Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.03.2002

Untertitel: Anlässlich des 21st Century Literacy Summit bezeichnete Bundeskanzler Schröder die neuen Medien als eine große Chance für die Gesellschaft und auch für den Staat. Es müsse jedoch bei uns, aber vor allem auch international verhindert werden, dass die neuen Medien zu neuen Spaltungen der Gesellschaften und der Welt insgesamt führten.
Anrede: sehr geehrter Herr Thielen, sehr geehrter Herr Case, sehr geehrter Herr Kimmitt, sehr geehrter Herr Schulte-Hillen, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/95/71495/multi.htm


Verehrte Frau Mohn,

Historiker und Gesellschaftswissenschaftler ordnen einzelnen Epochen gern bestimmte inhaltliche Fragen zu, die dann sozusagen als "prägend" für ein ganzes Jahrhundert gelten können.

Das 19. Jahrhundert wird uns demnach als das Zeitalter der sozialen Frage in Erinnerung bleiben.

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Demokratie und umwälzender technischer Revolutionen.

Viele haben das vergangene Jahrhundert auch als "Zeitalter der Extreme" bezeichnet.

Ein Jahrhundert der blutigen und verheerenden Kriege. Aber auch ein Jahrhundert der Überwindung von staatlicher Barbarei und der Durchsetzung von Menschenrechten.

Ich bin sicher: Die zentrale Frage des neuen, des 21. Jahrhunderts wird wiederum die Bildung sein.

Und zwar Bildung in einer neuen, viel weiter gefassten Definition. Es wird darauf ankommen, nicht nur neue Techniken, sondern auch ganz neue Kulturtechniken zu lernen und zu vermitteln.

Im Grunde geht es auch darum, das "Lernen" zu lernen und zu vermitteln - nämlich ein lebenslanges Lernen:

Also die ständige Anpassung an neue Erkenntnisse und Informationen und an neue Formen der Verbreitung und Diskussion dieser Erkenntnisse.

Deshalb sprechen wir heute völlig zu Recht von der Aufgabe einer weltweiten "Medien-Alphabetisierung".

Gemeint ist die Fähigkeit, Medien im umfassendsten Sinne anwenden, nutzen und verstehen zu lernen.

Denn die Fähigkeit, das Zusammenwirken von Texten, Tönen und Bildern zu verstehen, ihre Aussagen und Botschaften zu entschlüsseln, entscheidet wesentlich über unsere Zukunft - über die Zukunft jedes Einzelnen und die Zukunft unserer Gesellschaften.

Auch das geht nur über Bildung. Bildung ist der Schlüssel zu einer sozial gerechten, wirtschaftlich erfolgreichen und kulturell vielfältigen Gesellschaft.

Deswegen dürfen wir gerade im Bildungssystem nicht nachlassen, immer wieder für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.

Chancengerechtigkeit meint in diesem Fall auch, allen Menschen nicht nur bei uns, sondern weltweit Zugang zu den modernen Medien zu verschaffen.

Denn der versierte und kompetente Umgang mit den modernen Medien ist gleichsam die Eintrittskarte in die Welt von morgen.

Mit dem heute beginnenden transatlantischen Dialog haben Sie zum richtigen Zeitpunkt eine der wichtigsten Fragen überhaupt für die Entwicklung von Frieden, Demokratie und Sicherheit in unserer Welt gestellt.

Der Umgang mit den neuen Medien ist schon so etwas wie eine neue Kulturtechnik.

Viele sprechen ja auch bereits von einer vierten Kulturtechnik, die sich alle Menschen, die das wollen, aneignen sollten.

Ich sage: möglichst alle Menschen, weil sich der Zugang zu den neuen Medien nicht zu einer neuen sozialen Frage entwickeln darf.

Wir müssen bei uns, aber vor allem auch international verhindern, dass die neuen Medien zu neuen Spaltungen der Gesellschaften und der Welt insgesamt führen.

Wir dürfen nicht zulassen, dass einige sich das gesamte Lern- und Wissenspotential erschließen und der vielleicht sogar größere Teil davon ausgeschlossen bleibt.

Vier Fünftel aller menschlichen Tätigkeit wird in Zukunft aus dem Umgang mit Informationen bestehen.

Forschen, Entwickeln, Managen, Beraten und Informieren werden zukünftig unseren Arbeitsalltag bestimmen.

Medien haben seit der Erfindung des Buchdrucks die menschliche Kommunikation beeinflusst, sie erweitert und verändert.

Mit den traditionellen Medien wie Zeitung, Hörfunk und Fernsehen hat sich die Massenkommunikation entwickelt.

Und durch die neuen Medien erfährt die soziale Kommunikation abermals einen Wandel. Online-Medien eröffnen neue Möglichkeiten der individuellen Kommunikation.

Ein Prozess übrigens, der auch die Vermittlung von Politik vor neue Herausforderungen stellt, weil die klassische Öffentlichkeit mehr und mehr abgelöst wird von dem, was Medienwissenschaftler "zerstreute Öffentlichkeiten" nennen.

Es entstehen sogar neue Sprachwelten, eine neue Kultur des Briefschreibens -wenn wir etwa an das Versenden von SMS per Handy oder von E-Mail am Computer denken.

Herausragende Bedeutung in der globalen Kommunikation kommt der Sprache der Bilder zu.

Die Macht der Bilder hat schon längst eine nachdrücklichere emotionale und politische Wirkung als die meisten Leitartikel.

Und weil die Politik um diese Macht der Bilder weiß, versucht sie seit Jahren, aussagekräftige Bilder zu schaffen, die im Gedächtnis haften bleiben.

Und wie die Politik, so bemühen sich auch andere, Bilder zu schaffen - die Werbeindustrie genauso wie Filmemacher und Showbusiness. Ja, wir werden wohl nie vergessen, wie auch der internationale Terrorismus seine eigene, grausame Bilderwelt geschaffen hat.

Bilder sehen eindeutig aus. Aber fast mehr noch als Worte können sie auch zu Manipulation und Demagogie missbraucht werden.

Wie sind die Bilder richtig zu lesen?

Wie entschlüsselt oder entlarvt man die Botschaften der Bilder?

Bilder haben ihre ganz eigene Grammatik. Ihre eigene Botschaft, die zu entziffern augenscheinlich so leicht fällt und doch immer schwieriger wird.

Das wird für jeden offensichtlich, der seinen Kindern über die Schulter schaut:

Wenn sie sich vom "Herrn der Ringe" oder von "Harry Potter" verzaubern lassen, mag uns Erwachsene das erfreuen. Aber wie wirken die diversen Vorabendserien und die unzähligen Cmputerspiele auf die Entwicklung der Persönlichkeit unserer Kinder?

Deshalb haben die Schulen hier eine ganz wichtige Aufgabe. Sie müssen den Kindern helfen, ihre Medienerlebnisse zu verarbeiten.

Daher ist es für mich selbstverständlich, dass Medienbildung Teil der Allgemeinbildung sein muss.

Nur müssen die Schulen auch in die Lage versetzt werden, diesem Auftrag gerecht zu werden.

Wir dürfen es uns nicht zu leicht machen und den Schulen alle schwierigen Aufgaben der Bildung und Erziehung übertragen - sie damit aber allein lassen.

Die Schulen und Lehrer brauchen deshalb die Unterstützung der Medienkonzerne.

Deswegen muss gleichberechtigt neben der Verantwortung für den share-holder-value, auch die soziale Verantwortung der Medienunternehmen vor allem für die Ausbildung junger Menschen stehen.

Diese Verantwortung nehmen die Bertelsmann-Stiftung und die AOL Time Warner-Stiftung in besonderer Weise wahr.

Beide Stiftungen bereichern die schulische Bildung durch ihr weltweites Engagement.

Die heutige Konferenz trägt der Notwendigkeit Rechnung, Wissens- und Handlungsressourcen zielgerichtet zu vernetzen.

Die Bundesregierung hat diesen Weg bereits im Zuge einer sehr erfolgreichen public-private-partnership eingeschlagen, die den meisten hier Anwesenden bekannt sein dürfte.

Ich meine die D21 -Initative, die einen sehr wichtigen Beitrag geleistet hat, um den Übergang von der Industrie- in eine moderne Wissens- und Informationsgesellschaft zu fördern.

Ein vorbildliches Beispiel ist unsere Initiative "Schulen ans Netz", auf die alle Beteiligten zu Recht stolz sind.

Bundesregierung und Wirtschaft haben gemeinsam dafür gesorgt, dass mittlerweile alle 35.000 allgemeinbildenden Schulen ans Internet angeschlossen sind - und zwar kostenlos.

Nur zum besseren Verständnis:

1998 waren erst 15 Prozent der Schulen am Netz. Damit haben wir Deutschland in nur drei Jahren vom letzten Platz an die europäische Spitze geführt.

Ohne das gesellschaftliche Engagement der beteiligten Firmen und die Bereitschaft, unternehmerische Verantwortung über das eigene Unternehmen hinaus zu übernehmen, wäre dies nicht möglich gewesen. Hierfür danke ich den Beteiligten ausdrücklich.

Gerade in den Grundschulen haben wir damit eine wesentliche Voraussetzung für den spielerischen Zugang zur Informationstechnik und zur globalen Kommunikation geschaffen.

Nur so kann Medienkompetenz frühzeitig als Schlüsselkompetenz vermittelt werden. Und die Grundlagen für Medienkompetenz werden nun einmal zuallererst in der Schule erworben.

Mit der Aktion "Schulen ans Netz" haben wir die erste Phase erfolgreich abgeschlossen.

Die zuständige Forschungs- und Bildungsministerin hat aber bereits im Frühjahr des vergangenen Jahres mit der Initiative "Neue Medien in der Bildung" die zweite Phase eingeleitet.

Dabei geht es dann nicht mehr um die technischen Voraussetzungen, sondern um die Anwendung und Vermittlung von Inhalten.

Wer die vier Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen und Medienkompetenz nicht beherrscht, der wird zurückfallen im internationalen Wettbewerb und in einer sich beschleunigt verändernden Arbeitswelt schnell den Anschluss verlieren.

Die Bereitschaft zum ständigen Lernen ist eben nicht nur auf den schulischen Bereich beschränkt. Sie wird von uns allen ein Leben lang erwartet.

Und in dem Maße wie jeder Einzelne seine Fähigkeiten erweitert und anpasst, eröffnen sich auch immer wieder neue Chancen für die Gestaltung des eigenen Lebens.

Wir brauchen eine ausgeprägte Kultur des "lebenslangen Lernens". Eine Lernkultur, die der ständigen Verbesserung von Wissen und Kompetenzen dient.

Neue Medien und Online-Kommunikation bieten hierfür überaus vielfältige und qualitativ hochwertige Produkte an.

Sie ermöglichen "lebenslanges Lernen" gewissermaßen zu Hause.

Allerdings müssen wir dafür Sorge tragen, die Qualität der Angebote sicherzustellen und für die Konsumenten Orientierung zu bieten. Vielleicht wäre es sinnvoll, hierzu eine "Stiftung Bildungstest" ins Leben zu rufen.

Die Nutzung der neuen Kommunikationsmittel und damit die Teilhabe an der virtuellen Welt wird maßgeblich von den damit verbundenen Kosten beeinflusst.

Die Bundesregierung hat mit der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes die Voraussetzungen für einen Boom auf den IT-Märkten geschaffen.

Auch im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit arbeiten wir daran, die Zugangskosten zur weltweiten Kommunikation gerade für die ärmeren Bevölkerungen zu senken.

Die weltweite Liberalisierung der Märkte ist da sicher ein geeigneter Weg.

Seit der vollständigen Öffnung der Märkte sind die Preise in Deutschland für den Internet-Zugang deutlich zurückgegangen. Allein in den vergangenen beiden Jahren um fast 50 Prozent.

Mittlerweile sind die Minutenpreise für die Internet-Nutzung nirgendwo sonst in Europa so günstig wie bei uns.

Dies hat zu einem starken Anstieg der Nutzerzahlen beigetragen. Innerhalb von nur drei Jahren hat sich die Zahl der Internet-Nutzer in Deutschland auf rund 30 Millionen vervierfacht. Diese Steigerungsrate liegt deutlich oberhalb der Zunahme in den Vereinigten Staaten.

Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes hat seit 1998 darüber hinaus zu einem regelrechten Gründungsoom in den Branchen für wissensintensive Dienstleistungen geführt.

Nicht zuletzt dadurch trägt die Telekommunikationsbranche überproportional zum Beschäftigungsaufbau in Deutschland bei.

Die Informations- und Kommunikationswirtschaft zählt inzwischen mit mehr als 830.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von mehr als 130 Milliarden Euro zu den führenden Branchen unserer Volkswirtschaft.

Die neuen Medien sind aber auch eine große Chance für den Staat. Wir haben darum die Verwaltung im Sinne eines modernen, dienstleistungsorientierten Staatsverständnisses reformiert.

Beamte und Angestellte werden fortlaufend geschult und mit den neuen Medien und ihren Anwendungen vertraut gemacht.

In einigen Bereichen sind wir längst Vorreiter der gesellschaftlichen Entwicklung:

So werden ab 2005 alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundesverwaltung online verfügbar sein. Das ist das größte E-Government-Projekt in Europa.

Es ist völlig klar, dass diese Modernisierung der Verwaltung nicht nur eine Frage von Technik und Zahlen ist. Bei den Inhalten unserer Angebote muss noch einiges verbessert werden. Nutzerfreundlichkeit und Interaktivität sind gewissermaßen die demokratische Essenz des "E-Government".

Während wir 1999 in einem Pilotprojekt gerade einmal 47 Telearbeitsplätze eingerichtet hatten, ist deren Zahl nach den ersten positiven Erfahrungen auf mittlerweile 1.000 gestiegen.

Telearbeit ermöglicht den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr Selbstbestimmung und schafft Freiräume beispielsweise bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Durch die neuen Medien, durch die Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit der Bilder im Fernsehen und in den Kinos, überwinden wir territoriale Grenzen.

Im virtuellen Raum des Internet tauschen sich Menschen ganz verschiedener geografischer und kultureller Herkunft über dieselben Ereignisse und Geschichten aus.

Dadurch wird eine weltumspannende politische Kultur der Offenheit und Toleranz möglich. Wir können, wenn wir es wollen, heute besser verstehen, was woanders geschieht, was andere Menschen lernen und denken.

Aber diese Grenzenlosigkeit der virtuellen Welt muss natürlich auch ihre Entsprechung in der realen Welt haben.

Es ist es daher in diesem Zusammenhang ganz und gar unmodern und kontraproduktiv, sich durch das Schüren dumpfer Ängste vor Fremden etwa einem Gesetz über gesteuerte Zuwanderung zu widersetzen. Die Fähigkeit zur politischen Führung erwirbt man dadurch nicht.

Gerade in den Medien- , Informations- und Kommunikationsbranchen ist der Bedarf an qualifizierter Zuwanderung mit Händen zu greifen.

Die Bundesregierung ist dem Gemeinwohl verpflichtet und nicht irgendwelchen Ideologien oder Wahlkampf-Überlegungen. Wir haben das entsprechende Gesetz in einer, wie ich finde, für alle akzeptablen Fassung auf den Weg gebracht.

Nicht nur Eltern wissen, um die unwiderstehliche Anziehungskraft, die die schnellen neuen Medien auf Kinder ausüben.

Wollen wir nicht bloß der Faszination der flackernden Reize und der bunten Bilderfülle erliegen, brauchen wir Besinnung und Entschleunigung, brauchen wir Reflektion.

Das heißt: Wir brauchen Bücher und Zeitungen - und das keineswegs nur als Gegengewichte zur Geschwindigkeit und emotionalen Wirkung der Bilder.

Kein anderes Medium regt die Phantasie so sehr an wie das Buch. Und kein anderes Medium lässt sich mit so viel Muße und Genuss nutzen wie das Buch.

Bücher und Zeitungen sind auch in der Welt der modernen Medien unverzichtbar.

Alte und neue Medien zusammen eröffnen uns neue Wege und Möglichkeiten, das Wissen der Menschheit zu erschließen.

Dieses Wissen wollen wir nutzen, um daran mitzuwirken, unsere eine Welt friedlicher, sicherer und gerechter zu machen.

Dabei setze ich auf die Unterstützung durch die beiden Stiftungen und auf die Unterstützung durch jeden einzelnen von Ihnen.

Ich danke Ihnen.