Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 27.11.2001

Untertitel: Ich freue mich, Sie in Deutschland und hier auf dem Petersberg begrüßen zu können. Die Bundesregierung hat der Bitte der Vereinten Nationen gern entsprochen, dieses Treffen in Deutschland abzuhalten.
Anrede: Sehr geehrte Vertreter des afghanischen Volkes, Herr Brahimi, Herr Vendrell, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/63629/multi.htm


ich freue mich, Sie in Deutschland und hier auf dem Petersberg begrüßen zu können. Die Bundesregierung hat der Bitte der Vereinten Nationen gern entsprochen, dieses Treffen in Deutschland abzuhalten. Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um Ihnen für die kommenden Tage einen positiven Rahmen für Ihre Verhandlungen zur Verfügung zu stellen.

Ich begrüße besonders herzlich die Vertreter der wichtigen politischen Kräfte Afghanistans. Sie zuerst und vor allem tragen eine große Verantwortung für die Zukunft Ihres Landes. Ihre Landsleute sehnen sich nach über zwei Jahrzehnten eines furchtbaren Krieges nach Frieden und Stabilität. Sie sehnen sich nach einer Zukunft in Frieden, sie wollen den Wiederaufbau ihres Landes. Sie sehnen sich nach einer Zukunft, die allen Afghanen, Frauen und Männern, ihre unveräußerlichen Menschenrechte und ihre Würde garantiert.

Afghanistan hat nunmehr eine große Chance zum Frieden und Wiederaufbau, die Chance zu einem einigen, unabhängigen Afghanistan.

Jetzt gibt es die Chance für eine Zukunft, in der Terrorismus und Gewalt keinen Platz mehr haben.

Jetzt gibt es die Chance, die ganze Kraft der internationalen Staatengemeinschaft für den Wiederaufbau Ihres Landes zu nutzen.

Niemand will und niemand kann Ihnen diese Verantwortung abnehmen. Ich appelliere an Sie: Schließen Sie einen wahrhaft historischen Kompromiss, der das Schicksal Ihres geschundenen Landes und seiner Menschen dauerhaft und nachhaltig zum Besseren wendet.

Die Staatengemeinschaft ist zu einer großen Anstrengung bereit. Sie verbindet damit klare Erwartungen:

Erstens: die Einigung auf verbindliche Regeln für einen friedlichen politischen Neuanfang und auf eine breite, ausgewogene Übergangsregierung.

Zweitens: die Achtung und den Schutz der Menschenrechte. Dazu gehört an vorderster Stelle, den Frauen ihre Rechte und ihre Würde zurückzugeben. Ihre aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben ist für die friedliche Zukunft des Landes unverzichtbar.

Meine Damen und Herren,

es gibt eine breite internationale Übereinstimmung, dass den Vereinten Nationen als Dach für alle Friedensbemühungen eine entscheidende Rolle zukommt. Die VN sind als Rahmen für den politischen Prozeß und als Garant innerafghanischer Vereinbarungen unverzichtbar. Ich wünsche Ihnen, Herr Brahimi und Herr Vendrell, eine glückliche und geschickte Hand bei der Leitung der Gespräche in den kommenden Tagen. Ich wünsche uns ein Ergebnis, das den ersten substantiellen Schritt zur Umsetzung Ihres im VN-Sicherheitsrat vorgestellten Fünf-Punkte-Plans bedeutet. Wir sind bereit, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und Ihnen dafür jede gewünschte Unterstützung zu geben.

Nicht nur die Menschen in Afghanistan setzen große Hoffnung in einen positiven Ausgang dieser Gespräche. Ein friedliches, stabiles Afghanistan ist Voraussetzung für Frieden und Stabilität in der gesamten Region. Eine Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist aber der Verzicht aller anderen Staaten darauf, die Konkurrenz unterschiedlicher nationaler Interessen auf dem Rücken und auf Kosten der Afghanen auszutragen.

Meine Damen und Herren,

die unmittelbare Sorge der internationalen Gemeinschaft gilt der Versorgung der notleidenden Bevölkerung in Afghanistan. Ein Erfolg dieser Konferenz muss deshalb auch ein dringend notwendiger Impuls zur Lösung der Sicherheitsprobleme sein, die in vielen Regionen Afghanistans heute noch die Verteilung humanitärer Hilfe erschweren und verzögern. Nur dann kann es uns in der angelaufenen großen humanitären Anstrengung gelingen, die Menschen - vor allem die Kinder - über den harten Winter zu bringen. Die Bundesregierung hat die Afghanistan Support Group für den 5. Dezember erneut nach Berlin eingeladen, um über weitere humanitäre Hilfe zu beschließen.

Das Engagement der internationalen Gemeinschaft wird nicht mit dem kommenden Frühjahr enden. Die Menschen in Afghanistan sollen wissen, dass sie auch nach dem Kampf gegen die Terroristen der Al-Qaida und gegen das Taliban-Regime nicht allein gelassen werden. Eine erste Konferenz zum Wiederaufbau mit breiter Teilnahme westlicher und islamischer Staaten und Organisationen hat schon vergangene Woche in Washington wichtige Weichen gestellt. Eine große Geberkonferenz in Tokyo ist für Januar geplant.

Die Europäische Union ist bereit, sich in erheblichem Umfang und langfristig am wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau Afghanistans zu beteiligen. Deutschland hat dafür bereits 160 Mio. DM zugesagt. Wir werden uns vor allem auf die Wiederherstellung der Bildungseinrichtungen und Verwaltungsinfrastruktur und auf die Einbeziehung von Frauen und Mädchen in den Aufbau der Zivilgesellschaft konzentrieren. Wir wollen unter anderem die traditionsreiche, 1924 gegründete Amani-Oberrealschule in Kabul, an der bis in die 80er Jahre deutsche Lehrer unterrichteten, so schnell wie möglich wiederherrichten, und auch eine entsprechende weiterführende Ausbildung für Mädchen fördern.

Meine Damen und Herren,

die deutsch-afghanischen Beziehungen haben eine lange und positive Geschichte. Deutschland bietet fast 90.000 Afghanen eine zweite Heimat - mehr als jedes andere Land Europas. In Afghanistan selbst sind die Spuren der engen Zusammenarbeit mit Deutschland gerade in den 60er und 70er Jahren bis heute gegenwärtig. Lassen Sie uns mit dem Übergang zu einer stabilen politischen Ordnung in Afghanistan auch in unserer bilateralen Partnerschaft ein neues Kapitel aufschlagen.

Verehrte afghanische Gäste, jetzt stehen Sie in der Verantwortung, Ihrem Volk eine friedliche politische Zukunft zu eröffnen, die die Vielfalt und die Traditionen Ihrer Gesellschaft widerspiegelt und die von allen Afghanen angenommen werden kann. Es liegt an Ihnen, den Repräsentanten des afghanischen Volkes, die Chance dieses historischen Augenblicks zu ergreifen. Deutschland, die Europäische Union und die internationale Gemeinschaft mit den Vereinten Nationen an der Spitze stehen bereit, Ihnen dabei langfristig zu helfen.

Ich wünsche Ihren Verhandlungen im Interesse der Menschen Afghanistans viel Erfolg und Ihnen allen vor allem Weisheit und Kraft zum Kompromiss.