Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 16.11.2001
Untertitel: Die heutige Entscheidung über die Bereitstellung von Bundeswehr-Einheiten im Kampf gegen den Terrorismus stellt sicher eine Zäsur dar. Erstmals zwingt uns die internationale Situation, zwingt uns die Kriegserklärung durch den Terrorismus dazu, Bundeswehr-Einheiten für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes bereitzustellen.
Anrede: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/26/62926/multi.htm
Die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan sind ermutigende Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
In weiten Teilen des Landes sind die Menschen aus dem Würgegriff des menschenverachtenden Talibanregimes befreit worden. Die Terroristen des Netzwerkes von Osama Bin Laden sind nun auch in Afghanistan weitgehend isoliert und in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
Durch die militärischen Maßnahmen ist der Weg frei geworden für die humanitäre Versorgung der Not leidenden afghanischen Bevölkerung. Gleichzeitig kann und muss jetzt der Prozess einer dauerhaften Stabilisierung des Landes beginnen. Die Lage erlaubt und erfordert es, nun rasch mit Gesprächen zu beginnen, die eine Regierungsbildung unter Einschluss aller afghanischen Bevölkerungsgruppen ermöglichen sollen. Ich begrüße es daher nachdrücklich, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, die Vertreter der verschiedenen Fraktionen und ethnischen Gruppen an einen Tisch gebeten hat. Die innere Einigung der Afghanen wird Voraussetzung für eine wirksame Hilfe beim Wiederaufbau und bei der Stabilisierung des Landes sein.
Deutschland wird sich an dieser Hilfe substanziell beteiligen; denn wir sind als Teil der Antiterrorkoalition diese Hilfe nicht nur dem afghanischen Volk, nein wir sind sie unserer eigenen Glaubwürdigkeit im Kampf gegen den Terror schuldig.
Uns sollte gleichwohl bewusst sein, dass die Erfolge, die wir erzielt haben, nur ein Etappenziel sind. Die Befriedung Afghanistans, der Beginn eines Stabilisierungsprozesses, an dessen Ende die Rückkehr Afghanistans in die Völkergemeinschaft stehen muss, das wären Ergebnisse, auf die wir im Kampf gegen den internationalen Terror wirksam aufbauen können. Das Ende dieses Kampfes wären sie allerdings nicht.
Der bisherige Verlauf dieser Auseinandersetzung zeigt uns auch, dass es richtig und wichtig war, auf eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Terrorismus zu setzen. Dabei war es, wie ich meine, richtig, den militärischen Aspekt dieser Auseinandersetzung nicht auszublenden. Wir haben stets betont, dass wir nicht allein und schon gar nicht ausschließlich auf militärische Maßnahmen setzen. Aber es gibt Situationen, in denen eine von allen gewollte politische Lösung militärisch vorbereitet, erzwungen und schließlich auch durchgesetzt werden muss. Wer die Fernsehbilder von den feiernden Menschen in Kabul nach dem Abzug der Taliban gesehen hat - ich denke hier vor allen Dingen an die Bilder der Frauen, die sich endlich wieder frei auf den Straßen begegnen dürfen - , dem sollte es nicht schwer fallen, das Ergebnis der Militärschläge im Sinne der Menschen dort zu bewerten.
Ich denke, ich spreche im Namen des ganzen Hauses, wenn ich zum Ausdruck bringe, wie erleichtert wir alle darüber sind, dass sich die Mitarbeiter von Shelter Now wieder in Freiheit befinden.
Aber machen wir uns keine Illusionen: Der Kampf gegen den Terror wird noch lange dauern und wird uns einen langen Atem abverlangen. Schnelle Erfolge sind keineswegs garantiert. Doch ist der Kampf zu gewinnen und wir werden ihn gewinnen, wenn wir alle Mittel, die notwendig sind, aufeinander abgestimmt haben, aber eben auch konsequent einsetzen.
Das betrifft zunächst die politisch-diplomatischen Mittel. Hier ist mit der Bildung einer internationalen Antiterrorkoalition eine gute Grundlage gelegt worden. Ich selbst habe in den vergangenen Wochen viele Gespräche mit zahlreichen Staats- und Regierungschefs geführt. Auch erwähne ich hier ausdrücklich die intensiven Bemühungen des Bundesaußenministers, gemeinsam mit unseren europäischen und amerikanischen Partnern den Friedensprozess im Nahen Osten wieder in Gang zu bringen.
Die Außenpolitik dieser Regierungskoalition ist seit unserem Amtsantritt darauf gerichtet, durch Herstellung ökonomischer, sozialer und materieller Sicherheit, durch Förderung der Rechtsstaatlichkeit und regionaler Stabilitätsbündnisse, durch Krisenprävention und Friedenssicherung zur Stabilität in der Welt beizutragen.
Wo es nötig und für uns objektiv möglich und vertretbar war, haben wir uns auch mit militärischen Mitteln an Einsätzen der Staatengemeinschaft beteiligt, wie wir das zum Beispiel auf dem Balkan tun. Wir werden dies auch in Zukunft fortsetzen. Niemals haben wir dabei den Einsatz der Bundeswehr ohne begleitendes, nachhaltiges Engagement auf politischem, ökonomischem und humanitärem Gebiet beschlossen.
Nach diesem Selbstverständnis handeln wir auch heute im Kampf gegen den Terrorismus. Auch in der Auseinandersetzung um Afghanistan hat unsere Hilfe für die Menschen in der Krisenregion hohe Priorität.
100 Millionen DM haben wir bereits für die humanitäre Hilfe bereitgestellt, um die Bevölkerung vor dem drohenden Wintereinbruch wirksam zu unterstützen. Weitere 160 Millionen DM haben wir für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt. Dank der militärischen Erfolge gegen die Taliban kann diese Hilfe jetzt dort, wo sie sehr dringend gebraucht wird, so wirksam ankommen, wie es nötig ist.
Wir haben außerdem sehr zielstrebig sowohl die finanziellen wie auch die polizeilichen Maßnahmen gegen den Terrorismus verstärkt. Es hat erste Fahndungserfolge und Festnahmen von Verdächtigen aus dem Umfeld des Terrornetzes von Bin Laden gegeben. Bis heute sind fast 200 Konten gesperrt worden, bei denen der Verdacht besteht, dass sie zu Transaktionen für den Terrorismus benutzt wurden. Die Zusammenarbeit der in- und ausländischen Nachrichtendienste ist schon innerhalb kürzester Zeit verbessert worden. Auch das sind wichtige Fortschritte. Aber ich betone es noch einmal: Der Kampf gegen den Terror und die terroristischen Netzwerke steht erst am Anfang.
Der Deutsche Bundestag hat heute Vormittag über den Antrag der Bundesregierung zur Bereitstellung von Bundeswehreinheiten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu beschließen. In Verbindung damit habe ich eine Abstimmung gemäß Art. 68 des Grundgesetzes beantragt. Ich möchte Ihnen erläutern, was mich bewogen hat, diese Vertrauensfrage zu stellen.
Es geht, kurz gesagt, um die Verlässlichkeit unserer Politik, um Verlässlichkeit gegenüber den Bürgern, gegenüber unseren Freunden in Europa und gegenüber unseren internationalen Partnern.
Die heutige Entscheidung über die Bereitstellung von Bundeswehreinheiten im Kampf gegen den Terrorismus stellt sicher eine Zäsur dar. Erstmals zwingt uns die internationale Situation, zwingt uns die Kriegserklärung durch den Terrorismus dazu, Bundeswehreinheiten für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes bereitzustellen. Für eine Entscheidung von solcher Tragweite, auch für daraus vielleicht noch folgende Beschlussfassungen des Deutschen Bundestages ist es nach meiner festen Überzeugung unabdingbar, dass sich der Bundeskanzler und die Bundesregierung auf eine Mehrheit in der sie tragenden Koalition stützen können.
Wir Deutschen können der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus nicht ausweichen und wir wollen das auch nicht. Der Deutsche Bundestag hat das nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er für die Solidarität mit den Vereinigten Staaten ausdrücklich auch "die Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten" beschlossen hat.
Die Bundesregierung hat nun in der vergangenen Woche nach einer entsprechenden Anforderung der Vereinigten Staaten den deutschen Solidarbeitrag und die Bereitstellung deutscher Streitkräfte konkretisiert. Über diesen Antrag ist heute Vormittag abzustimmen. Die Entscheidungen, die für die Bereitstellung deutscher Streitkräfte zu treffen sind, nimmt niemand auf die leichte Schulter - auch ich nicht. Aber sie sind notwendig und deshalb müssen sie getroffen werden.
Wir erfüllen damit die an uns gerichteten Erwartungen unserer Partner und wir leisten das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr noch: Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität zurückgewonnen. Es hat damit aber auch neue Pflichten übernommen, an die uns die Verbündeten erinnern. Wir haben kein Recht, darüber Klage zu führen. Wir sollten vielmehr damit zufrieden sein, dass wir seit den epochalen Veränderungen 1989 gleichberechtigte Partner in der Staatengemeinschaft sind.
Ich habe bewusst die Vertrauensfrage nach Art. 68 des Grundgesetzes und den Antrag über die Bereitstellung deutscher Streitkräfte für den Kampf gegen den Terrorismus miteinander verknüpft. Denn der Bundeskanzler kann seinem Amt und seiner Verantwortung für das Gemeinwohl nur dann entsprechen, wenn seine Person und sein Programm das Vertrauen und die Zustimmung der ihn tragenden Mehrheit des Hohen Hauses finden.
Sosehr ich die Bereitschaft der Oppositionsfraktionen begrüße, den Bereitstellungsbeschluss als solchen mitzutragen, so deutlich wird doch am absehbaren Nein der Opposition zur Abstimmung in der Vertrauensfrage, dass eine solche Parlamentsmehrheit eben nicht in dem notwendigen Umfang belastbar ist - meine Damen und Herren, Sie sollten zuhören - und - das füge ich hinzu - auch nicht sein kann. Dies ist doch völlig klar.
Wenn Sie von der CDU / CSU in der Lage wären, zumindest so lange zu zuhören, bis ich meinen Satz beendet habe, dann würden Sie verstehen, was ich meine.
Intellektuell sollten Sie dazu in der Lage sein.
Ich erkenne ausdrücklich an - dies finde ich nicht zuletzt aus außenpolitischen und internationalen Gründen richtig - , dass das Nein der Oppositionsfraktionen in der Vertrauensfrage kein Nein zum Beschluss über die Bereitstellung deutscher Streitkräfte ist.
Es ist wichtig, dass dies zum Ausdruck gebracht wird. Denn damit ist klar, dass auch die wichtigen Oppositionsfraktionen in diesem Hause die Entscheidung als solche mittragen, wenn sie auch daran gehindert sind - das ist ein ganz normaler parlamentarischer Vorgang - , in der Vertrauensfrage mit Ja zu stimmen. Sind Sie jetzt zufrieden, oder nicht?
Meine Damen und Herren, der Antrag nach Art. 68 des Grundgesetzes - es ist mir wichtig, das zu betonen - ist in unserer Demokratie ein verfassungsrechtlich und übrigens auch verfahrenstechnisch eindeutig geregelter Vorgang im Verhältnis zwischen Bundeskanzler und Parlament. Das gilt ausdrücklich auch für die Verbindung der Vertrauensfrage mit der Abstimmung über eine Sachfrage.
So meint der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein, bei dem ich übrigens in Göttingen Staatsrecht, nicht aber Politik gelernt habe und der Politik auch leider auch nicht von mir gelernt hat, wie Sie wohl alle wissen: Die Vertrauensfrage - ich zitiere - erlaubt es dem Bundeskanzler, die Belastbarkeit der ihn tragenden parlamentarischen Mehrheit gerade auch im Zusammenhang mit einer konkreten Sach entscheidung zu testen. Soweit Hans Hugo Klein, der Mitglied Ihrer Fraktion, Verfassungsrichter und - wie gesagt - ein bedeutender Staatsrechtslehrer war, was man an seinen Schülern sehen kann.
Insofern, meine Damen und Herren, habe ich kein Verständnis dafür, dass der eine oder andere im Vorfeld von einer Einschränkung der Gewissensfreiheit durch ebendieses Verfahren gesprochen hat.
Unser Grundgesetz ist eine vorbildliche demokratische Verfassung. Wenn diese Verfassung das heute gewählte Verfahren ausdrücklich vorsieht, dann doch wohl deshalb, weil eben kein Widerspruch zwischen einer Abstimmung nach Art. 68 des Grundgesetzes und der ebenso verbürgten und ebenso wichtigen Gewissensfreiheit besteht.
Meine Damen und Herren, genau in diesem Sinne bitte ich um das Vertrauen des Deutschen Bundestages, um Vertrauen in Vernunft und Verlässlichkeit meiner Politik und um Vertrauen in die weitere Arbeit dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Quelle: Plenarprotokoll 14/202 des Deutschen Bundestages vom 16. 11. 2001