Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.02.2002

Untertitel: "Es ist eine gute Entscheidung, das diesjährige Weltwirtschaftsforum hier in New York stattfinden zu lassen. Denn New York, dieses Symbol für Freiheit und Toleranz, ..."
Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Schwab, verehrte Staats- und Regierungschefs, verehrte Vertreter der Nicht-Regierungsorganisationen, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/83/68583/multi.htm


Professor Schwab hat schon darauf hingewiesen, und auch ich finde, dass es eine gute und wichtige Entscheidung war, das Forum hier in New York stattfinden zu lassen. New York ist ja nicht nur Symbol für Freiheit und Toleranz und für eine florierende Weltwirtschaft, sondern auch ein Symbol für die Zuflucht ganz vieler Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt vor Verfolgung und Not.

New York ist durch menschenverachtende Terroristen angegriffen worden, auch als Symbol für die zivilisierte Welt insgesamt. Diese Anschläge waren also nicht nur ein Angriff auf Amerika, sondern auf die Wertvorstellungen, an denen wir alle uns orientieren. Das bedeutet zugleich, dass wir nicht erst durch den 11. September, aber insbesondere durch ihn, wissen können und müssen, dass kein Staat der Welt mehr die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten kann ohne ein zunehmendes Maß an internationaler Kooperation; denn Instabilität in einem Teil der Welt, der Zusammenbruch von ganzen Volkswirtschaften oder Staaten und die Erosion kultureller und nationaler Identitäten bedrohen Stabilität und Sicherheit über einzelne Länder, ja, über einzelne Kontinente hinweg.

Das bedeutet: Innere und äußere Sicherheit sind in unserer heutigen Welt nicht mehr voneinander zu trennen. Das bedeutet auch: Sicherheit ist das Fundament, auf dem eine solidarische, eine gerechte Gesellschaft aufgebaut ist. Ohne Sicherheit gibt es keine Gerechtigkeit, keine Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung, ja, keine friedliche gesellschaftliche Entwicklung überhaupt. Damit gibt es ohne Sicherheit auch keine friedliche Perspektive für die Menschheit schlechthin.

Dieses Forum bietet uns die einmalige Chance, die Diskussion um die Gestaltung der Globalisierung - die ja übrigens längst vor dem 11. September begonnen hatte - und die Diskussion um die Verbesserung der Sicherheit in der Welt - die wir seit dem 11. September verstärkt führen - wieder zusammen zu bringen. Deshalb kann gerade dieses Forum Anstoß dafür geben, den Dialog über globale Sicherheit und globale Gerechtigkeit wieder aufzunehmen; denn ohne globale Gerechtigkeit werden wir keine globale Sicherheit erreichen, und ohne umfassende Sicherheit werden alle Versuche zur Entwicklung globaler Gerechtigkeit zum Scheitern verurteilt sein.

Wir müssen im nationalen Maßstab, aber auch in der internationalen Zusammenarbeit, neue Antworten auf die Bedrohung von Stabilität und Sicherheit geben. Die Gefahr einer traditionellen kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten ist in vielen Teilen der Welt gebannt. Die größte Herausforderung unserer Zeit erwächst aus der so genannten privatisierten Gewalt des internationalen Terrorismus. Dieser Terrorismus - das ist wichtig zu erkennen - ist nicht die Folge der Globalisierung. Ganz im Gegenteil: Jene Verunsicherung über die eigenen Identitäten und Perspektiven, die den Boden für Terrorismus bildet, entsteht gerade in den Regionen der Welt im besonderen Maße, die nicht an der Globalisierung teilhaben.

Der Kampf gegen den Terrorismus - dessen bin ich sicher - wird auf Dauer nur Erfolg haben, wenn er unter dem Zeichen einer größeren globalen Gerechtigkeit geführt wird. Das heißt zugleich: Sicherheit in einem sehr umfassenden Sinne werden wir nur erreichen in einem Zusammenspiel von materieller, sozialer, ökologischer und rechtlicher Sicherheit und - das muss ich hinzufügen - auch nur in einem Klima der Behauptung unterschiedlicher und differenzierter kultureller Identitäten.

Wenn es an Sicherheit weltweit fehlt, spürt das die Wirtschaft zuerst. Das ist nach dem 11. September noch einmal sehr deutlich geworden. Vor den Anschlägen haben wir gesagt: "Wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden, und Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung", und das war gewiss richtig. Ergänzend würde man heute sagen: Sicherheit fördert Entwicklung, aber Entwicklung fördert auch Sicherheit. Das 21. Jahrhundert hat mit einem schrecklichen Fanal begonnen, der Zerstörung der Twin-Towers. Aber ich denke, aus den Trümmern von "Ground Zero" ist ein neues internationales Bewusstsein und damit auch eine neue internationale Zusammenarbeit entstanden.

Wir wissen: Gemeinsames internationales Handeln ist vor dem Hintergrund der immer enger werdenden Verflechtungen unserer Volkswirtschaften wichtiger denn je. Uns verbindet - gerade auf diesem Sektor - inzwischen weit mehr als nur der internationale Handel. Internationale Direktinvestitionen - auch entsprechende Unternehmensverflechtungen - haben im letzten Jahrzehnt erheblich an Bedeutung gewonnen. Ein Beispiel dafür: Der Umsatz aus deutschen Beteiligungen in den USA ist heute sechsmal so hoch wie die deutschen Exporte in die Vereinigten Staaten. Durch diesen Zusammenhang wirkt sich Wachstumsschwäche, etwa in der amerikanischen Wirtschaft, direkt - nicht nur vermittelt über zurückgehenden Export - auf Europa und damit naturgemäß auch auf Deutschland aus, und umgekehrt gilt das Gleiche.

Es gibt Anzeichen für einen beginnenden Aufschwung in den Vereinigten Staaten, und gleichzeitig entwickeln sich erfreuliche Signale, dass sich im Laufe des Jahres auch die wirtschaftliche Entwicklung in der EURO-Zone und damit in Deutschland zum Besseren wenden wird.

In einer Welt der engen weltwirtschaftlichen Verflechtung braucht es - dessen bin ich sicher - starke internationale Institutionen, um gemeinsame grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Wir brauchen daher eine weitere Stärkung der Arbeit der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, aber auch der Welthandelsorganisation und nicht zuletzt der Vereinten Nationen. Wir haben erfahren, dass innere und äußere Sicherheit nirgends auf der Welt mehr voneinander zu trennen sind, aber ebenso wenig können wir innere und äußere Entwicklung voneinander trennen. Der bekannte Satz "Global denken - lokal handeln" ist ja richtig, und immer geht es dabei um den Zusammenhang von nationaler Politik und internationaler Zusammenarbeit.

Vor diesem Hintergrund ist es wahr, dass Deutschland als einziger Staat der Welt die Integration zweier Staaten derselben Nation in einen gemeinsamen Staat geschafft hat. Es ist auch wahr, dass dies gelingen konnte, obwohl einer der beiden Staaten, nämlich die frühere DDR, durch ein zentral verwaltetes Wirtschaftssystem schlicht bankrott war.

Das sage ich insbesondere den nicht-deutschen Teilnehmern des Forums: Wir sind sehr stolz darauf, dass wir die Kraft haben entwickeln können, das zu verwirklichen, nicht zuletzt auch deswegen, weil es viele - auch internationale - Partner und Wettbewerber gegeben hat, die gesagt haben: "Dies zu leisten wird eine so gewaltige Kraftanstrengung sein, dass die Deutschen als Wettbewerber auf vielen internationalen Märkten schwächer werden oder gar ganz ausfallen werden". Wenn man heute Bilanz zieht und das fair und aufrichtig tut, dann stellt man fest, dass das Gegenteil dessen eingetreten ist: Die deutsche Wirtschaft verstärkt ihre Marktanteile auf den internationalen Märkten und ist heute - was ihre Wettbewerbsfähigkeit angeht - ungeachtet der gewaltigen Kraftanstrengung, die wir zur Integration Deutschlands haben leisten müssen, stärker als jemals zuvor.

Mir liegt daran, diese gewaltige Leistung, die die Kraft der deutschen Wirtschaft deutlich macht, zu unterstreichen, weil ich schon glaube, dass es wenige Länder in der Welt gibt, die eine solche Integrationsleistung aufzubringen im Stande gewesen wären und vor allen Dingen, deren Wirtschaft eine solche Integrationsleistung zu leisten im Stande gewesen wäre.

Übrigens ist uns diese Integrationsleistung gelungen, ohne die europäischen Stabilitätskriterien, die wir in Europa zur Einführung der gemeinsamen Währung verabredet haben, zu verletzen, auch wenn das gelegentlich in bestimmten Bürokratien anders gesehen wird. Wir haben - trotz dieser gewaltigen Belastung - die Verschuldung im Staatshaushalt nicht weiter erhöht, sondern mit einer konsequenten Konsolidierung begonnen.

Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass sich Deutschland in den vergangenen drei Jahren noch weit darüber hinaus verändert hat. Wir standen vor der enormen Aufgabe - vor dem Hintergrund der Herstellung nicht nur der erfolgten staatlichen Einheit, sondern der wirtschaftlichen und auch sozialen Einheit - , den Anschluss an die Veränderungen in der Welt, die mit dem Begriff Globalisierung beschrieben werden, nicht zu verpassen, sondern im Gegenteil vorne weg zu sein bei der Reaktion auf die veränderten Bedingungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft. Wir hatten also gleichzeitig die gewaltige Aufgabe der gesellschaftlichen und auch der politischen Modernisierung vor uns, und dies nach außen und nach innen.

Mir liegt daran, dass vor einem internationalen Forum einmal deutlich wird, wie weit wir mit den Traditionen der alten Bundesrepublik in der Außen- und Sicherheitspolitik gebrochen haben. Eine der - durchaus guten - Traditionen vor dem Hintergrund der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und des Faschismus in Deutschland war, eine Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die auf die Teilnahme an militärischen Interventionen verzichtete. Das war gleichsam ein Stück Konsens in der alten Bundesrepublik, die man etwas liebevoll als "Bonner Republik" bezeichnet hat.

Die Veränderungen in der Welt haben uns dazu gezwungen, über diese Frage neu nachzudenken. Der Hinweis, als ein geteiltes Land nicht volle Verantwortung auch im internationalen Maßstab übernehmen zu können, stand uns nicht mehr zur Verfügung. Wir waren glücklich darüber. Als Folge dessen hatten wir Außen- und Sicherheitspolitik zu verändern; denn unsere Partner in Europa, aber auch überall in der Welt erwarteten Solidarität in einem nicht eingeschränkten Sinne und erwarteten - als Ultima Ratio gewiss, aber ohne Einschränkungen - auch Teilnahme an gemeinsamer militärischer Intervention.

Ich hoffe, dass deutlich geworden ist, welches Maß an Veränderung in der operativen Politik damit möglich geworden ist, aber auch, welches Maß an Veränderung im Bewusstsein des Volkes zugleich Voraussetzung und Konsequenz dessen gewesen ist. Wir haben das mit unseren Partnern geleistet - allen voran zusammen mit unseren französischen Partnern - , an bestimmten Stationen der Außen- und Sicherheitspolitik: im Kosovo, später in Mazedonien und jetzt auch in Afghanistan im Rahmen der Vereinten Nationen, aber auch durch unsere Bereitschaft, aktiv an "Enduring Freedom" und damit an der militärischen Bekämpfung des Terrors teilzunehmen. Das war gleichsam der außen- und sicherheitspolitische Aspekt der Reaktion und des Sich-Einstellens auf veränderte Bedingungen in der Welt.

Aber wir haben dem Zwang zu mehr Internationalität, die die richtige Antwort auf die Globalisierung ist, auch in der nationalen Politik Rechnung getragen, und zwar sowohl in der Politik, die sich auf die ökonomische Basis unserer Gesellschaft bezieht, als auch in dem, was man kulturellen oder gesellschaftlichen Überbau nennt. Auch hier - damit es nicht zu abstrakt wird - einige Beispiele:

Wir haben eine Steuerreform verwirklicht - insbesondere eine Unternehmensteuerreform - , die Deutschland zu einem unerhört attraktiven Platz für Investitionen aller Art macht, und zwar sowohl für Finanzinvestitionen als auch für Investitionen in die gewerbliche Wirtschaft.

Wir haben damit begonnen - nicht zuletzt als Reaktion auf die Veränderungen der Alterspyramide in unserer Gesellschaft - , die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zu verändern, sie gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen, als Konsequenz veränderter ökonomischer Bedingungen, aber auch als Konsequenz veränderter Bedingungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft. Neben die tradierte Form der Alterssicherung - durch Beiträge der arbeitenden Menschen und der Unternehmen in Deutschland - haben wir das Prinzip der Kapitaldeckung gesetzt und damit zweierlei geleistet: Zum einen ein Stück größere Sicherheit für diejenigen, die älter sind, zum anderen aber - genauso notwendig und entschieden - verstärkte Möglichkeiten, einen Markt zu schaffen, der sich privat mit den Fragen der Alterssicherung befasst. Dieser Markt ist entstanden, und er wächst in einem atemberaubenden Tempo.

Ich denke, beide Beispiele zeigen, dass wir im internationalen Maßstab im Inneren unseres Landes dabei sind, uns in sehr schneller Folge auf die Veränderungen durch die Globalisierung einzustellen.

Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass wir Gleiches geleistet haben und leisten werden bei dem, was man gesellschaftlichen Überbau nennt. Auch hier geht es um einen Zuwachs an Internationalität. So haben wir ein Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt und sind dabei, Einwanderungsregelungen zu schaffen, die deutlich machen, dass sich Deutschland als ein offenes Land begreift, als ein Land, das attraktiv sein will für die besten Köpfe der Welt und ihnen Möglichkeiten des Forschens und des Arbeitens, aber natürlich auch Möglichkeiten für Investitionen geben will. Die so genannte Green-Card-Regelung, die wir eingeführt haben, ist nur ein Aspekt dieser notwendigen und wichtigen Veränderung.

Wir haben uns in dem Prozess, der jetzt folgt, weiter vorgenommen, sowohl das Bildungssystem - das in sich durchaus gerecht ist, aber effizienter gemacht werden muss - als auch die Frage der Qualifizierung von Menschen, deren Qualifikation durch den wirtschaftlichen Fortschritt entwertet worden ist, in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen.

Diese Beispiele mögen zeigen, dass wir uns in ökonomischen und gesellschaftspolitischen Fragen als ein Land begreifen, dessen Antwort auf Globalisierung "mehr Internationalität" heißt und dessen Politik auf mehr internationale Zusammenarbeit gerichtet ist und gerichtet bleiben wird.

Einen weiteren Aspekt, der dazu gehört, möchte ich gerne - zum Schluss meiner Ausführungen, auf deren Diskussion ich mich freue - nennen: Wenn man sich fragt, was in Europa die richtige Antwort auf die Veränderungen an der ökonomischen Basis in der Welt - also auf die Globalisierung - ist, dann muss die Antwort aus unserer Sicht heißen: "Dieses Europa muss sich erweitern, und zugleich muss es vertieft werden". Anders ausgedrückt: "Europa" und "mehr Europa" sind unsere Antworten auf die Herausforderung der Globalisierung. Hier liegt der Grund dafür, dass wir mit unseren Partnern zusammen eine Erweiterung Europas unterstützen; nicht nur, um Märkte in Osteuropa verfügbarer zu machen, sondern, weil wir damit die Vision verfolgen, Europa - und zwar das ganze Europa - auf Dauer zu einem Ort wirtschaftlicher Prosperität und vor allen Dingen dauerhaften Friedens zu machen. Das geht eben nur durch die Erweiterung einerseits, und, um dieses erweiterte Europa politisch führbar zu halten, durch mehr - und nicht weniger - Integration andererseits. Mir liegt daran zu verdeutlichen, dass nach unserer festen Überzeugung die europäische Perspektive nicht ein Modell ist, das andere blind übernehmen könnten, sondern sie unsere spezifische Antwort auf die Herausforderungen ist, die mit der Globalisierung verbunden sind.

Ein Letztes ist mir in diesem Zusammenhang noch wichtig. Mir geht es darum, dass wir aus dem Fanal, mit dem das 21. Jahrhundert begonnen hat - ich habe über den 11. September geredet - , die richtige Konsequenz ziehen, nämlich die, zu mehr internationaler Zusammenarbeit zu kommen, weil wir wissen, dass gemeinsames internationales Handeln vor dem Hintergrund der immer enger werdenden Verflechtungen unserer Volkswirtschaften wichtiger denn je ist, und weil wir wissen, dass uns über die wirtschaftliche Zusammenarbeit viel mehr miteinander verbindet, als uns gelegentlich im täglichen Handeln bewusst wird.

Was ich mir wünsche und was, glaube ich, auf diesem Forum immer wieder deutlich wird, ist, dass ein so umfassend angelegter Sicherheitsbegriff, der Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammenbringt, die richtige Antwort auf die Herausforderungen ist. Was ich Ihnen und uns allen wünsche, ist ein erfolgreiches Jahr 2002, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, sondern auch im Sinne der friedensstiftenden Idee, die zu stärken wir uns alle hier miteinander versammelt haben.