Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 19.03.2002

Untertitel: (...)Angesichts der neuen Herausforderungen und der gewachsenen Erwartungen wird die Arbeit einer Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen mehr denn je gebraucht. (...)
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/84/73084/multi.htm


Grundlinien deutscher AußenpolitikKontinuität unter veränderten RahmenbedingungenFreiheit zu internationaler VerantwortungPositive Rolle der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten NationenKooperative internationale Ordnungspolitik nur mit den Vereinten NationenMilleniumserklärung der Vereinten Nationen als LeitfadenVeränderungen seit dem 11. September 2001Aufbauarbeit der Vereinten Nationen in AfghanistanGroße Fortschritte auf dem BalkanDie Vereinten Nationen setzen Maßstäbe politischen HandelnsAktive VN-Politik DeutschlandsGlobale PartnerschaftenIch gratuliere der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen sehr herzlich zum 50. Geburtstag und freue mich, dieses Jubiläum heute mit Ihnen zu feiern. Aus den vielen 50. Jahrestagen, die wir in diesen Monaten begehen und die an die Gründung der Bundesrepublik und den Aufbau ihres politischen und gesellschaftlichen Lebens erinnern, sticht die DGVN wegen einer Besonderheit heraus: sie war 1952 der Realität in Deutschland weit voraus.

Grundlinien deutscher AußenpolitikErst 20 Jahre nach ihrer Gründung wurde mit der Ostpolitik der Regierung Brandt die Grundlage für die Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in den Vereinten Nationen geschaffen. Und doch hing die Gründung der DGVN unmittelbar zusammen mit den außenpolitischen Weichenstellungen, die nach der Katastrophe des Nationalsozialismus schon in den 50er Jahren den weiteren Weg der Bundesrepublik prägten: die Westbindung und die amerikanische Sicherheitspräsenz, die Aussöhnung mit Frankreich und die europäische Einigung, ein hohes Maß an multilateraler Einbindung und eine Politik der Verläßlichkeit gegenüber unseren Partnern.

Kontinuität unter veränderten RahmenbedingungenDiese Grundlinien prägen die deutsche Außenpolitik bis heute und werden es auch Zukunft tun. Dennoch haben sich die Rahmenbedingungen seit 1989 unübersehbar verändert. Im Schatten der Blockkonfrontation wurden die vielfältigen Entwicklungen, die wir heute unter dem Begriff der Globalisierung zusammenfassen, kaum wahrgenommen. Seit 1989 ist das Gefühl der Dringlichkeit für die globalen, alle nationalen Grenzen überschreitenden Probleme gewachsen: Klimaerwärmung, Bevölkerungsexplosion, Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit, Krankheiten wie die Immunschwäche AIDS, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder das Problem der sogenannten "failing states". Und bei der Suche nach möglichen Lösungen für diese komplexen Herausforderungen richten sich die Erwartungen immer wieder auf die einzige internationale Organisation, die aufgrund ihrer umfassenden Mitgliedschaft und der Breite ihrer Instrumente dazu geeignet erscheint - auf die Vereinten Nationen. Wer, wenn nicht die Vereinten Nationen, hat die Legitimität, diesen Problemen Vereinbarungen und Strukturen entgegenzusetzen, die weltweite Verbindlichkeit beanspruchen können?

Freiheit zu internationaler VerantwortungGleichzeitig ist seit 1989/90 auch das vereinte Deutschland aus dem Schatten des Kalten Krieges herausgetreten - auf eine Art und Weise und mit Folgen, die vielen Menschen bei uns noch nicht wirklich bewußt geworden sind. Die Erwartungen an dieses geeinte Deutschland sind immens gewachsen. Unsere erste außenpolitische Priorität ist die Vollendung der europäischen Integration - aber auch bei diesem Projekt tritt die Frage nach der Rolle und der Handlungsfähigkeit Europas in der Welt immer stärker in den Vordergrund. Diese Antwort muss Deutschland nicht nur mitformulieren, es muss sie auch durch sein Handeln mittragen und mitverantworten. Es geht nicht um eine Rückkehr oder vielmehr Flucht in eine vermeintlich harmlose "Normalität", sondern um unsere Freiheit zu internationaler Verantwortung, auch und gerade in den Vereinten Nationen.

Positive Rolle der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten NationenDie Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen hat die deutsche VN-Politik seit fünf Jahrzehnten engagiert begleitet - informierend und mobilisierend, forschend und werbend. Dafür möchte ich allen, die daran tatkräftig mitgewirkt haben - Wissenschaftlern und Praktikern, Publizisten und Politikern, manche hauptberuflich, viel mehr noch ehrenamtlich - im Namen der Bundesregierung sehr herzlich danken. Über Parteigrenzen und unterschiedliche Fachdisziplinen hinweg haben Sie über 50 Jahre all jene zusammengeführt, die sich in Deutschland den Zielen der Vereinten Nationen verpflichtet wussten und wissen.

Kooperative internationale Ordnungspolitik nur mit den Vereinten NationenLassen Sie mich aber an den Dank die Bitte anschließen, in dieser Arbeit nicht nachzulassen. Die kooperative internationale Ordnungspolitik, die unsere Welt so dringend braucht, ist ohne die Vereinten Nationen nicht zu realisieren. Abstrakt ist das leicht einsichtig und kaum umstritten. Aber wenn es an die Verteilung knapper Ressourcen geht, dann braucht die deutsche VN-Politik mehr denn je eine starke Lobby. Wie wichtig die Unterstützung von Parlament und Öffentlichkeit für multilaterale Politik ist, zeigt sich besonders deutlich an den freiwilligen Beiträgen für VN-Organisationen, etwa für das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und für UNICEF. Wir müssen uns hier sehr anstrengen, um unserer Verantwortung nachkommen und den hohen Erwartungen gerecht werden zu können. Es gilt der alte Grundsatz: die Vereinten Nationen sind nur so stark wie ihre Mitgliedstaaten sie machen - und wir brauchen eine effiziente und handlungsfähige Weltorganisation.

Diese Bundesregierung hat sich seit ihrem Amtsantritt für eine politisch gestaltende Rolle der Vereinten Nationen eingesetzt und dazu einen aktiven Beitrag geleistet: von der Mitwirkung am Zustandekommen der Resolution 1244 zur Beendigung des Kosovo-Konflikts, über die Unterstützung der VN-Mission in Ost-Timor - ein Engagement, das damals in Deutschland auf bemerkenswertes Unverständnis stieß - , über eine treibende Rolle bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes, der schon sehr bald seine Arbeit aufnehmen soll, bis hin zu den "UN Talks on Afghanistan" im vergangenen Dezember auf dem Bonner Petersberg.

Milleniumserklärung der Vereinten Nationen als LeitfadenWohl nirgendwo sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen, so eindringlich und klar beschrieben wie in der Millenniumserklärung der Vereinten Nationen. Es ist ein bemerkenswertes Dokument der Selbstverpflichtung der versammelten Staats- und Regierungschefs, besser zu regieren und besser zusammen zu regieren - auf der Basis gemeinsamer Grundwerte, mit konkreten Maßnahmen für Frieden, Sicherheit und Abrüstung, bezifferten Entwicklungszielen wie der Halbierung der Armut, zum Umweltschutz, zu den Menschenrechten, zu Demokratie und guter Regierungsführung, zum Schutz der Schwachen und der Stärkung der Vereinten Nationen. Die Millenniumserklärung gibt uns den roten Faden vor, dem jede Politik folgen muss, die sich an den Zielen von Frieden, ökologisch und sozial gerechter Entwicklung und der Freiheit des Einzelnen orientiert.

Veränderungen seit dem 11. September 2001Der 11. September 2001 hat in der Weltpolitik vieles verändert. Die Vereinten Nationen haben mit zwei eindrucksvollen Resolutionen diese Herausforderung angenommen und den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur Sache der Staatengemeinschaft gemacht. Generalsekretär Kofi Annan hat aber zu Recht auch darauf hingewiesen, dass keine der Herausforderungen, denen wir am 10. September gegenüberstanden, weniger dringlich geworden ist. Zonen politischer und sozialer Ordnungslosigkeit sind eben nicht allein ein regionales Problem und eine menschliche Tragödie, sondern von diesen Krisenherden, diesen "schwarzen Löchern" der Weltpolitik, geht eine existenzielle Gefahr für den Weltfrieden aus. Dieser Gefahr kann niemand allein Herr werden. Es braucht eine breite Koalition, einen umfassenden Ansatz und einen langen Atem. Das Ziel müssen funktionierende Staaten sein, die ihrer doppelten Verantwortung gerecht werden: gegenüber den eigenen Bürgern und Gesellschaften ebenso wie als Wächter des gemeinsamen Lebens auf diesem Planeten. Um dieses Ziel zu unterstützen, setzt sich die Bundesregierung auch in diesen Tagen auf der großen Konferenz "Financing for Development" in Monterrey gegenüber den Entwicklungsländern für eine Politik der Solidarität und Selbstverantwortung ein: Mehr Entwicklungshilfe und besserer Marktzugang für die Entwicklungsländer in Afrika und anderswo, aber zugleich klare Erwartungen an "good governance" und den Schutz elementarer Menschenrechte.

Aufbauarbeit der Vereinten Nationen in AfghanistanVergangene Woche war der Vorsitzende der afghanischen Übergangsadministration Hamid Karsai hier in Berlin zu Gast: Es ist - bei allen Problemen, die uns noch lange begleiten werden - bemerkenswert, wieviel seit dem 11. September für die Menschen in diesem Land erreicht worden ist - dank des Sturzes des Talibanregimes, aber auch dank der entschlossenen Aufbauarbeit der Vereinten Nationen unter Lakhdar Brahimi. In einem Land, das noch vor einem halben Jahr vielen als unrettbar galt. Die Bundesregierung hat Afghanistan langfristige, umfangreiche Hilfe zugesichert. Insbesondere wollen wir dazu beitragen, die Sicherheit zu gewährleisten, die Polizei aufzubauen, Bildungsstrukturen wie die traditionsreiche Amani-Oberrealschule zu rehabilitieren und - ganz wichtig - den Frauen zu voller Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung zu verhelfen.

Große Fortschritte auf dem BalkanUnd welche Fortschritte haben wir auf dem Balkan erreicht: Heute werden erstmals alle Länder von demokratisch gewählten Regierungen regiert, der Diktator Milosevic, der die Region zehn Jahre lang von einem Blutvergießen ins nächste getrieben hat, muss sich heute für seine Verbrechen vor einem internationalen Gericht verantworten. Serbien und Montenegro haben sich vergangene Woche nach langem Streit auf einen Staatenbund geeinigt. Noch ist die Stabilität der Region nicht selbsttragend, noch fehlt die Selbstverständlichkeit regionaler Zusammenarbeit, die das integrierte Europa der EU so stark macht. Aber erstmals hat diese europäische Krisenregion die Chance, an das Europa der Moderne Anschluss zu finden. Und - auch das verdient mit Blick auf die von den VN geforderte "Kultur der Prävention" besondere Beachtung - in Mazedonien ist es erstmals auf dem Balkan gelungen, durch entschlossene diplomatische und militärische Anstrengungen präventiv einen neuen blutigen Konflikt zu verhindern.

Die Vereinten Nationen setzen Maßstäbe politischen HandelnsAll das ist alles andere als selbstverständlich. Es braucht politischen Willen und die notwendigen Mittel - und auch die Entschlossenheit, sich vom tragischen Verlust eigener Menschenleben nicht vom als richtig erkannten Weg abbringen zu lassen. Vor allem aber braucht es klare Maßstäbe. Für diese Maßstäbe stehen die Vereinten Nationen. Für die wahrlich nicht immer leichte Umsetzung dieser Maßstäbe haben sie und Generalsekretär Kofi Annan den Friedensnobelpreis erhalten.

Der Schutz der Menschenrechte, der Dialog der Kulturen, der Kampf gegen Armut und Unterentwicklung, die Eindämmung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Trägermitteln und Kleinwaffen - das sind alles sehr dicke Bretter, die gebohrt werden müssen. Hier gehören Prinzipien und Pragmatismus eng zusammen. Ohne die klaren Prinzipien, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den einschlägigen Konventionen vereinbart sind, würde sich das pragmatische Handeln, das uns Schritt um Schritt einer wirklichen internationalen, multilateralen Ordnungspolitik im Sinne einer Weltinnenpolitik näherbringen soll, in Beliebigkeit verlieren. Aus dieser Überzeugung heraus werde ich morgen vor der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf die Länder deutlich beim Namen nennen, in denen uns Menschenrechtsverletzungen besondere Sorgen machen - auch wenn wir um die vielfach begrenzten Möglichkeiten wissen, an dieser Lage umgehend etwas zu ändern. Wer den 11. September als Freibrief für mehr Repression missversteht, muss klar in die Schranken verwiesen werden. Wer die Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides verlieren.

Aktive VN-Politik DeutschlandsDeutschland wird auch künftig eine aktive VN-Politik betreiben, die unserem elementaren Interesse an einer kooperativen internationalen Ordnung entspricht. Wir wollen mit der nichtständigen Mitgliedschaft ab Januar 2003 zum zweiten Mal Verantwortung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernehmen. Wir engagieren uns mit neuen Ideen und Vorschlägen, etwa der deutsch-französischen Initiative für eine Konvention zum Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen. Und wir setzen uns dafür ein, die großen Weltkonferenzen zu echten Impulsgebern zu machen: der Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im September ist eine Chance zur Verankerung des Prinzips der Nachhaltigkeit in der internationalen Politik, die zehn Jahre nach der großen Konferenz von Rio unbedingt genutzt werden muss.

Globale PartnerschaftenKofi Annan hat mit seiner Initiative eines "Global compact" einen wichtigen Anstoß gegeben, die wachsende Zahl internationaler Akteure für die Ziele der Vereinten Nationen zu nutzen. Wir haben diesen Ansatz in den letzten zwei Jahren mit einer Resolution zu globalen Partnerschaften unterstützt, die eine stärkere Einbeziehung von Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft in die VN-Arbeit vorsieht. Diese Aufgabe stellt sich auch der DGVN und der deutschen Außenpolitik insgesamt. Eine multilateral orientierte Außenpolitik, die dem hohen Grad politischer und wirtschaftlicher Verflechtung unseres Landes gerecht wird, kann nur dann dauerhaft gelingen, wenn sie von einem breiten Konsens getragen wird. Interesse, Verständnis und Unterstützung der Bevölkerung für eine solche Außenpolitik, die über den eigenen Tellerrand hinausschaut und nicht auf kurzfristige Schlagzeilen, sondern auf langfristige Strukturbildung setzt, sind aber nicht selbstverständlich. Angesichts der neuen Herausforderungen und der gewachsenen Erwartungen wird die Arbeit einer Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen mehr denn je gebraucht. Ich wünsche Ihnen allen - auch im Interesse einer klugen und erfolgreichen VN-Politik unseres Landes - für die nächsten 50 Jahre viel Erfolg!