Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.03.2002

Untertitel: Ich weiß nicht, ob man ihn hier in den Räumen der Deutschen Bank zitieren darf, aber von Mao Tse-tung stammt der schöne Satz: "Nicht nur die Hälfte des Himmels, auch die Hälfte der Erde den Frauen."
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/20/72020/multi.htm


ich weiß nicht, ob man ihn hier in den Räumen der Deutschen Bank zitieren darf, aber von Mao Tse-tung stammt der schöne Satz: "Nicht nur die Hälfte des Himmels, auch die Hälfte der Erde den Frauen." Ich finde, das ist in doppelter Hinsicht ein bemerkenswerter Satz. Er bezeichnet zwei Begründungszusammenhänge für Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter: Zum Ersten denjenigen, der mit Gerechtigkeit zu tun hat, und zum Zweiten den, der mit Notwendigkeit zu tun hat.

Zu Beidem möchte ich gerne etwas sagen.

Zunächst einmal: Ist die Herstellung von Gleichberechtigung und Gleichstellung nur eine Aufgabe der Politik oder nicht auch eine Aufgabe der Gesellschaft? Ich denke, dass dieser Kongress eines deutlich macht - er ist ja nicht der einzige, der zu diesen Fragen stattfindet: Es ist eine Aufgabe der Gesellschaft ebenso wie der Politik. Die Politik - darüber wird zu reden sein - hat Rahmenbedingungen zu setzen, um mehr Gleichberechtigung herstellen zu können. Rahmenbedingungen, die wir versucht haben zu setzen, aber bei denen wir uns natürlich erst am Anfang befinden.

Ich will vor allen Dingen drei Bereiche nennen, um die es mir jedenfalls geht. Einmal ist das der Bereich der Bildung, zum anderen der Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik und drittens der mit der Bildung zusammenhängende Bereich der Betreuung.

Was heißt Chancengerechtigkeit im Bildungssektor? Ich denke, wir haben in den letzten zehn, zwanzig, dreißig Jahren einige Fortschritte gemacht, was die Frage der Chancengerechtigkeit von Mädchen und Jungen angeht. Diese Fortschritte sind wichtig, reichen aber nicht aus. Wenn es früher in den Familien aus sozialen oder aus Einkommensgründen nicht für mehrere Kinder reichte, Zugang zu den höheren und höchsten Schulen in Deutschland zu verschaffen, galt der Satz: "Der Junge soll die bessere Ausbildung bekommen, das Mädchen heiratet sowieso."

Ich denke, durch die Bildungsdebatten noch in der alten Bundesrepublik gehört dieser Satz Gott sei Dank der Geschichte an. Wir haben heute die Situation, dass noch nicht in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen, aber im Großen und Ganzen dieser Satz jedenfalls nicht mehr gilt. Was den Zugang zu den Bildungsinstitutionen angeht, haben wir weitgehend Gerechtigkeit hergestellt.

Wo wir großen Nachholbedarf haben - und darüber wird zu reden sein - , ist der Bereich der Chancengleichheit im Beruf. Dabei haben wir die Situation, dass die schulischen und auch die universitären Leistungen von Mädchen und jungen Frauen mindestens genauso gut sind wie die der jungen Männer. Es gibt Untersuchungen darüber, dass sie meistens sogar besser sind. Das als Voraussetzung für Chancengleichheit, die über Jahre vor allem aus Gründen der Gerechtigkeit angestrebt worden ist.

Das ist auch heute noch wichtig. Aber daneben haben wir heute allerdings einen weiteren Begründungszusammenhang ins Auge zu fassen, nämlich den der Notwendigkeit, der ökonomischen Notwendigkeit. Wir leben bereits jetzt in einer Wissensgesellschaft. Die Produkte der Zukunft werden wissensbasierte Produkte sein. Weil das so ist - und daran sind Zweifel nicht erlaubt - , wird es sich eine hochindustrialisierte Gesellschaft, die im scharfen internationalen Wettbewerb steht, einfach nicht mehr leisten können, irgendeine Begabungsreserve im eigenen Volk nicht auszuschöpfen.

Das heißt, neben dem Gerechtigkeitsargument bei der Herstellung von gleichen Chancen zwischen den Geschlechtern tritt das schlicht ökonomische Argument, weil wir es uns aus Konkurrenzgründen und wegen der Sicherung und Mehrung unseres Wohlstandes überhaupt nicht leisten können, erstklassig ausgebildeten und leistungsbereiten Frauen die Möglichkeiten vorzuenthalten, ihre Qualifikationen und Fähigkeiten zum Nutzen der ganzen Gesellschaft anwenden und einbringen zu können.

Das führt dann zu der Frage: Wie schaffen wir es also, eine Situation herzustellen, in der die beruflichen Möglichkeiten realisiert werden können, wenn gleichzeitig die Versorgung von Kindern in der Gesellschaft überwiegend - ich denke, es macht keinen Sinn, darum herum zu reden - nicht nur gegenwärtig, sondern wohl auch in Zukunft Sache der Frauen sein wird?

Das führt zu dem Bereich, in dem es um Rahmenbedingungen geht, die die Politik herzustellen hat. Das ist der Bereich der Betreuung. Ich glaube, dass alle internationalen Vergleiche zeigen, dass Deutschland in diesem Bereich rückständiger ist, als es vor dem Hintergrund der Konkurrenzsituation sein dürfte, in der wir uns befinden. Studien der jüngsten Zeit weisen auf zwei Dinge hin, die aufgeholt werden müssen: Einmal müssen wir die materielle Möglichkeit dafür, Familie und Beruf überein zu bringen, verstärken. Hier haben wir einige Aspekte bereits realisieren können, die wichtig sind, die aber noch nicht ausreichen. Zum anderen geht es um eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, Familie und Beruf dadurch überein zu bringen, dass man Betreuung für Kinder entscheidend verbessert.

Was haben wir im Materiellen gemacht? Ich rede in diesem Zusammenhang nicht über die Erhöhung von Kindergeld, obwohl das, was die materielle Leistungsfähigkeit der Familien angeht, nicht unwichtig ist. Um die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie aufzugreifen, rede ich über die Frage: Was ist steuerlich bei der Verbesserung der Betreuung geschehen?

Wir haben erstmals die Kosten, die entstehen, weil erwerbsbedingt Betreuung für Kinder erforderlich ist, steuerlich absetzbar gemacht. Wir haben das, zugegeben, in einer bestimmten Höhe getan. Aber immerhin scheint mir das ein Schritt zu sein, der es ermöglicht, Betreuung besser zu gestalten, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Wir haben mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umzugehen gehabt, die ich für bedauerlich halte, die ich aber nicht ändern kann. Das Gericht hatte zu entscheiden, ob es verfassungsmäßig angemessen und vertretbar ist, die Betreuungskosten, die alleinerziehenden Müttern entstehen, in einer bestimmten Höhe durch einen Haushaltsfreibetrag abzusichern oder nicht. Das Gericht hat bedauerlicherweise entschieden, dass das speziell für alleinerziehende Frauen nicht der Fall sein darf, weil sie auf diese Weise besser behandelt werden würden als verheiratete Paare, denen ein solcher Freibetrag nicht gewährt wird.

Ich halte diese Entscheidung für problematisch - deutlicher kann ich aus nachvollziehbaren Gründen nicht werden - , weil sie übersieht, dass die Betreuungsarbeit verheirateter Paare von zwei Personen ausgeübt werden kann, bei Alleinerziehenden dagegen nur von einer Person - entweder von dem Mann oder von der Frau; in der Regel von der Frau. Hier besteht eine Ungleichheit, an die man hätte anknüpfen können. Das Gericht hat aber gesagt: Ihr dürft zwar Haushaltsfreibeträge einräumen, das aber nur machen, wenn Ihr Verheiratete mit Alleinerziehenden gleichstellt. Hätten wir dies getan, hätten wir zwischen 20 und 25 Milliarden Mark mobilisieren müssen. Das geben die öffentlichen Haushalte schlichtweg nicht her.

Ich sage das, um deutlich zu machen, dass es keineswegs nur Schwierigkeiten seitens der Politik gibt, sondern dass bestimmte Vorstellungen von Familien, die nur bedingt etwas mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun haben, in solchen Entscheidungen verpflichtend wirken und verhindern, Rahmen so zu setzen, wie man es selber für angemessen hält.

Ich will hier einen weiteren Bereich nennen, der mir wichtig ist. Was haben wir in der letzten Zeit gemacht, um auf dem Gebiet der Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht nur - aber auch - Existenzgründungen und Verstetigung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu gewährleisten? Es geht also in diesem Zusammenhang um allgemeine wirtschafts- und finanzpolitische Vorhaben, die wir realisiert haben.

Zunächst einmal eine vielleicht in diesem Zusammenhang interessante Zahl: Wir haben zwar den bedauerlichen Tatbestand, dass - ich werde darauf zurückkommen - , was die Besetzung von Führungspositionen speziell in der Wirtschaft angeht, Deutschland im europäischen Durchschnitt nicht gerade führend ist, um das sehr zurückhaltend auszudrücken. Wir haben aber seit Beginn der 90er Jahre den erfreulichen Tatbestand, dass die Zahl von Existenzgründerinnen die Zahl von Existenzgründern deutlich übersteigt. Seit Beginn der 90er Jahre haben wir einen Zuwachs bei den Existenzgründerinnen von 30 Prozent, bei den Existenzgründern nur um 17 Prozent. Natürlich hat das auch mit einem bestimmten Basiseffekt zu tun, aber ich finde, dass dieser Gesichtspunkt wichtig ist und hervorgehoben werden sollte.

Was haben wir vor diesem Hintergrund getan und was wollen wir weiter tun? Zunächst einmal ein paar Bemerkungen zur allgemeinen Wirtschafts- und Finanzpolitik: Wir haben eine bestimmte Haushaltssituation vorgefunden, die uns dazu gezwungen hat, einen strikten Konsolidierungskurs zu fahren; zum einen aus Gründen der Nachhaltigkeit, zum anderen aber auch aus Gründen, die mit der ökonomischen Entwicklung zu tun haben. Nachhaltigkeit meint hier, dass Konsolidierung erforderlich ist, um künftigen Generationen auch auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht jede Gestaltungsmöglichkeit zu nehmen, sondern sie ihnen zu lassen. Wenn man das will, dann verbietet sich ein finanzpolitischer Kurs, der mit Schuldenmachen zu tun hat.

Der zweite Aspekt: Dann - und nur dann - , wenn man einen Konsolidierungskurs macht, wird die Europäische Zentralbank in der Lage bleiben, ein einigermaßen vernünftiges Zinsniveau zu garantieren.

Dann haben wir eine Steuerreform gemacht, die ganz bewusst Selbständigkeit fördert. Ich rede jetzt nicht über den Aspekt, der mit den Körperschaften zu tun hat, sondern über den Aspekt, der Gründerinnen und Gründer besonders interessiert, also über den, der mit den rechtlich als Personengesellschaften organisierten Unternehmen oder Unternehmensgründungen zu tun hat. Diese werden - das ist Ihnen bekannt - nach dem Einkommensteuerrecht veranlagt, und wir haben neben speziellen Förderprogrammen für Existenzgründerinnen mit dieser Steuerpolitik dafür gesorgt, dass wirtschaftliche Tätigkeit in unserem Land erleichtert wird und damit wirtschaftliche Entwicklung stabilisiert werden kann.

Was sind die wichtigsten Aspekte? Wir haben die Unternehmensteuerreform so angelegt, dass im Jahr 2005 - das steht bereits im Gesetzblatt - eine Unternehmensbesteuerung der privatrechtlich organisierten Firmen von dann noch 42 Prozent der Fall sein wird; gegenwärtig sind es in der Spitze 48,5 Prozent. Wir haben eine zweite Maßnahme vorgenommen, die in diesem Zusammenhang von außerordentlich hohem Interesse ist: Wir haben - zwar nicht rechtlich, aber faktisch - die Gewerbeertragsteuer abgeschafft, weil sie - bis zu einer bestimmten Höhe - voll auf die zu zahlende Einkommensteuer anzurechnen ist. Diese Gewerbesteuer beträgt in Deutschland im Durchschnitt etwa 13 Prozent, so dass es möglich ist, auf eine Steuerbelastung von etwa 38 Prozent - auch bei den rechtlich als Personengesellschaft organisierten Unternehmen - zu kommen.

Es gibt einen wichtigen Unterschied zu den Körperschaften, den man sehen muss und der in der Finanzpolitik außerordentlich bedeutungsvoll ist. Dieser Unterschied besteht darin, dass die Körperschaften im Rahmen der sogenannten Definitivbesteuerung etwa gleich hoch besteuert werden, nämlich mit 25 Prozent Körperschaftssteuer und 13 Prozent Gewerbeertragsteuer. Aber deren Steuern sind von der ersten gewonnenen Mark an zu zahlen, während es, wie Sie wissen, bei den Privatgesellschaften eine Grenzbesteuerung ist, die Besteuerung also keineswegs ab der ersten verdienten Mark einsetzt.

Wir haben also mit diesen Maßnahmen ein Unternehmensteuerrecht geschaffen, das - verglichen mit dem europäischen Durchschnitt - zu Steuersätzen geführt hat, die am unteren Ende liegen, das sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann und etwa vergleichbar mit dem Steuerrecht in den meisten amerikanischen Staaten ist. Das vielleicht zu den materiellen Bedingungen, die wir geschaffen haben.

Wir haben dann - insbesondere, was die Frage der Förderung von Gleichstellung und Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern angeht - den gesellschaftspolitischen Teil zu berücksichtigen. Es hat eine große Debatte in Deutschland über die Frage gegeben, ob man Frauenförderung gesetzlich verankern soll und muss, oder ob das nicht der Fall sein sollte. Wir haben mit den Verbänden der Wirtschaft - und zwar mit allen Verbänden - eine lange Diskussion über diese Frage geführt und sind zu der Überzeugung gekommen, dass wir Frauenförderpläne - also Frauenförderung in den Betrieben, auf die die Politik ja direkt keinen Einfluss hat - zwar wünschen, aber eine Vereinbarung mit den Verbänden treffen sollten, um gesetzgeberische Maßnahmen - ich betone: zunächst - zu vermeiden.

Wir haben also mit den vier relevanten Verbänden der deutschen Wirtschaft ein Abkommen über die Notwendigkeit geschlossen, Frauen in den Betrieben in Leitungsfunktionen zu bringen. Dieses Abkommen wird alle zwei Jahre bilanziert, und wir werden dann zu entscheiden haben, ob relevante Fortschritte gemacht worden sind oder nicht. Sollte das nicht der Fall sein, haben wir uns vorbehalten - weil wir diese Aufgabe für gesellschaftspolitisch wichtig halten - , gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, also den Unternehmen - naturgemäß denen ab einer bestimmten Größenordnung - gesetzgeberisch vorzuschreiben, wie sie Frauenförderung zu machen haben.

Wir haben zunächst den Weg der Freiwilligkeit deshalb gewählt, weil wir glauben, dass wir mithelfen sollten, eine Unternehmenskultur zu entwickeln, in der Frauenförderung und Frauen in Leitungsfunktionen selbstverständlich und keine Ausnahme sind.

Ich mache diese wenigen Bemerkungen, weil ich gerne die Gelegenheit wahrnehmen möchte, mit Ihnen über diese und andere Fragen zu diskutieren. Mir kommt es darauf an, dass deutlich wird, dass wir es uns aus politischen ebenso wie aus wirtschaftlichen Interessen heraus überhaupt nicht leisten können, auf eine entschiedene Beteiligung von Frauen in entscheidungsrelevanten Positionen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Politik zu verzichten.

Mein Eindruck ist, dass Veranstaltungen wie diese dazu beitragen können, ein gesellschaftliches Klima, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu schaffen, so dass gesetzgeberische Maßnahmen vielleicht überflüssig werden; aber ich sage noch einmal: Sie können nicht ausgeschlossen werden, wenn innerhalb einer überschaubaren Zeit auf diesem Gebiet nicht deutlich größere Fortschritte erzielt werden, als wir sie bisher zu verzeichnen hatten.