Redner(in): Michael Naumann
Datum: 25.06.1999

Anrede: Herr Präsident, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/74/11774/multi.htm


jeder Mensch lebt kraft seiner Fähigkeit, sich zu erinnern. Das Leben in reiner Gegenwart gibt es nicht.

Eine Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Geschichte verweigert, vergißt sich selbst. Sie schließt vor der Welt die Augen und wird blind. Vergangenheitslos blieben ihr als Trost die Heilsversprechungen einer strahlenden Zukunft. Solche haltlosen Versprechungen haben unser ideologisches Jahrhundert geprägt und blutig enttäuscht.

Zukunftsmythen von der rassischen Reinheit des Volkes, Fiktionen von unbegrenzter Weltherrschaft im global gewordenen deutschen "Lebensraum" wurden mit polizeilicher und militärischer Gewalt gegen die deutsche Demokratie-Tradition durchgesetzt. Es war, als wollte Deutschland nach 1933 mit bislang unvorstellbaren Mitteln von verstaatlichtem Mord aus der Zivilisationsgeschichte der Menschheit austreten.

Meine Damen und Herren,

das zwanzigste Jahrhundert liegt hinter uns. Wir alle, auch die Mitglieder dieses Hohen Hauses, sind immer wieder der Versuchung ausgeliefert, uns zurückzuziehen ins Vergessen; denn das Vergangene, so wissen wir, ist nicht mehr zu ändern und selten eine Quelle von Zufriedenheit. Ist nationale Geschichte gar, wie in unserem Fall, mit schwerster Schuld beladen, führt historische Erinnerung allemal in schmerzhafte Diskussionen um historische Verantwortung, um angemessene Strafe, um Gerechtigkeit.

Nach anfänglichem, teilweise skandalösem Zögern in den fünfziger Jahren hat sich der Deutsche Bundestag wie auch das ganze Land der Wahrheit unserer Geschichte geöffnet. Von der Verjährungsdebatte in den frühen sechziger Jahren bis zur befreienden Ansprache Richard von Weizsäckers vor dem Parlament vierzig Jahre nach Kriegsende - Geschichtslosigkeit wird niemand mehr unserem Land vorwerfen können.

Ein Staat kann historische Erinnerung nicht verordnen. Sie ist geistige Voraussetzung seiner Verfassung. Mit der Niederschrift der Grundrechte haben die Verfassungsväter vor fünfzig Jahren unser Land zurückgeführt in den Kreis der zivilisierten Nationen. Sie stießen sich ab von der Geschichte der Barbarei, deren Mordgeruch vier Jahre nach Kriegsende über ganz Europa lag.

Meine Damen und Herren,

wenn wir heute über ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas diskutieren, erneuern wir einmal mehr die ethische Grundsatzdebatte, die unsere Staatsgründung begleitete und die seitdem niemals völlig abgerissen ist.

Daß die schwarze Folie des Nationalsozialismus und des schier namenlosen Mordes an sechs Millionen Juden, an Sinti und Roma, an Slawen, an Millionen russischen Kriegsgefangenen, an religiösen Minderheiten und politischen Gegnern der Nazis, daß dies alles mitbestimmend sein soll für das Selbstverständnis unseres Rechtstaats, ist schwer zu ertragen. Wer will das bestreiten.

Und doch ist es das Vermächtnis der Opfer und das Vermächtnis des deutschen Widerstands.

Der Staat selbst erinnert sich nicht, doch mit repräsentativer, symbolischer Geste kann er den Prozeß des gesellschaftlichen Erinnerns akzentuieren. Wir diskutieren heute Form und Inhalt dieses Akzents.

Meine ursprünglichen Einwände gegen den Mahnmal-Entwurf des Architekten Peter Eisenman sind bekannt. In der europäischen Geschichte der Denkmalsarchitektur gibt es keinen mir bekannten Gestus, der die Einmaligkeit des Verbrechens, von dem hier die Rede ist, angemessen repräsentiert. Und immer droht im symbolischen Gedenken die Erinnerung an das einzelne Opfer zu verschwinden - wie aber auch die Erinnerung an den einzelnen Täter. Weil das so ist, hatte ich zusammen mit Peter Eisenman eine neue Konzeption entwickelt, die Gegenstand einer ausführlichen Debatte wurde.

Beide mußten wir unsere Vorstellungen revidieren. Heute bitte ich Sie ausdrücklich, der Beschlußempfehlung des Ausschusses zuzustimmen, die den Bau des Stelenfelds von Eisenman ( Eisenman II ) fordert - ergänzt um einen Ort der Information. Die Umsetzung bleibt einer Bundesstiftung überlassen, deren Entscheidungen die Bundesregierung respektieren wird.

Eine solche Ergänzung wird die Arbeit an den authentischen Gedenkstätten im Lande nicht behindern.

Meine Damen und Herren,

der Mord an den Juden Europas folgte einem Schema des Wahnsinns. In seinem Kern zielt er nicht nur auf die Realisierung eines bizarren rassistischen Weltbildes. Hinter dem genozidalen Morden verbarg sich die Absicht, mit dem Volk der Bibel zugleich jene Religion auszurotten, die dem Menschenbild des Nationalsozialismus im Wege stand.

Die Heiligkeit des Lebens vor einem Gott, also den monotheistischen Kern der jüdischen Überlieferung Europas zu beseitigen - das war das innerste Ziel des Völkermords. Seine Ungeheuerlichkeit übersteigt weiterhin unser Fassungsvermögen. Ein wirklich angemessenes Symbol des Holocaust wird es darum niemals geben. Der Millionenmord wird für immer unbegreiflich bleiben, auch wenn wir seine historischen Bedingungen, seine organisatorische Perversion erforscht, seine Täter alle beim Namen genannt haben.

Die Erinnerung aber wohnt im Wort und im Bild. Doch auch das Wort versagt, wenn die Seelen verschlossen bleiben. Die heutige Debatte ist ein Beleg dafür, daß unsere Vergangenheit nicht vergessen, das Schicksal der Opfer nicht verdrängt worden ist. Das Mahnmal in der Mitte unserer Hauptstadt soll ein Zeichen unserer Trauer sein. Es ist auch ein Zeichen unserer Geschichte. Vor allem aber signalisiert es Erinnerung an die Toten, genauer, an den Mord an Millionen.