Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.02.2002

Untertitel: "Es ist wichtig, dass deutlich wird, dass jedenfalls Deutschland Vertrauen in die fundamentalen Daten dieses Landes hat und darin, dass es gelingen kann und - wenn Sie alle mithelfen - wird, die gegenwärtige Krise zu überwinden."
Anrede: Verehrter Herr Präsident von Buch, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/69747/multi.htm


Ein paar Bemerkungen zu dem, was Herr von Buch eben gesagt hat und was Gegenstand der Gespräche während meiner Reise, nicht zuletzt hier in Argentinien, gewesen ist.

Zunächst einmal: Die wichtige Arbeit der Kammer - nicht nur für die zu Betreuenden hier in Argentinien, sondern auch für die Vermittlung nach Deutschland bei Problemen und Problemlösungen - kann man nicht hoch genug einschätzen. Ich will Ihnen ein Kompliment für diese Arbeit machen. Sie ist Ausdruck von historisch begründeten und gewachsenen Beziehungen zwischen Argentinien und Deutschland, die auf Vertrauen, aber auch auf gemeinsamen Interessen beruhen. Das war so; das ist gegenwärtig so, und das soll nach meinem Verständnis auch so bleiben - unabhängig von krisenhaften Entwicklungen, die es hier ohne Zweifel gibt.

Wir hatten natürlich zu entscheiden; es gab Stimmen in diese Richtung: "Macht es Sinn, jetzt nach Argentinien zu fahren? Ist es nicht viel sinnvoller, zunächst die Probleme hier im Land zu lösen, ehe man offizielle Besuche macht?" Ich denke, wenn wir diesen Stimmen nachgegeben hätten, dann hätten wir einen Fehler gemacht. Es ist wichtig, dass deutlich wird, dass jedenfalls Deutschland Vertrauen in die fundamentalen Daten dieses Landes hat und darin, dass es gelingen kann und - wenn Sie alle mithelfen - auch gelingen wird, die gegenwärtige Krise zu überwinden.

Zu den Einzelheiten werde ich gleich noch ein paar Bemerkungen machen. Aber dass dies unsere Auffassung ist, war wichtig auszudrücken. Das möchte ich auch in die argentinische Gesellschaft hinein - natürlich insbesondere in die Business Community - vermittelt wissen. Denn ohne dieses Vertrauen, das Sie bei Partnern haben und behalten müssen, werden Lösungen sehr viel schwieriger sein. Aber Lösungen muss und kann es auch geben. Das war das Erste.

Das Zweite: Ich möchte gerade Ihnen als denjenigen, die sich in erster Linie mit wirtschaftlichen Gegebenheiten zu befassen haben, sicher aber auch kulturell interessiert sind, sagen, dass es nicht zuletzt im Kulturellen gewachsene Beziehungen zwischen Argentinien und Deutschland gibt. Gerade Menschen wie Sie werden das nicht gering schätzen. Auch das ist ein Grund, weshalb wir die Beziehungen ausbauen wollen. Auch, was beispielsweise Begegnungen junger Menschen an unseren wissenschaftlichen Hochschulen angeht, ist das ein wichtiger Punkt, der das Verständnis füreinander und das Auffinden gemeinsamer Interessen untereinander nur fördern kann.

Ich will übrigens nicht verschweigen, gerade in der jetzigen Situation, dass Argentinien - Ihr Land also - eine sehr wichtige Arbeit in den internationalen Organisationen leistet. Es ist keineswegs nur so, dass Argentinien zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds etwas will, sondern Ihr Land gibt auch etwas. Ich will nur daran erinnern, dass Argentinien im Rahmen der Vereinten Nationen auf dem Balkan engagiert ist. Das ist ziemlich weit weg von hier, aber Ihr Land ist engagiert in der Wahrnehmung internationaler Verpflichtungen. Das zeigt, dass das Land Verantwortung übernommen hat und bereit ist, sie weiter zu übernehmen - und dies ganz unabhängig von der ökonomischen Krise, die es hier im Land gibt.

Einen weiteren Punkt möchte ich gern ansprechen, nämlich das gewachsene Verständnis für eine politische Konzeption, die wir "offenen Regionalismus" nennen. Worum geht es dabei? Sie werden wissen, dass wir in Europa dabei sind, einen Markt mit 500 Millionen Konsumenten zu schaffen - 500 Millionen deswegen, weil die gegenwärtige Europäische Union um die ost- und südosteuropäischen Staaten erweitert wird. Diesen schwierigen, aber notwendigen Prozess gehen wir entschlossen an; gerade wir Deutschen. Ich glaube, dass diese Form der Schaffung von Märkten, der Vertiefung der Zusammenarbeit - natürlich heruntergebrochen auf die ganz andersartigen Problemlagen in Südamerika - , ein Beispiel sein könnte, wie man Märkte auch hier politisch näher zusammenbringt und sie damit ökonomisch interessanter macht.

Zum Beispiel ist nicht gering zu schätzen, dass wir möglichst schnell eine engere Beziehung zwischen MERCOSUR auf der einen und der Europäischen Union auf der anderen Seite erreichen sollten. Wir haben in Europa ein eminentes Interesse daran. Aber ich denke, das gibt es auch hier. Spezifische Interessen auf dem Agrarsektor dürfen dieser wichtigen politischen und ökonomischen Entwicklung nicht im Wege stehen, sondern müssen so rasch wie möglich überwunden werden.

Wenn man als Europäer von offenen Märkten redet, dann darf das kein Prozess sein, der einseitig verläuft. Wenn wir offene Märkte in Südamerika, Argentinien, Brasilien und anderswo wollen, dann müssen wir auch offene Märkte in Europa schaffen - Agrarprodukte übrigens eingeschlossen, damit ich richtig verstanden werde. Das darf also kein einseitiger Prozess bleiben, sondern muss ein gleichgewichtiger werden. Dabei ist das, was Argentinien inzwischen zur Schaffung von mehr Dynamik in den Verhandlungen zwischen Europa und dem MERCOSUR beizutragen bereit ist, außerordentlich wichtig.

Eine Bemerkung würde ich gern zu der aktuellen Problematik machen: Ich denke, da sind zwei Gesichtspunkte wichtig. Natürlich ist das, was der IWF an Reformansätzen verlangt, hier in Argentinien eine wichtige und notwendige Voraussetzung für eine überzeugende Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere über den IWF selbst natürlich. Aber man muss sich die Frage stellen: Wie kommt dieser Prozess in Gang? Ich habe versucht, hier deutlich zu machen, dass man einer Gefahr nicht erliegen darf, nämlich, dass die internationalen Finanzorganisationen völlig zu Recht sagen: "Wir brauchen ein überzeugendes Sanierungsprogramm, und wenn Ihr das implementiert habt, bekommt Ihr Hilfe." Die andere Seite, die hiesige, sagt: "Wir können erst dann die politische Kraft zur Implementierung eines solchen Sanierungsprogramms entwickeln, wenn wir zuvor Hilfe bekommen haben." Wenn wir es gestatten, dass sich beide Positionen gleichsam gegenüberstehen, dann entsteht das, was man einen Teufelskreis nennt, und der darf nicht entstehen. Also muss es ein überzeugendes Programm geben, das zwischen der argentinischen Regierung und dem IWF abgestimmt ist. Man sollte es schrittweise implementieren und je nach Fortschritt der Implementierung Teile von Hilfe, die man beschließt, auch gewähren, so dass dieses Verharren im Status quo nicht entstehen kann. Das scheint mir wichtig zu sein.

In diesem Sinne gibt es eine hohe, sogar sehr hohe, Erwartung nicht nur an die Bereitschaft, Reformfähigkeit zu erklären, sondern diese Reformfähigkeit auch unter Beweis zu stellen. Und es gibt die Bereitschaft, über Stufen der Implementierung zu reden. Letztlich wird das im IWF entschieden werden müssen. Aber Deutschland will seine Rolle im IWF wahrnehmen, um wirklich hilfreich zu sein.

ZweiSchlussbemerkungen: Zum Ersten möchte ich davor warnen, in einer solchen Krisensituation den Ausweg im Protektionismus zu suchen. Das würde bestenfalls sehr kurzfristige Wirkungen haben. Von Dauer könnten sie nicht sein, und selbst die kurzfristigen Wirkungen wiesen in die falsche Richtung. Also wäre es wichtig, dass die argentinische Gesellschaft versteht - das ist insbesondere Sache der Eliten in diesem Lande - , dass Protektionismus kein Rezept zur Lösung der ökonomischen Krise ist.

Zum Zweiten: Mein Wirtschaftsminister, Herr Müller, hat das eben in einer Pressebegegnung, wie ich fand, überzeugend ausgedrückt. Er sagte, bezogen auf die Investitionen, die man aus dem Ausland brauche - aus Deutschland und anderswo - , müsse man aufpassen, dass aus Investoren nicht Gläubiger würden. Eine solche Entwicklung kann in der Tat nicht richtig sein, denke ich. Das muss im Land selber verhindert werden. Mein Eindruck ist, dass man das erkannt hat und keine Ungleichbehandlung zwischen denen will, die hier als In- und Ausländer investieren. Das wäre auch verhängnisvoll. Das würde nur dazu führen, dass es nicht gleichbleibend viele oder mehr Investitionen gibt, sondern keine mehr. Daran kann niemand ein Interesse haben.

Wenn man einen Strich darunter zieht, glaube ich, dass die fundamentalen Daten dieses Landes - die Ausbildung der Beschäftigten, die Weltoffenheit derer, die im Bereich des Kulturellen, in der Wissenschaft und Wirtschaft verantwortungsvolle Positionen haben - berechtigt zu der Annahme Anlass geben, dass die Krise mit internationaler Hilfe gelöst werden kann. Daran will sich Deutschland maßgeblich beteiligen. Ich denke, das ist im Interesse des Landes, seiner Menschen, seiner Wirtschaft und damit letztlich auch im Interesse der Wirtschaft in Deutschland, die in ganz besonderer Weise auf offene Märkte und auf Stabilität der Märkte, auf denen sie tätig ist, angewiesen ist.

Ich möchte mich bei Ihnen herzlich dafür bedanken, insbesondere bei den wirtschaftlich Tätigen aus Argentinien, dass Sie hierher gekommen sind und immer wieder Ihre Bereitschaft erklärt haben, mit meinem Land und seiner Wirtschaft eng zusammenzuarbeiten.