Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 12.12.2001

Untertitel: Das Thema Corporate Governance hat Konjunktur. Nicht nur in Wissenschaft und Publizistik, auch in den Hauptversammlung der großen Publikumsgesellschaften hat das Thema in diesem Jahr eine wichtige Rolle gespielt.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/87/65087/multi.htm


Ich danke Ihnen für die Einladung.

Das Thema Corporate Governance hat Konjunktur. Nicht nur in Wissenschaft und Publizistik, auch in den Hauptversammlung der großen Publikumsgesellschaften hat das Thema in diesem Jahr eine wichtige Rolle gespielt. Für manche hat es inzwischen sogar den Charakter eines Modethemas erreicht.

Dies verwundert auf den ersten Blick. Noch vor wenigen Jahren waren die Themen Aktienmarkt, Unternehmensführung und -kontrolle Expertenkreisen vorbehalten. Deutschland war damals in vielerlei Hinsicht - Tiefe und Breite des Aktienmarktes, Zahl der Aktionäre, Akzeptanz der Aktie als Anlageform - weit vom Standard anderer Volkswirtschaften entfernt. Börsengänge waren eine Seltenheit.

Heute ist der Finanzmarkt Deutschland nicht nur wettbewerbsfähig, er ist in vielerlei Hinsicht in Europa führend. Mit dem Neuen Markt verfügt Deutschland heute über das dynamischste Börsensegment für junge High-Tech-Unternehmen in Europa. 1999 und 2000 wurden mehr als 350 Unternehmen erstmals an der Börse notiert. In diesem Jahr - einem ausgesprochen schwierigen Börsenjahr - haben bislang 20 Unternehmen den Gang an die Börse gewagt. Die meisten von ihnen sind jung, innovativ, in Zukunftsbranchen tätig, Unternehmen mit hoher Wachstums- und Beschäftigungsdynamik. Unternehmen, die wir in Deutschland brauchen, um den notwendigen Strukturwandel voranzutreiben und neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen.

Die Aktie ist als Anlageform heute so populär wie lange nicht. Derzeit besitzen 13,4 Millionen Deutsche Aktien oder Anteile an Aktienfonds - das sind 21 % der Deutschen über 14 Jahren. Ein Verdienst insbesondere der Initiative der Marktteilnehmer: der Börsen, der Banken, Investmentgesellschaften, Emittenten, Anleger.

Aber auch ein Verdienst der Politik. Die Bundesregierung hat die Rahmenbedingungen am Finanzmarkt und im Unternehmensrecht kontinuierlich verbessert. Und sie hat mit der Haushalts- , Steuer- und Rentenreform zusätzliche Impulse für die Finanzmarkt gesetzt. Die "Riester-Rente" wird das Sparverhalten der Deutschen nachhaltig verändern - zugunsten renditestarker Anlageformen wie der Aktie.

Anfang 2002 wird die im Rahmen der Unternehmensteuerreform eingeführte Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne in Kraft treten. Es ist zu erwarten, dass Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen diese Möglichkeiten nutzen werden und den Strukturwandel vorantreiben. Die alte - wegen ihrer hochgradigen Verflechtung zum Teil ineffiziente und intransparente - "Deutschland AG" wird es dann so nicht mehr geben.

Ungeachtet dieser positiven Bilanz hat der Finanzmarkt noch Potenzial. Noch immer liegt Deutschland im Hinblick auf die Börsenkapitalisierung nur im Mittelfeld. Hätte der deutsche Aktienmarkt die gleiche Größe und Liquidität wie der US-amerikanische, so könnte unser Bruttosozialprodukt rund 8 Prozentpunkte höher liegen als es derzeit ist. Rechnen Sie dies einmal auf Steuereinnahmen und Arbeitsplatzeffekte um. Deshalb wird die Bundesregierung in ihrer Politik der Förderung des Finanzmarktes nicht nachlassen.

Funktionierende Finanzmärkte sind entscheidend für die Leistungsfähigkeit einer modernen Marktwirtschaft - sie sorgen dafür, dass verfügbares Anlagekapital in die produktivste Verwendung gelangt. Im Rahmen dieses Prozesses werden über die Preisbildung an Aktien- , Renten und Devisenmärkten grundlegende gesamtwirtschaftliche Rahmendaten gesetzt, die für die Wirtschaftspolitik von eminenter Bedeutung sind. Ein funktionierender Kapitalmarkt schafft Impulse für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung - und umgekehrt.

Mit der Berufung der Regierungskommission Corporate Governance hatte die Bundesregierung nach der Verabschiedung des Namensaktiengesetzes und dem Entwurf eines Übernahmegesetzes ein weiteres zentrales Reformvorhaben im Unternehmensrecht eingeleitet. Bei der Diskussion über Corporate Governance geht es um die Art und Weise von Unternehmensführung und Unternehmensüberwachung. Eine Diskussion, die entgegen dem ersten Eindruck nicht neu ist in Deutschland. Doch früher fokussierte sich die Diskussion primär auf einzelne spektakuläre Einzelaspekte.

Herr Professor Baums - Sie werden sich erinnern- , fast auf den Tag acht Jahre ist es her, als wir im ehemaligen Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Bonn eine Anhörung des Wirtschaftsausschusses des Deutschen Bundestages erlebten - Sie waren damals Sachverständiger. An diesem 8. Dezember 1993 - übrigens genau der Tag, an dem die Presse erstmals von den finanziellen Schwierigkeiten der Frankfurter Metallgesellschaft berichtete, ging es oberflächlich um das Thema Macht der Banken. Im Kern ging es aber bereits damals um die Fragen, die wir heute unter dem Titel Corporate Governance diskutieren.

Fragen nach Unternehmensführung und Unternehmenskontrolle, der Arbeit der Aufsichtsräte und der Wirtschaftsprüfer, der Rolle von institutionellen Anlegern, Interessenkonflikte und Einflusskumulationen, Transparenz und Anlegerschutz, die wechselseitigen Verflechtungen innerhalb der Deutschland AG.

Politik und Wirtschaft wissen heute um ihre gemeinsame Aufgabe, das deutsche System der Corporate Governance weiterzuentwickeln und fit zu machen für den Wettbewerb der Regelsysteme. In unser globalisierten Wirtschaft stehen nicht nur die einzelnen Unternehmen, sondern auch die Wirtschaftssysteme in einem härter werdenden Wettbewerb miteinander. Dies gilt für die Steuer- und die Sozialsysteme ebenso wie die Corporate Governance-Systeme.

Dabei sollte die Übernahme der angelsächsischen Terminologie nicht fälschlich dahingehend interpretiert werden, dass wir in Deutschland nun das englische oder das US-amerikanische System adaptieren werden. Dazu sind die den jeweiligen Systemen zugrundeliegenden Philosophien doch zu unterschiedlich. Ein Unterschied, der gelegentlich plakativ auf den vermeintlichen Antagonismus zwischen shareholder-value- vs. stakeholder-value-Ansätzen verkürzt wird.

Solche Kategorisierungen sind selten hilfreich, verstellen sie doch den Blick darauf, dass auch die meisten großen angelsächsischen Pensionfunds und institutionelle Anleger ihre Anlageentscheidung nicht nach Short-Stories ausrichten, sondern von den langfristigen Perspektiven abhängig machen. So sind gerade die großen institutionellen Anleger wie CalPERS Vorreiter bei der Ausprägung von Corporate Governance-Grundsätzen gewesen.

Corporate Governance-Grundsätze sind Verhaltensmaßstäbe für Unternehmensleitung und Unternehmensüberwachung. Im deutschen Rechtssystem sind diese Maßstäbe für Aktiengesellschaften im Aktiengesetz, im Handelsrecht und im Mitbestimmungsrecht niedergelegt.

Die Regierungskommission sollte daher nicht nur die Fragen eines deutschen Codes of Corporate Governance auf freiwilliger Basis diskutieren, sondern auch die gesetzlichen Grundlagen für das deutsche System von Unternehmensführung und -kontrolle insgesamt auf den Prüfstand stellen. Vor dem Hintergrund der rasanten Veränderung des wirtschaftlichen, technologischen und rechtlichen Umfelds sollte die Kommission Vorschläge zur Modernisierung des deutschen Systems der Corporate Governance für Wirtschaft und Politik erarbeiten. Neben der Verbesserung von Transparenz und Kontrolle ging es um Themen wie die Arbeit von Vorstand, Aufsichtsrat, Hauptversammlung und Abschlussprüfung sowie um die grundsätzliche Frage einer Neujustierung des Verhältnisses von gesetzlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung. Dabei hat die Kommission von Anfang an internationale Entwicklungen und Reformpläne im Ausland in ihre Betrachtungen einbezogen.

Bei der Zusammensetzung der Kommission hatte die Bundesregierung ganz bewusst auf eine heterogene Zusammensetzung und die Mitarbeit von Praktikern Wert gelegt. Die Kommission gehörten Unternehmensvorstände, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Vertreter von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen an.

Der Vorsitzende hat dem Bundeskanzler den Abschlussbericht am 10. Juli 2001 übergeben. Das umfassende Werk enthält insgesamt knapp 150 Empfehlungen an Politik und Wirtschaft zur Fortentwicklung des deutschen Systems der Corporate Governance. Noch einmal an dieser Stelle meinen Dank an die Kommissionsmitglieder und den Vorsitzenden für die intensive Arbeit.

Die Regierungskommission "Corporate Governance" hat mit ihrer Arbeit das Fundament für eine umfassende Modernisierung des deutschen Unternehmensrechts gelegt. Ihre Empfehlungen dienen der Verbesserung von Unternehmensführung und -kontrolle, Transparenz und Wettbewerb. Sie verbessern den Schutz der Aktionäre und stärken den Finanzplatz Deutschland. Die Regierungskommission hat damit nicht nur ihren Auftrag erfüllt, Konsequenzen aus Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu empfehlen, sondern sie hat ebenso konsequent zukunftsorientierte Vorschläge entwickelt, mit denen die Stärken des deutschen Systems der Unternehmensführung ausgebaut und mögliche Defizite behoben werden.

Prof. Baums hat die Empfehlungen bereits im einzelnen dargestellt. Ich will mich daher auf einige zentrale Punkte beschränken. Die Regierungskommission hat der Bundesregierung empfohlen, eine Kommission zur Erarbeitung und Fortschreibung eines deutschen Corporate Governance-Kodex einzurichten.

Der Kodex soll über das geltende Recht hinausgehende Best-Practice-Grundsätze für die Unternehmensführung und -kontrolle enthalten. Als Kodex bietet er die Möglichkeit, schneller, als es der Gesetzgeber kann, auf die sich dynamisch wandelnden Anforderungen der internationalen Finanzmärkte zu reagieren. Und den einzelnen Unternehmen den notwendigen Spielraum für die eigene geschäftspolitische Ausrichtung zu lassen. Denn in der Regel sind Unternehmen ohne Großaktionär und mit breiter Aktienstreuung kapitalmarktorientierter ausgerichtet als Unternehmen mit einem oder mehreren Großaktionären.

Gemäß dem Prinzip "Comply or explain" soll der Kodex selbst nicht gesetzlich fixiert werden. Vorgeschrieben wird lediglich, dass börsennotierte Unternehmen einmal jährlich im Geschäftsbericht zu erklären haben, ob sie sich an den Kodex halten oder aus welchen - darzulegenden - Gründen sie von den Empfehlungen des Corporate Governance Kodex abweichen. Die Finanzmärkte werden dieses innovative Element international honorieren und damit die Finanzierungsbedingungen für deutsche Unternehmen weiter verbessern. Einer Mc-Kinsey-Studie zufolge sind Investoren bereit, für deutsche Unternehmen mit guter Corporate Governance eine Zusatzprämie von durchschnittlich 20 Prozent zu zahlen. Der Kodex wird zum Gütesiegel guter Unternehmensführung.

Nach den Vorstellungen der Regierungskommission soll der Kodex unter anderem Vorgaben für eine verbesserte Arbeit der Aufsichtsräte definieren.

Dazu gehört beispielsweise die Beschränkung der pro Person zulässigen externen Aufsichtsratsmandate auf maximal fünf pro Person, die Stärkung der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder und die Empfehlung, dass Aufsichtsräte keine Mandate wahrnehmen dürfen, die mit der Gesellschaft in Wettbewerb stehen.

Außerdem soll der Kodex erweiterte Transparenzstandards beispielsweise bei Aktienoptionsplänen für das Management oder den Aktienbesitz von Organmitglieder an der berichtenden Gesellschaft enthalten und die Informationspflichten des Vorstands gegenüber den Aktionären erweitern.

Dieser Empfehlung ist die Bundesregierung bereits nach wenigen Wochen im September diesen Jahres mit der Einsetzung einer Expertenkommission zur Erarbeitung des Best-Practice-Kodex gefolgt. Ihr gehören zwölf Experten aus Unternehmen, Gewerkschaften, Banken, Börsen, und der Wissenschaft unter Vorsitz von Herrn Dr. Cromme an.

Die Kommission hat sich einen ehrgeizigen Zeitplan gesetzt. Anfang nächsten Jahres soll ein Diskussionsentwurf vorgelegt werden; die endgültige Fassung soll im Frühjahr 2002 vorliegen. Nach den Worten von Herrn Dr. Cromme soll der Kodex "kurz, knapp und knackig" sein.

Neben der Einrichtung der Kodex-Kommission empfiehlt die Baums-Kommission eine Vielzahl von Anpassungen und Veränderungen im Aktien- und Bilanzrecht. Ein Schwerpunkt ist dabei die weitere Stärkung des Aufsichtsrates. Die Bundesregierung wird diesem Ansatz gerne folgen.

Weiterer Schwerpunkt der Kommissions-Empfehlungen sind Vorschläge für mehr Transparenz und Anlegerschutz. Und schließlich hat die Kommission weitsichtige Vorschläge für die Nutzung der neuen Informations-Technologien vorgelegt.

Das Internet verschafft den Klein- und Privatanlegern Zugang zu Handelsmöglichkeiten, die früher nur große, institutionelle Anleger hatten. Der Prozess ist bereits in vollem Gange. So ist es heute bereits möglich, auch als Kleinanleger am Intra-Day-Handel teilzunehmen. Es ist nur folgerichtig, das Internet auch in der Kommunikation zwischen Gesellschaften und Aktionär stärker zu nutzen.

Die Bundesregierung wird die Empfehlungen der Baums-Kommission kontinuierlich umsetzen. Noch in dieser Legislaturperiode soll ein Teil der Vorschläge umgesetzt werden. Das Bundesministerium der Justiz hat jetzt den Referentenentwurf für das Transparenz- und Publizitätsgesetz vorgelegt. Professor Seibert wird später noch ausführlich auf die Einzelheiten des Gesetzes eingehen. Der Gesetzentwurf soll im Februar 2002 im Bundeskabinett beschlossen werden.

Im "Transparenz- und Publizitätsgesetz" werden die gesetzlichen Grundlagen für das "comply or explain" sowie eine Reihe von Kommissionsvorschlägen umgesetzt.

Dazu gehören Maßnahmen zur Stärkung der Aufsichtsräte beispielsweise durch erweiterte Informationspflichten des Vorstands und verschärfte Geheimhaltungspflichten für Aufsichtsräte, die Nutzung elektronischer Medien für Gesellschaftsveröffentlichungen und Deregulierungen im Aktienrecht wie die weitere Herabsetzung des Aktiennennbetrags. Die Publizitätsanforderungen für kapitalmarktorientierte Unternehmen werden maßvoll erweitert und die Mitwirkungsaufgaben des Aufsichtsrats bei der Prüfung und Finalisierung des Konzernabschlusses erweitert. Schließlich beinhaltet der Entwurf die Modernisierung einzelner Vorschriften des Konzernbilanzrechts.

Andere Aspekte der Empfehlungen sollen im Gesetz zur Neuordnung des gesellschaftsrechtlichen Spruchverfahrens umgesetzt werden. Auch hierzu hat das Bundesministerium der Justiz jetzt einen Referentenentwurf vorgelegt.

Zur Zeit dauern solche Verfahren durchschnittlich 5 Jahre: zu lange. Verschärft wird diese Situation noch dadurch, dass Spruchverfahren in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung zunehmen werden. Denn im Rahmen des Übernahmegesetzes wird zum 1. 1. 2002 erstmals in Deutschland die Möglichkeit zum "Squeeze-out" von Minderheitsaktionären geschaffen. Für die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung wird den Minderheitsaktionären das Spruchstellenverfahren eröffnet. Mit dem Spruchverfahrensneuordnungsgesetz sollen die Verfahren deutlich beschleunigt werden.

Der Gesetzentwurf soll ebenfalls im Februar vom Bundeskabinett beschlossen werden.

Die weiteren Empfehlungen der Baums-Kommission wird die Bundesregierung in der nächsten Wahlperiode umsetzen. Der Schwerpunkt dieser zweiten Stufe der Umsetzung wird im Gesellschaftsrecht das besonders wichtige Anfechtungs- und Haftungsrecht in der Hauptversammlung sein sowie die weitere Nutzung von IT-Anwendungen insbesondere für die Hauptversammlung.

Die Empfehlungen der Regierungskommission zu Bilanzrecht und Abschlussprüfung sollen im Rahmen der in der nächsten Wahlperiode anstehenden Bilanzrechtsreform umgesetzt werden, mit der die nationalen Vorschriften an international übliche Regeln und kommende EU-Vorschriften angepasst werden sollen.

Die beiden noch für diese Legislaturperiode vorgesehenen Gesetzesvorhaben des BMJ ergänzen die bereits im Entwurf für das 4. Finanzmarktförderungsgesetz enthaltenen Maßnahmen zur Stärkung des Finanzplatzes. Ziel ist, die Rahmenbedingungen für den Finanzplatz so zu verbessern, dass dieser im zusammenwachsenden Euro-Markt seine Position sichern und ausbauen kann. Wir wollen, dass der Finanzplatz Deutschland dauerhaft die Nummer Eins in Europa ist.

Darüber hinaus wird eine Aktualisierung des Börsenrechts vorgenommen. Wer die Umwälzungen, die gegenwärtig auf Europas Kassa- und Terminmärkten stattfinden, vor wenigen Jahren vorhergesagt hätte, wäre wohl als Phantast verspottet worden. Börsenkooperationen und -allianzen, gemeinsame Handelsplattformen und sich rasch verändernde Markt- und Wettbewerbspositionen, das sind die Schlagzeilen, die die heutige Börsenlandschaft prägen.

Man muß kein Prophet sein, um sich auszumalen, was dies für die Börsen der Zukunft bedeutet. Sie werden nicht mehr der geographisch bestimmbare Ort - das Parkett - sein, an dem Menschen zusammenkommen, um zu handeln. Börsen der Zukunft sind virtuelle Marktplätze, in denen Menschen an den unterschiedlichsten Orten Vermögenswerte über verbundene Computerhandelssysteme kaufen und verkaufen.

Im Mittelpunkt stehen aber Maßnahmen zum Anlegerschutz. Hier geht es u. a. um das Problem, dass Anleger unzureichend gegen mangelhafte Veröffentlichungen kursrelevanter Tatsachen geschützt sind und Fehlverhalten der Unternehmen zum Schaden des Anlegers nicht gesetzlich geahndet wird. Dies gilt z. B. für den Missbrauch von ad hoc-Meldungen, der künftig als Ordnungswidrigkeit geahndet wird.

Ferner sieht der Gesetzentwurf vor, dass Geschäfte von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern ( sog. Unternehmensinsidern ) in Wertpapieren unverzüglich zu veröffentlichen sind.

Die Kenntnis über solche Transaktionen ist für den Markt von großer Bedeutung, da sie Anhaltspunkte für die Einschätzung der weiteren Geschäftssaussichten durch die Unternehmensleitung gibt.

Eine größere Transparenz ist allerdings auch bei den Institutionen und Personen erforderlich, die Informationen über den Kapitalmarkt erstellen und verbreiten. Die Bundesregierung hatte in diesem Zusammenhang einen freiwilligen Ehrenkodex der betroffenen Berufsgruppen ( Analysten, Journalisten, Finanzdienstleister ) angeregt.

Da dieser Kodex aufgrund schwerwiegender Bedenken ( Pressefreiheit ) nicht vereinbart werden konnte, hat die Bundesregierung entschieden, im 4. Finanzmarktförderungsgesetz die Verhaltensvorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes auf Finanzanalysten auszudehnen.

Danach sind Analysten künftig nicht nur verpflichtet, Analysen sorgfältig und verständlich zu verfassen, sondern sie müssen auch ihre wirtschaftlichen Interessen an dem analysierten Wertpapier und damit mögliche Interessenkonflikte offen legen.

In 20 Tagen wird eine Vision endgültig Realität. Mit dem Euro-Bargeld erhält der europäische Wirtschaftsraum auch im Bewusstsein der Verbraucher ein einheitliches Zahlungsmittel. Ein wichtiger, weil besonders symbolträchtiger Zwischenschritt beim Weg zum gemeinsamen Europa. Die schwierigen Diskussionsprozesse, die wir jetzt innerhalb der Europäischen Gemeinschaft bei der Frage der Osterweiterung erleben, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Tempo der europäischen Integration kontinuierlich zunimmt.

Die Europäische Währungsunion ist ein Musterbeispiel dafür, wie Politik in Zeiten der Globalisierung Gestaltungskraft beweisen kann. Sie belegt den Irrtum, dem all diejenigen erliegen, die in der globalen Integration freier Märkte die Wurzel zunehmender politischer Machtlosigkeit erblicken.

Vor uns liegt jetzt die Aufgabe, innerhalb der europäischen Währungsunion einheitliche Standards für die europäischen Finanzmärkte zu erarbeiten und zu etablieren - auch dies ist eine große Gestaltungsaufgabe.

Nach langen, bis in die 60er Jahre zurückreichenden Vorarbeiten sind nun endlich die rechtlichen Grundlagen für die europäische Aktiengesellschaft verabschiedet worden. Damit ist eines der längsten und schwierigsten Vorhaben auf europäischer Ebene glücklich abgeschlossen. Zukünftig steht den Unternehmen in Europa eine einheitliche Gesellschaftsform zur Verfügung, die den besonderen Anforderungen grenzüberschreitender Tätigkeit Rechnung trägt.

Die Schaffung der Europäischen Aktiengesellschaft wird den Unternehmen ein einfacheres Agieren über Ländergrenzen hinweg ermöglichen und damit den Wirtschaftsstandort Europa deutlich stärken.

Und es wird nicht mehr nötig sein, mit hohem Kosten- und Arbeitsaufwand Tochtergesellschaften in verschiedenen Ländern nach jeweils unterschiedlichen Rechtsnormen zu verwalten. Dies eröffnet neue Perspektiven für bisher nur in einzelnen Mitgliedsstaaten vertretene Aktiengesellschaften.

Mit der im Oktober verabschiedeten Einigung über das Statut und die Beteiligung der Arbeitnehmer in der europäischen Aktiengesellschaft ist es auch gelungen, wirtschafts- und sozialpolitische Zielsetzungen ausgewogen miteinander zu verbinden. Mit der Verankerung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft wurde das Fundament für eine europäische Mitbestimmungskultur gelegt, ein wichtiger Zugewinn für die soziale Dimension Europas.

Auch wenn die Übernahmerichtlinie gescheitert ist, hält die Bundesregierung an dem Ziel fest, eine europaweit verbindliche Regelung für Unternehmensübernahmen zu finden. Vorrausetzung hierfür ist allerdings die Schaffung eines level-playing-field.

Deutschen Unternehmen stehen mit anderen EU-Staaten vergleichbare Abwehrmöglichkeiten gegen feindliche Übernahmen nicht zur Verfügung. Während wir vor drei Jahren Höchst- und Mehrfachstimmrechte abgeschafft haben, können sich Unternehmen in anderen EU-Staaten mit diesen Sonderrechten - eine Reihe von Staaten sogar mit sogenannten Golden Shares - wirksam gegen Übernahmen wehren.

Die Bundesregierung begrüßt auch deshalb die Einsetzung einer Expertengruppe durch die Europäische Kommission, die bis Frühjahr nächsten Jahres einen Bericht mit Vorschlägen zur Harmonisierung des Gesellschaftsrechts in den EU-Staaten vorlegen soll.

Damit wurde den berechtigten Bedenken Deutschlands gegen die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten deutscher Unternehmen bei grenzüberschreitenden Unternehmensübernahmen Rechnung getragen. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass diese Expertenkommission - trotz des allseits beklagten zögerlichen Beginns - bald substantielle Empfehlungen vorlegt.

Beim Ausprägen internationaler Standards ist viel von Benchmarking die Rede: von den Besten lernen. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von Expertenkommissionen ins Leben gerufen, die ihr bei anstehenden Reformvorhaben fachkundigen Rat gegeben haben. Wir haben damit generell gute Erfahrungen gemacht. Aber die Arbeit der Baums-Kommission hat sowohl im Hinblick auf den Umfang der Aufgabenstellung, das Tempo ihrer Arbeit als auch mit der Qualität des Ergebnisses die Benchmark gesetzt, an der sich andere künftig messen lassen müssen.

Vielen Dank.