Redner(in): k.A.
Datum: 03.02.2002
Untertitel: Die mörderischen Anschläge des 11. September haben globale Sicherheit und Stabilität in einer präzedenzlosen Weise herausgefordert. Das öffentliche Bewusstsein über die veränderten Risiken und die Herausforderungen im neuen Jahrhundert haben sich dadurch erheblich verändert.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/68692/multi.htm
Globale Sicherheit - Neue Herausforderungen, neue Strategien "
I. Die mörderischen Anschläge des 11. September haben globale Sicherheit und Stabilität in einer präzedenzlosen Weise herausgefordert. Das öffentliche Bewusstsein über die veränderten Risiken und die Herausforderungen im neuen Jahrhundert haben sich dadurch erheblich verändert. Gleichzeitig wurde vieles bestätigt und bekräftigt, was in der interdependenten Welt von heute, in der "einen Welt", von einer modernen Sicherheitspolitik im europäischen, transatlantischen und im globalen Rahmen geleistet werden muss. Die Denkmuster und Chiffren des Ost-West-Konflikts gehören in die historische Asservatenkammer.
Wir befinden uns - und dies nicht erst seit dem 11. September - in einer neuen Phase der internationalen Beziehungen. Die alte, bipolare System- und Machtkonkurrenz ist überwunden. Insbesondere das prekäre nukleare Gleichgewicht des Schreckens ist Vergangenheit. Im globalen Umfeld des neuen Jahrhunderts werden die Staaten der euro-atlantischen Gemeinschaft mit veränderten Risiken konfrontiert. Weniger denn je gibt es Oasen der Sicherheit und Stabilität. Sicherheit ist unteilbar geworden. Die Aufgabe, globale Sicherheit zu gewährleisten, stellt sich unter veränderten Rahmenbedingungen. Sie ist dringlicher, aber keinesfalls einfacher geworden. Wir sehen uns komplexeren und weniger berechenbaren Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen gegenüber. Die Zahl der Akteure hat sich vervielfacht. Neben die staatlichen treten nicht-staatliche, transnationale Kräfte, die jedoch von Regierungen und staatlichen Strukturen unterstützt werden können. Regionale Konflikte,"low intensity conflicts" rund um den Globus, internationaler Terrorismus, das beunruhigende Potenzial der Entwicklung und Verbreitung biologischer, chemischer, radiologischer und nuklearer Kampfstoffe sowie weiterreichender ballistischer Trägermittel haben nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts teilweise erheblich an Bedeutung gewonnen. Sie können die Sicherheit moderner Gesellschaften auch über große Entfernungen beeinträchtigen. Der klassische zwischenstaatliche Krieg ist unwahrscheinlicher geworden. Innerstaatliche Konflikte und Bürgerkriege haben sich zur dominierenden Konfliktform entwickelt. Diese können aber die regionale und globale Sicherheit ebenso stark beeinflussen.
Gleichzeitig sind Formen der asymmetrischen Kriegführung in den Vordergrund gerückt. Neue Konfliktformen wie "net war" und "cyber war" sind bereits denkbar, wenn nicht sogar schon erkennbar. Bisherige Abschreckungs- und Verteidigungsmechanismen funktionieren in diesen Zusammenhängen nur noch begrenzt. Jenseits der unmittelbar militärischen Zusammenhänge gilt es, tiefer liegende konfliktauslösende Entwicklungen zu erkennen. Unterentwicklung, Armut, ungebremste Bevölkerungsexplosion, Ressourcenverknappung, organisierte Kriminalität sind wesentlich, um - oft im Zusammenhang mit dem unseligen Nationalismus und ideologisch-religiöser oder ideologisch-ethnischer Verbohrtheit - ganze Staaten und Regionen zu destabilisieren. Auf gesamtpolitischer Ebene hat eine Verschiebung der geographischen Problemachsen stattgefunden.
Der Ost-West-Konflikt gehört der Geschichte an, damit auch die Teilung Europas. Russland ist dabei, sich zum strategischen Partner nicht nur der Europäer, sondern auch des früheren weltpolitischen Antagonisten USA zu entwickeln. Daraus ergeben sich völlig neue Perspektiven zum gemeinsamen Engagement in der globalen Friedenssicherung. Demgegenüber wird die Nord-Süd-Dimension der globalen Aufgaben und der zu bewältigenden Probleme in einer multipolaren Welt immer stärker sichtbar.
Vorausschauende Außen- , Sicherheits- , Wirtschafts- und Entwicklungspolitik muss erkennen:
Ohne Überwindung der fundamentalen Spaltung der Welt in Arm und Reich, ohne die Schaffung wirklicher Perspektiven für die ökonomische und soziale Entwicklung gerade in den Ländern der südlichen Hemisphäre, ohne die Begrenzung des Bevölkerungswachstums und der damit verbundenen sozialen Verwerfungen, ohne die Schaffung politischer und gesellschaftlicher Strukturen, die auf demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien beruhen, bestehen in Staaten und Regionen schlechte Voraussetzungen für innere Stabilität, eine berechenbare, friedliche Außenpolitik und für eine Politik des fairen Interessenausgleichs in den internationalen Beziehungen. II.
Aus dieser Analyse leiten sich sicherheitspolitische Ziele für eine global orientierte Stabilitäts- und Sicherheitspolitik ab, von denen ich vier in aller Kürze erläutern möchte:
Erstes Ziel: Erfolgreiche Prävention und wirksame Reaktion.
Prävention gehört in den Mittelpunkt moderner Sicherheitspolitik. Krisen und Konflikte vor Ort verhindern, um deren Auswirkungen auf unsere Sicherheit und unseren Stabilitätsraum zu vermeiden, ist in der Welt der Globalisierung imperativ. Dabei ist klar: Armut, Unterentwicklung, ethnische Probleme, politische Konflikte, Demokratiedefizite et cetera lassen sich nicht über Nacht beseitigen. Deshalb wäre es unverantwortlich und kurzsichtig, allein auf die - in der Regel nur längerfristig zu erreichende - Beseitigung struktureller Ursachen von Krisen und Konflikten zu setzen. Dies wäre eine völlige Fehlinterpretation des erweiterten Sicherheitsbegriffs. Stattdessen müssen wir in der Lage sein, auch kurzfristig wirksame Instrumente der Krisenprävention und -bewältigung, nicht zuletzt im militärischen Bereich, zum Einsatz zu bringen. Der vorbeugende Einsatz von Friedenstruppen in Mazedonien ist ein Beispiel hierfür. Tatsächlich sind Prävention, Reaktion und Krisennachsorge Teile eines Prozesses, die oft eng zusammenhängen.
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist zum Beispiel einerseits eine Reaktion auf gescheiterte Prävention, andererseits ist er der Versuch, die aktuelle Krisennachsorge mit einer ungewöhnlich ambitionierten Präventionsstrategie zu versehen. Wirksames Krisenmanagement bedeutet keine Dominanz des Militärischen. Die potenzielle Rolle leistungsfähiger Streitkräfte in allen Phasen des Krisenmanagementprozesses sollte allerdings anerkannt werden. Nur mit militärischen Mitteln konnte die NATO Milosevic aus dem Kosovo vertreiben. Nur mit militärischen Mitteln konnten die terroristischen Strukturen des Osama Bin Laden und der al-Qaida in Afghanistan zerschlagen werden. Nur mit Streitkräften als Teil einer mehrdimensionalen internationalen Strategie können wir aber auch das sichere Umfeld in Südosteuropa und in Afghanistan für den politischen Wiederaufbau, für wirtschaftliche Erholung und das friedliche Zusammenleben der Menschen gewährleisten.
Und noch etwas ist wichtig, wenn wir über Prävention und Reaktion reden: Wer wirksam Krisen verhüten will, muss bereit sein, in die hierfür erforderlichen Mittel zu investieren - beispielsweise in moderne Früherkennungs- und Aufklärungsfähigkeiten, die der Politik rechtzeitiges Handeln ermöglichen.
ZweitesZiel: Stärkung der Zusammenarbeit in und zwischen den Regionen.
Gerade weil wir in einer Welt der globalen Vernetzung leben, führt an der Notwendigkeit der Krisenvorsorge, der Vertrauensbildung, der Entwicklung kooperativer Strukturen, der Zusammenarbeit zwischen Staaten in den Regionen kein Weg vorbei. Es bedurfte nicht der erneuten krisenhaften Zuspitzung des Kaschmir-Konflikts oder des weitgehenden Zusammenbruchs des Nahost-Friedensprozesses, um dies nachdrücklich in Erinnerung zu rufen. Europa hat in dieser Hinsicht Modellcharakter entwickelt. Was sich über fünf Jahrzehnte entwickelt hat, kann natürlich nicht einfach übertragen werden. Aber unsere Erfahrungen und Ergebnisse in der Vertrauensbildung, im KSZE-Prozess, in der Rüstungskontrolle können durchaus an anderen Stellen der Welt nutzbar gemacht werden. Wir Europäer haben sie selbst erneut bei der Konzipierung des Stabilitätspakts für Südosteuropa genutzt.
Das geeinte, demokratische Europa ist ohne Zweifel ein Stabilitätsanker in einer Welt im Umbruch. Im Interesse der globalen Sicherheit und Stabilität muss es daran interessiert sein, seine politischen, ökonomischen und humanitären Ressourcen in anderen Regionen - in Afrika, Asien, Südamerika - zum Tragen zu bringen. Warum sollte es nicht möglich sein, zum Beispiel im Kaspischen Raum, wo wir es mit einem Cocktail an Krisenphänomenen zu tun haben, europäische Ansätze und Erfahrungen aus dem KSZE-Prozess einzubringen? Was Europa heute nicht in solche Regionen der Instabilität investiert, wird morgen auf Europa und auf andere Regionen in Form von negativen ökonomischen und ökologischen Entwicklungen, Migrationsdruck, Kriminalität oder gar Terrorismus zurückschlagen.
Drittes Ziel: Stärkung der internationalen Organisationen und deren Zusammenarbeit.
Um die globale Sicherheit zu stärken, müssen die komplementären Stärken aller Sicherheitsorganisationen genutzt werden. Nationale Alleingänge oder Ansätze, die allein auf eine Institution setzen, stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn umfassendes Krisenmanagement - von der Prävention über die Krisenreaktion bis zur Nachsorge - gefordert ist. Das Krisenmanagement in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Mazedonien, die Umsetzung des Stabilitätspakts für Südosteuropa, aber auch der Kampf gegen den internationalen Terrorismus haben eindrücklich unterstrichen, dass das Zusammenwirken von VN, NATO, EU, OSZE und anderer Institutionen ein eigenes sicherheitspolitisches Gewicht gewonnen hat. Dies impliziert auch, dass wir diese Institutionen selbst weiter stärken und leistungsfähiger machen müssen. Gerade in der Welt der Globalisierung bedarf es internationaler Regelsetzungen und international handlungsfähiger Organe. Die Vereinten Nationen haben sich im Kampf gegen den internationalen Terror als unersetzliche Kraft und Handlungsrahmen der Völkergemeinschaft profiliert. Dieses Momentum gilt es, aufrechtzuerhalten und die notwendigen Reformen auch zur Verbesserung des Krisenmanagements, Stichwort Brahimi-Bericht, weiter voranzutreiben.
Die NATO wird durch die Umsetzung von DCI und die Anpassung ihrer Fähigkeiten an die Herausforderung des internationalen Terrorismus ihre zentrale Rolle für die europäische Sicherheit bewahren und ihre Bedeutung für die globale Sicherheit ausbauen. Dazu wird auch die neue Dynamik im Verhältnis zu Russland und die sich intensivierende sicherheitspolitische Kooperation mit der EU im Bereich des Krisenmanagements beitragen. Für die EU eröffnen sich durch die neuen Möglichkeiten zur Durchführung militärischer und ziviler Krisenmanagementaufgaben neue Perspektiven, um an der Friedenssicherung innerhalb und außerhalb Europas mitzuwirken.
Viertes Ziel: Stärkung globaler Abrüstung und Nichtverbreitungspolitik
Nichts wäre politisch und konzeptionell falscher als mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts Rüstungskontrolle und Abrüstung ad acta legen zu wollen. Denn auch heute, zu Beginn des neuen Jahrzehnts, bleiben Abrüstung und Nichtverbreitung unter veränderten Bedingungen von großer Bedeutung, um den Frieden zu sichern, Vertrauen zu schaffen, Konflikte präventiv zu verhindern. Ohne wirksame multilaterale Vereinbarungen und internationale Normsetzungen untergraben wir die globale Sicherheit und Stabilität. Niemand kann die Augen davor verschließen, dass angesichts der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Risiken, die ihr Besitz nicht nur in den Händen bestimmter Regierungen, sondern auch nicht-staatlicher Akteure, mit sich bringt, konzertierte Anstrengungen im internationalen Rahmen erforderlich machen.
Ich kann dies hier nicht im Einzelnen ausführen. Aber für mich steht zum Beispiel fest, dass das Inkrafttreten des Teststoppvertrages das nukleare Nichtverbreitungsregime im globalen Rahmen deutlich stärken würde. Gleichermaßen wichtig erscheint mir das Ziel, auch für das B-Waffen-Übereinkommen vernünftige Verifikationsregelungen zu finden. Ein Abkommen ohne Verifikation ist zahnlos. Was im nuklearen und chemischen Bereich erreicht wurde, ist auch für die biologischen Kampfstoffe unerlässlich.
III. Wenn ich die vorgetragene Analyse und die formulierten Ziele für eine Politik der globalen Friedenssicherung noch einmal in drei Punkten komprimieren darf, dann heißt dies:
Wir müssen erstens unserer Politik ein umfassendes, ein erweitertes Verständnis von Sicherheit zu Grunde legen, das die Mehrdimensionalität der Ursachen von Krisen und Konflikten wie auch der notwendigen Antworten auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen von heute zu Grunde legt.
Wir brauchen zweitens eine Politik, die gleichermaßen auf die langfristige Veränderung von Strukturen und die Beseitigung tiefer liegender Konfliktursachen sowie auf die Fähigkeit zu einer unmittelbar wirksamen Politik der Friedenssicherung abzielt.
Wir brauchen drittens eine Politik, die regionales Handeln mit globalem Denken und die globales Handeln mit den Notwendigkeiten regionaler Stabilitätspolitik verknüpft.