Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 26.11.2001

Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin plädierte in seinem Vortrag zum "Europäischen Jahr der Sprachen 2001" - auf der Internationalen Konferenz der Gesellschaft für deutsche Sprache in Brüssel - für Mehrsprachigkeit.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/87/63687/multi.htm


Staatsminister Nida-Rümelin plädierte in seinem Vortrag zum "Europäischen Jahr der Sprachen 2001" - auf der Internationalen Konferenz der Gesellschaft für deutsche Sprache in Brüssel - für Mehrsprachigkeit. In letzter Zeit ist viel von einer Krise der deutschen Sprache die Rede - und wo es um die Bedeutung des Deutschen im vielsprachigen Europa geht, spürt man manchmal gar so etwas wie eine Untergangsstimmung. > Denglisch < ist eins der Schreckworte, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Vom Deutschen bleibt noch das > D < , vielleicht noch das > e < übrig; ansonsten aber wird es vollständig von einer fremden Sprache okkupiert.

Ich denke, dass diese Vorstellung von einem Verlust der sprachlichen Identität nicht zufällig gerade jetzt erneut aufkommt, da man die Vereinheitlichung des europäischen Wirtschaftsraumes durch die Einführung einer einheitlichen Währung beschlossen hat. Die Etablierung des Euro steht ja nun unmittelbar bevor. Und sicher ist, dass sich mit der Einführung neuer Münzen und Scheine eine Veränderung auch des Bewusstseins derer vollziehen wird, die mit dem neuen Geld umgehen. Das ist natürlich beabsichtigt. Aber zugleich drängt sich ein alter Topos auf, der bei den Sprachhistorikern immer wieder eine große Rolle gespielt hat: dass die Verständigung zwischen den Nationen vor allem den wirtschaftlichen Interessen folgt und man fremde Sprachen vor allem lernen soll, um den Handel voranzutreiben. Nach diesem Denkmuster wäre die Sprache primär ökonomischen Zwecken und Zwängen unterworfen. Und so ist es, wo dieser Topos noch seine Gültigkeit bewahrt hat, eben kein Zufall, wenn heute einmal mehr die Chancen eines einheitlichen Wirtschaftsraumes zugleich als Bedrohung der Nationalsprache wahrgenommen wird.

Auch das, was gemeinhin in aller Verkürzung > Globalisierung < genannt wird, ruft ähnliche Schreckensszenarien auf: Verschaltung der weltweit gespannten Datennetze zum Medium einer einheitlichen Weltkommunikation; Verarmung der Weltkultur; vor allem aber: Vereinheitlichung des weltweiten Wirtschaftsraumes bei gleichzeitiger Verkümmerung lokaler Kultur und Sprache.

Wenn ich das alles bisher nur > Vorstellungen < und > Schreckensszenarien < genannt habe, dann möchte ich damit keineswegs behaupten, das seien bloße Phantastereien. Tatsächlich können jene, die eine Krise des Deutschen im mehrsprachigen Europa oder in der globalisierten Welt behaupten, ihre These untermauern. Ich greife einfach ein paar heraus: Die Goethe-Institute beklagen in fast allen Ländern einen Mangel an Schülern, die Deutsch lernen wollen; das Interesse nimmt gegenüber dem Englischen oder dem Spanischen rapide ab. Auf wissenschaftlichen Konferenzen wird zumeist Englisch gesprochen, wissenschaftliche Zeitschriften werden zusehends vom Englischen dominiert. Auch deutsche Autorinnen und Autoren sprechen im Ausland mit ihrem Publikum kaum noch in ihrer eigenen Sprache, sondern bedienen sich des Englischen. Schließlich gab es ja den Versuch in der Europäischen Union, Deutsch als Arbeitssprache zu streichen - so als wäre schon ausgemacht, dass sie der Effizienz des neuen Wirtschafts- und Kulturraumes zu opfern sei.

Angesichts solcher Entwicklungen scheint es verständlich, eine restriktivere Sprachpolitik zu fordern, die in der Lage ist, den Wortschatz und die kulturelle Bedeutung der deutschen Sprache vor den mächtigen Einflüssen anderer Sprachen zu schützen. Bemerkenswerterweise hört man diese Forderung nicht in Polen, sondern auch in England. Und in Frankreich hat man schon 1994 mit der Einführung der Gesetze zur Reinhaltung der Sprache reagiert.

Ich lehne solche restriktiven Maßnahmen ab und möchte das im Folgenden begründen. Dabei will ich nicht damit argumentieren, dass die Bundesregierung im Bereich der Sprache keine gesetzgeberischen, also keine regelnden Kompetenzen hat und lediglich für den Bereich der Behördensprache des Bundes Bestimmungen treffen kann. Vor gut drei Jahren, am 14. Juli 1998, hat das Bundesverfassungsgericht diese Beschränkung noch einmal ausdrücklich bestätigt.

Ich möchte auch nicht auf das Argument zurückgreifen, dass politische Maßnahmen wahrscheinlich gar nicht in der Lage sind, ein derart komplexes, lebendiges System, wie es eine Sprache - und ihr Verhältnis zu anderen Sprachen - darstellt, mittels Sprachgesetzgebung zu steuern oder gar mit Hilfe einer Sprachpolizei zu kontrollieren. Ich bin da skeptisch - und diese Skepsis wird von vielen Sprachwissenschaftlern geteilt.

Ich möchte heute einen anderen Weg einschlagen, um das Problem, um das es eigentlich geht, besser in den Blick zu bekommen. Dafür werde ich an die Entstehungsgeschichte der Sprachpolitik erinnern und von dort aus eine sprach- und bildungspolitische Perspektive skizzieren, in die die analytische Sprachphilosophie des 20. Jahrhundert integriert ist. Ich bin überzeugt, dass nur mit einer modernen Perspektive die Sicherung der kulturellen Bedeutung einer Nationalsprache normativ begründet werden kann, wobei gleichzeitig der Mehrsprachigkeit ein wichtiger Stellenwert einzuräumen ist.

Sprachpolitik im engeren Sinn ist in Europa mit all ihren Institutionen erst dort entstanden, wo die Idee der Nation entwickelt wurde. Die Grundüberzeugung war, dass Sprachraum und Nation deckungsgleich sind - oder, wo sie es noch nicht sind, deckungsgleich zu sein haben. Wobei sich etwa Frankreich zuerst durch die Revolution als neue Nation hergestellt hat, um dann sprachpolitische Vereinheitlichungen zu betreiben. In Deutschland dagegen war man längst dabei, eine Sprachpolitik zu entwerfen, lange bevor von "Nation" im modernen Sinne die Rede sein konnte. Wir haben im Falle Deutschlands ja eher den umgekehrten Weg: denn im 18. Jahrhundert sollte die Entwicklung der deutschen Sprache den Nationalstaat vorbereiten. Das war in dieser Zeit verbunden mit einer Ablehnung des Lateinischen als Wissenschafts- und Kirchensprache und mit einem zuweilen starken Ressentiment gegen das Französische als Sprache der höfischen Kultur.

Das hat seit der Aufklärung auch zu romantisch-nationalistischen Übertreibungen geführt. Und nicht zuletzt zu erstaunlichen Sprachblüten. So hat Johann Heinrich Campe vorgeschlagen, statt > parfümieren < > durchduften < zu sagen. Oder statt > Mumie < > Dörrleiche < . Wenn auch heute noch Goethe und Schiller am historischen Scheitelpunkt dieser Entwicklung platziert werden, wo, wie der Sprachhistoriker Hans Eggers es formuliert hat, > die befreite Sprache auf die Höhe der Klassik geführt < wurde, so darf man sich das Deutsch der Weimarer Klassiker aber gerade nicht als starres Korsett vorstellen. Vor allem Goethe und Schiller haben Campes Aktivitäten gern verspottet. So zum Beispiel in ihren Xenien. Wenn es dort unter dem Titel > Der Purist < heißt: > Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern; / Nun, sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht <- so plädieren sie damit für einen ebenso selbstbewussten wie entspannten Umgang auch mit dem Französischen.

Ich erinnere daran aus zwei Gründen: Zum einen, um klar herauszustellen, dass die Idee der nationalen Emanzipation und die Sprachpolitik unmittelbar zusammenhängen. Zum anderen aber erinnere ich daran, um zu verdeutlichen, dass auch dieser Zusammenhang von weitsichtigen Denkern und Autoren dieser Zeit nicht als Restriktion, sondern als ein lebendiger Prozess verstanden wurde.

Dennoch ist die Trias von Nation-Sprache-Staat das gesamte 19. Jahrhundert wirkungsmächtig geblieben. Und sie ist als sprachpolitische Grundlage auch das 20. Jahrhundert hindurch nicht wirklich abgelöst worden. Wobei allerdings das, was historisch ja seine Notwendigkeit hatte, zunehmend auch seine kulturellen Kosten produziert hat. Denn wo die Nationalsprache derart mit der nationalen Emanzipation verknüpft ist, scheinen Veränderungen des Sprachkorpus oder des kulturellen Status einer Sprache sofort die Identität der Nation in Mitleidenschaft zu ziehen. Anders gesagt: Wenn Nation, Sprache und Staat der Idee nach so eng miteinander in Verbindung gebracht werden, lässt sich zwar durchaus so etwas wie eine nationale Identität herstellen. Aber alles, was diese Verbindung wieder lockert, lässt sich vornehmlich nur als Krise dieser Identität, wenn nicht sogar als Katastrophe wahrnehmen.

Und das heißt: Man konnte und man kann mit dieser Trias als Grundlage der Sprachpolitik weder auf die Entwicklung der Sprachen noch auf die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen angemessen reagieren. Denn ganz gleich, ob Europäisierung oder gar Globalisierung - beides muss vor diesem Hintergrund eher als Bedrohung verstanden werden. Die Chancen einer kulturellen Öffnung werden verdeckt.

Unter dem normativen Druck des Faktischen gibt es eine stetige Anpassung - aber diese ist begleitet von einem schlechten Gewissen, ja einem geheimen Groll, der sich von Zeit zu Zeit in öffentlichen Debatten entlädt. Um aber offener und zugleich selbstbewusster mit dem Prozess der kulturellen Öffnung umzugehen, brauchen wir eine sprachpolitische Orientierung, die sich nicht länger an der Trias von Nation, Sprache und Staat orientiert.

Mehrsprachigkeit scheint mir der Schlüssel zu sein, sie gehört ins Zentrum sprachpolitischer Bemühungen. Denn im Begriff der Mehrsprachigkeit ist ja immer schon ein Miteinander impliziert, eine Bereitschaft zur kommunikativen Kooperation. Mehrsprachigkeit fördert, die Sensibilisierung für die Wahrnehmung des Zusammenspiels der Sprachen. Und wo Mehrsprachigkeit praktiziert wird, wird zugleich die kulturelle Offenheit der Sprachteilnehmer gefördert. Damit wird überhaupt erst die Grundlage dafür geschaffen, eine eigene Identität in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Kulturen zu definieren. Erst durch diese Art der Identitätsfindung, also durch kommunikative Kooperation und interkulturelle Balancierung kann die kulturelle Bedeutung einer Nationalsprache selbstbewusst gesichert werden.

Sensibilisierung für das Zusammenspiel der Sprachen ( 1. These ) , kulturelle Offenheit ( 2. These ) , interkulturelle Identitätsfindung ( 3. These ) als Grundlage der kulturellen Bedeutung der jeweiligen Nationalsprache ( 4. These ) - dafür steht die Orientierung an Mehrsprachigkeit.

Die Sprache ist über Jahrhunderte hinweg primär verstanden worden als Mittel der Repräsentation der äußeren Welt - wir sprechen über Sachverhalte und Dinge, und dazu benötigen wir sprachliche Mittel. Wir teilen mit, wir informieren. Wir haben Gedanken, und in einer sprachlichen Gestalt bringen wir diese Gedanken zum Ausdruck. Es ist ein merkwürdiges Phänomen der Geistesgeschichte, der Philosophiegeschichte speziell, dass der Handlungscharakter der Sprache demgegenüber eine relativ späte Entdeckung ist. Die Emanzipationsbestrebungen der Nationalstaaten und vor allem die in Deutschland dann in die Katastrophe führenden Ansprüche auf eine europäische Hegemonie haben an dieser Verspätung einen entscheidenden Anteil.

Gerade in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts wird der Handlungscharakter der Sprache philosophisch begründet. Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle und John Langshaw Austin sind da als die entscheidenden Namen zu nennen - und nicht zuletzt der von mir besonders geschätzte H. Paul Grice, der eine intentionalistische Semantik initiiert hat, die ein vertieftes Verständnis von Sprache ermöglicht.

Ich kann das hier natürlich nur andeuten, wie das Verständnis aussieht, das sich mit diesen Begründungen durchsetzt. Wichtig ist folgendes: Die gesprochene Sprache ist, um Wittgenstein zu zitieren, eine Lebensform. Vielleicht sollte man das > ist < streichen. Aber es ist noch charakteristischer, wenn man das > ist < einfach so lässt, weil es eine Identitätsbehauptung anzeigt. Die Sprache bringt jeweils eine Lebensform zum Ausdruck, in der sie aber zugleich eingebettet ist. Und das ist im umfassenden Sinn zu verstehen - nicht als individuelle, sondern als Lebensform einer Sprachgemeinschaft. Die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke ist in dieser Sprache allerdings nur unvollständig zu charakterisieren. Wollte man eine Vollständigkeit erreichen, dann wäre die Sprache ja unendlich redundant. Deshalb ergibt sich die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke erst aus ihrem Gebrauch. Um noch mal Wittgenstein zu zitieren: Sie ergibt sich aus dem, was wir damit tun, welche Handlungen wir vollziehen. Und zu den Handlungen kann auch eine Mitteilung gehören, denn auch das Mitteilen ist eine Form der Handlung. Dadurch erhellt sich der Satz: > Die Sprache ist das Tor zur jeweiligen Kultur. < Und es wird verständlich, dass aus einer Sprache in die andere nicht ohne Verlust übersetzt werden kann, weil die Lebensformen nicht identisch sind.

Das mag jetzt etwas abstrakt erscheinen, doch bildet es die Grundlage für ganz konkrete sprach- und bildungspolitische Orientierungen, von denen gleich die Rede sein wird.

Deutlich ist hier zumindest: Wo Sprache derart verstanden wird und wo man sie darüber hinaus - wie ich es in der Auseinandersetzung mit der intentionalistischen Semantik versucht habe - als kooperative Institution begreift, dort erst lassen sich die vorhin formulierten vier Ansprüche miteinander vermitteln:

Sprache und Sprachvermittlung werden als Zusammenspiel begriffen ( 1. These ) ; gefördert wird die kulturelle Offenheit, weil man Sprache als Tor zur jeweiligen Kultur versteht ( 2. These ) ; erst das Erlernen der anderen Sprache ermöglicht deshalb den Zugang zu anderer kultureller Identität ( 3. These ) ; und erst von dort aus kann der Zusammenhang und Zusammenhalt in der eigenen Sprachgemeinschaft über die Differenz beobachtet werden ( 4. These ) .

Mehrsprachigkeit bedeutet also gerade nicht die Preisgabe der Erstsprache. Und auch nicht die Einrichtung einer verbindlichen Einheitssprache. Wo Mehrsprachigkeit bedeutet, dass man über das Lernen und das Praktizieren anderer Sprachen ein neues Selbstbewusstsein für die eigene Sprache erwirbt - und damit auch das Selbstbewusstsein, die eigene Sprache zu erhalten und zu fördern.

Ganz konkret kann man mit Bezug auf die Erstsprache, also in unserem Fall mit Bezug auf die deutsche Sprache, einige Vorschläge formulieren:

So sollte man von der Wahlfreiheit an den Oberstufen Gymnasien in einer Hinsicht abrücken und Deutsch verpflichtend als Abiturprüfungsfach etablieren. Das schränkt zwar die Wahlmöglichkeiten ein - aber ich halte dies für notwendig. Mündliche und schriftliche Ausdrucksfähigkeit hat im Deutschen einen hohen Stellenwert. Während des ganzen Berufslebens, vielleicht nicht bei jeder beruflichen Tätigkeit, aber immerhin bei einem großen Teil der beruflichen Tätigkeiten, ist es unabdingbar, dass man seine Gedanken halbwegs verständlich, gut gegliedert in freiem mündlichen Vortrag und in unterschiedlichen schriftlichen Formen vermitteln kann. Und wenn ich > halbwegs < sage, dann heißt das, dass wir in dieser Hinsicht schon eine Menge versäumt und damit auch eine Menge aufzuholen haben. An den Schulen wird das viel zu wenig geübt. Und auch an den Universitäten herrscht da ein alarmierender Mangel.

Ziel muss sein, sich innerhalb der eigenen Sprache und mit der eigenen Sprache spielerisch bewegen zu können, die Ausdrucksformen wechseln und den jeweiligen Kontexten anpassen zu können oder diese Kontexte auch kompetent in Frage stellen zu können. Nun zielt dieser Vorschlag allerdings nicht auf Drill. Es geht gar nicht um das Auswendiglernen des rhetorischen Fachvokabulars. Aber selbstverständlich geht es um das fortgesetzte Training der Grammatik, der Rechtschreibung und der Ausdrucksfähigkeit. Das alles gehört mit zur Voraussetzung, andere Kulturen kennen zu lernen, indem man durch spielerische Anverwandlungen ihre Sprachen lernt. Und es gehört nicht zuletzt mit zur Voraussetzung für einen entspannten und selbstbewussten Umgang mit Fremdwörtern, auch mit den vielgeschmähten Anglizismen.

Und damit bin ich an dem Punkt, wo es um die Etablierung und Institutionalisierung der Mehrsprachigkeit geht. Zuerst noch einige Bemerkungen zu der Sprache, die im Schreckwort > Denglisch < so eine übergroße Macht über das Deutsche gewinnt. Tatsächlich hat sich das Englische zunehmend zu einer lingua franca entwickelt, wie es früher etwa das Lateinische gewesen ist. Diese Entwicklung bedeutet aber keinen Verfall, auch wenn sie fraglos zu Verarmungen führen kann, die ja nicht zuletzt das Englische selbst betreffen. Aber statt von einer Verfallsform zu reden, gilt es, die Notwendigkeit einer Sprache herauszustreichen, die eine grundsätzliche Verständigung zulässt, ganz gleich, wo man sich befindet. Wie gesagt, es geht um eine grundsätzliche Verständigung, die weder die Verständigung innerhalb der jeweiligen Erstsprache noch das Erlernen weiterer Sprachen verhindern soll. Aber internationale Diskurse wie sie über bestimmte Fragen der Naturwissenschaften oder der Philosophie geführt werden, können auf die Verwendung des Englischen heute nicht mehr verzichten. Hier geht es um die Notwendigkeit internationaler Kooperation. Deshalb sage ich ganz deutlich: Wir versündigen uns an den Zukunftschancen nachwachsender Generationen, wenn wir eine Sprachpolitik und Bildungspolitik betreiben, die weismachen will, es ginge auch ohne eine solche lingua franca.

Ebenso deutlich ist aber herauszustreichen: Das Einüben und Praktizieren des Englischen führt noch nicht zu der Mehrsprachigkeit, wie ich sie oben als zentralen Orientierungspunkt der Sprachpolitik entworfen habe. Denn eine lingua franca vereinigt ja erst einmal nur die verschiedenen Kulturen, um sie einen Diskurs führen zu lassen. Wo aber die Sprache als Tor zur jeweiligen Kultur verstanden wird, da ist klar: Mehrsprachigkeit heißt, mehrere Sprachen zu lernen. Und Lernen wiederum heißt nicht: einfach zuhause zu bleiben und Grammatiken zu pauken. Es heißt vielmehr, die andere Sprache in ihrem jeweiligen Sprachraum zu erleben und zu praktizieren, um das feine kulturelle Netzwerk zu verstehen, das durch die Sprache geknüpft wird. Es geht darum, sich einfühlen zu können und über diese Einfühlung sich selbst wahrnehmen zu können.

Auch das lässt sich in konkrete Vorschläge übersetzen: So sollte es zur normalen Schulbiographie gehören, zusammenhängend einige Monate - möglichst ein ganzes Jahr - im europäischen Ausland gelebt und gelernt zu haben. Die Idee, ganze Schulklassen für ein Jahr in ein anderes europäisches Land zu verpflanzen, halte ich dabei für außerordentlich spannend. Und das sollte so früh wie möglich passieren. Neurowissenschaftler wissen ebenso wie Kinderpsychologen, dass die Kinder in jungen Jahren auf eine geradezu wunderbare Weise in der Lage sind, Mehrsprachigkeit einzuüben und als Lebensform zu internalisieren. Deshalb sollte es möglich sein, den Kindern noch vor ihrem 12. Geburtstag spielerisch den Umgang mit und in anderen Sprachen anzugewöhnen.

Daraus ergeben sich vier Minimalziele, bei denen Mehrsprachigkeit im Zentrum stellt:

1. Deutsch in schriftlichem und mündlichem Ausdruck auf hohem Niveau;

2. Englisch als Mindeststandard der internationalen Verständigung; schließlich

3. eine zusätzliche europäische Sprache; und das alles

4. so früh wie möglich im Laufe der Schulbiographie.

Das sind, wie gesagt, Minimalziele. Und es ließen sich bestimmt noch mehrere Wünsche und Forderungen formulieren. Doch wenn man Konsens zumindest über dieses Minimum erzielen und sie angemessen in die Schulbiographien integrieren kann, wäre das ein großer Fortschritt, von dem aus dann weitere Schritte möglich wären.

Ich möchte aber dabei nicht stehen bleiben. Ich kann dabei auch deshalb nicht stehen bleiben, weil ja, wie Sie wissen, die Sprachpolitik und Bildungspolitik gar nicht in den Händen des Staatsministers für Kultur liegt und ich deshalb ohnehin erst einmal nur Vorschläge formulieren kann. Definitiver kann ich mich indes äußern, wo es um die Ausrichtung der Kulturpolitik geht. Und die ist von dem, was ich soeben entwickelt habe, keineswegs getrennt zu betrachten, sondern muss letztlich an denselben Grundsätzen ausgerichtet sein: Sensibilisierung für das Zusammenspiel der Sprachen, kulturelle Offenheit und interkulturelle Identität als Grundlage für die Sicherung des Eigenen.

Die Aufgabe der Bundeskulturstiftung, die es ab dem Jahr 2002 geben wird - die genauen Balancierungen zwischen Bund und Ländern müssen dabei erst noch gefunden werden - , orientiert sich ebenfalls am Modell der kulturellen Kooperation über Grenzen hinweg. Wir sind dabei, Schwerpunktprogramme auszuarbeiten, die helfen sollen, zum Beispiel im Nahen und Mittleren Osten die kulturelle Dimension von Konflikten mit künstlerischen Mitteln deutlich zu machen. Zugleich sollen sie uns einen Einblick ermöglichen in die jeweiligen kulturellen Verfasstheiten. Denn wir müssen auch die Kunst und die Kultur als Medium nutzen, wenn wir wissen wollen, was den Ausschlag gibt etwa für die Eskalation von Konflikten und natürlich auch für die Möglichkeiten ihrer Beilegung.

Das vollzieht genau das noch einmal nach, was ich vorhin als Paradigmenwechsel vorgeschlagen habe: Weg von der eng national definierten Kulturförderung, hin zu einer Förderung des Umgangs mit Kulturen. Denn vor dem europäischen Hintergrund können wir Kulturpolitik nicht mehr nur im nationalen Rahmen betreiben.

Das bedeutet mitnichten Kulturrelativismus, der ja in postmodernen Zusammenhängen gern empfohlen wird. Vielmehr müssen eigene Werte auch normativ begründet und damit vermittelbar gemacht werden. Gerade bei den Menschenrechten muss die Gegenstrategie eines interkulturellen Dialogs ansetzen, der auf Verständigung und Begründung setzt.

Zur Grundlage dieses Dialogs gehört die Mehrsprachigkeit. Denn sie garantiert jene erweiterte Sprachkompetenz, die notwendig ist, um diesen Dialog überhaupt zu führen. Nur mit ihr kann die Politik der Verantwortung gerecht werden, die sie gegenüber den nachwachsenden Generationen hat - in einer Welt, die gegenwärtig von einer Dynamik der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Vernetzung geprägt ist und es ist nicht abzusehen, dass diese Dynamik in naher Zukunft gebrochen würde.