Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 27.11.2001

Untertitel: Staatsminister Julian Nida-Rümelin hat am 27. November 2001 in Berlin die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" eröffnet.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/88/63688/multi.htm


Staatsminister Julian Nida-Rümelin eröffnete am 27. November 2001 in Berlin die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" dokumentiert einen radikalen Bruch, einen in seiner Menschenverachtung kaum vorstellbaren Bruch mit Regeln, die die normative Grundsubstanz eines menschenwürdigen Umgangs mit Gegnern auch in einer militärischen Auseinandersetzung schützen sollen. Die Ausstellung thematisiert das erschreckende Ausmaß der Verstöße gegen das seinerzeit geltende, auch von Deutschland ratifizierte Völker- und Kriegsrecht. Sie thematisiert die verschiedenen Aspekte des mit Beteiligung der Wehrmacht geführten Vernichtungskrieges: den Kampf gegen die sowjetische Zivilbevölkerung, darunter die im Zusammenhang der so genannten "Partisanenbekämpfung" verübten Verbrechen und den kalkulierten Hungertod weiter Bevölkerungsteile, das intentional herbeigeführte Sterben von über zwei Millionen Kriegsgefangenen, die Deportation von Zwangsarbeitern und den Völkermord an den sowjetischen Juden. Die Ausstellung zeigt unendliches Leid und sie zeigt die schwer fassbare Fragilität selbst eines minimalen zivilisatorischen Kernbestandes. Sie verstört.

Die erste Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Wehrmacht hat zwischen 1995 und 1999 über 800.000 Besucher in der Bundesrepublik und in Österreich gefunden. Diese Ausstellung hat polarisiert und emotionalisiert - bis hin zu Demonstrationen, beispielsweise in München, und bis hin zu einer - auch sehr persönlich geführten - Debatte im Deutschen Bundestag. Sie traf ganz offenkundig einen tiefliegenden Nerv. Wie kein anderes Thema der Zeitgeschichte hat die Dokumentation des Vernichtungskrieges die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt und aufgewühlt - auch insofern hatte und hat sie eine eminente kulturelle Bedeutung.

Zumindest ein Teil der Reaktionen auf diese erste Ausstellung erklärt sich aus dem Unstand, dass ihr Gegenstand nicht die Rolle einzelner Gruppen - Juristen oder Mediziner etwa - in der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes war, sondern die Rolle der Wehrmacht. Damit warf sie implizit die Frage nach der Rolle der deutschen Gesamtbevölkerung auf. Und sie stellte die Frage nach den verschiedenen Perspektiven auf Geschichte. Auch dies hat die Auseinandersetzung öffentlich verdeutlicht: Trotz unterschiedlicher Perspektiven gibt es nur die eine Geschichte, die den Raum der Interpretationen begrenzt.

Die erste Ausstellung hat nicht nur stark emotional gefärbte, sondern auch begründete sachliche Kritik erfahren. Auf Grund dieser Kritik entschloss sich Jan Philipp Reemtsma als Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Ausstellung zunächst zurück zu ziehen und eine unabhängige Historikerkommission um die Prüfung der Einwände zu bitten. Das Kernergebnis dieser Kommission verdient, zitiert zu werden. Die Gutachter kamen zu folgenden Schlussfolgerungen: Die Überprüfung der Ausstellung hat zu der Erkenntnis geführt, dass die öffentlich geäußerte Kritik zumindest in Teilen berechtigt ist. Die Ausstellung enthält 1. sachliche Fehler, 2. Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten bei der Verwendung des Materials und 3. vor allem durch die Art der Präsentation allzu pauschale und suggestive Aussagen. Die Ausstellung enthält jedoch keine Fälschungen im Sinne der leitenden Fragestellungen und Thesen." Als Fazit hielten die Experten fest, dass die Grundaussage über die Wehrmacht und den Vernichtungskrieg richtig seien.

Es spricht für die Redlichkeit Jan Philipp Reemtsmas, dass er es trotz der positiven Bewertung des Grundansatzes nicht bei einer Überarbeitung beließ, sondern sich entschied, die Ausstellung ganz neu zu konzipieren und zu strukturieren. Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass diese neue Ausstellung heute hier eröffnet wird. Und ich begrüße, dass es die Ausstellung in dem mit "Handlungsspielräume" betitelten Bereich unternimmt, die Entscheidungsspielräume einzelner Akteure zu analysieren. Denn obwohl es selbstverständlich legitim und notwendig ist, das Verhalten der Wehrmacht als Institution zu untersuchen, sollten die Sozial- und Geschichtswissenschaften aus meiner Sicht an einem individualistischen Ansatz festhalten. Dieser Ansatz beinhaltet, dass soziale Prozesse letztlich nur unter Rekurs auf das Handeln von Individuen erklärt werden können und dass Personen nicht erst qua Gruppenzugehörigkeit zählen. Die Rede von "kollektivem Handeln" hat aus dieser Perspektive allenfalls einen metaphorischen Stellenwert. Individualismus ist ein methodologisches Prinzip, hat aber auch normative Implikationen. Wenn Personen erst qua Gruppenzugehörigkeit zählen, können sie auch qua Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausgegrenzt werden.

Ich möchte - vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Lage - noch ein anderes Thema ansprechen. In der Diskussion um die Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Einsätzen im Kampf gegen den Terrorismus wird mitunter - jedenfalls in manchen Zwischentönen - historisch argumentiert. Ich möchte deshalb an dieser Stelle deutlich festhalten: Welche Haltung man auch immer zu den militärischen Operationen in Afghanistan einnimmt, die Bundeswehr steht in einer anderen Tradition als die Wehrmacht. Sie ist eine demokratisch legitimierte Armee und sie ist nicht das Instrument deutscher Großmachtinteressen.

Der Kampf gegen die Terroristen, die für Anschläge des 11. September verantwortlich sind, ist im Kern ein globales Polizeiproblem. Der Aufbau entsprechender weltweit agierender Organisationen steht erst am Anfang. Angesichts der Usurpation ganzer Staaten durch terroristische Gruppen ist deshalb gegenwärtig der Einsatz militärischer Mittel erforderlich. Die langfristige Perspektive aber kann nur lauten, globale Institutionen so zu entwickeln, dass Militäreinsätze verzichtbar werden.