesellschaft hinterließe, würde gefüllt, und fanatische Gruppierungen bekämen Auftrieb. Mit anderen Worten: Selbst unter der kontrafaktischen Annahme, dass sich die Vision einer befriedeten Gesellschaft auf der Basis von Toleranz als Indifferenz realisieren ließe, wäre das Ergebnis instabil. Dies spricht aber gegen die politische Vision selbst. Und auch die zweite politische Vision, die auf einem Verständnis von Toleranz auf der Basis von Empathie gründet, kann, wie wir gesehen haben, in beiden Varianten - der konventionellen der homogenen Gesellschaft und der zeitgenössischen "multikulturalistisch-romantischen" nicht überzeugen.
Es gibt jedoch ein drittes Verständnis von Toleranz als normativer Grundhaltung in einer offenen Gesellschaft. Die notwendige Grundhaltung ist die der Toleranz aus Respekt. Sie ermöglicht erst eine stabile offene und zivile Gesellschaft, daher kann man auch von einem zivilgesellschaftlichen Verständnis von Toleranz sprechen. Die Zivilgesellschaft gründet auf Kooperation, wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe ( vgl. Demokratie als Kooperation, Frankfurt am Main, 1999 ) . Kooperation verlangt, wenn sie langfristig über Differenzen hinweg stabil sein soll, dass alle die Interessen und kulturellen Prägungen anderer respektieren. Ein gewisses Maß an Empathie und interkultureller Verständigung ist wünschenswert, aber Toleranz als Respekt verlangt weniger Mitgefühl als die Bereitschaft, sich auf diejenigen Regeln zu verständigen, die für die Beteiligten über alle Differenzen der Interessen und der kulturellen Prägung hinweg akzeptabel sind. Bildlich gesprochen kann man sich hier - mit John Rawls - einen overlapping consensus vorstellen, der den verschiedenen kulturellen Gruppierungen gemeinsam ist. Die Verständigung auf universell gültigen Grundregeln aus einer Haltung der Toleranz als Respekt heraus stellt für die existenziellen Prägungen eine Herausforderung dar. Diese Prägungen, die ja tief in den privaten Lebensformen und alltäglichen Kooperations- und Verständigungsformen verankert sind, müssen mit jenen universellen Regeln vereinbar sein, und wo dies nicht der Fall ist, geht es um eine entsprechende wechselseitige Anpassung. Eine vollständige Harmonie wird sich da nie herstellen lassen. Im Verständnis der Toleranz als Respekt ist ein Spannungsverhältnis angelegt, das aber ausgehalten werden muss, um eine offene und zivile Weltgesellschaft zu ermöglichen.
Die Grundidee besteht darin, dass sich aus den in vielerlei Hinsicht differierenden moralischen Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger ein gemeinsamer Kern rekonstruieren lässt. Aus der Systematisierung ergeben sich minimale, aber allgemein gültige normative Prinzipien. Dieser Ansatz ist nicht zuletzt deswegen so attraktiv, weil er unterhalb der Schwelle allgemeiner Prinzipien Raum lässt für Lösungen spezifischer moralischer Fragen. Die Konzeption erlaubt daher die Anerkennung von Differenzen. Universelle normative Ansprüche sind mit einer Pluralität von Lebensformen vereinbar - entgegen der Sichtweise postmoderner Relativisten wie Rorty und auch entgegen der Auffassung, die ich als "empathische Toleranz" charakterisiert habe.
Der normative Minimalkonsens, wie ich ihn verstehe, beruht auf einem Ethos des Respekts - Respekt für den je individuellen Lebensentwurf, für die Autonomie und Integrität anderer Personen, für ihre existenziellen Bindungen. Dieser Kern trägt die abstrakten universellen Prinzipien. Menschenrechte, die ein zentrales Paradigma bilden, und andere normative Prinzipien, die hinzutreten, bauen auf der fundamentalen Haltung des Respekts auf. Die Haltung der Toleranz aus Respekt ist die Basis einer human verfassten Gesellschaft.