Redner(in): Michael Naumann
Datum: 31.07.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/19/11819/multi.htm


Kultur hat einen Sinn: Sie produziert Fragen "Kunst und Kultur sind ein großer Wirtschaftsfaktor" : Ein Gespräch mit Kultur-Staatsminister Michael Naumann

Was können Sie mit dem Begriff Kulturwirtschaft anfangen? Weckt er positive Neugier oder Antipathie?

Bei mir weckt er erstmal eine gesunde Skepsis. Daß Kultur in den kommunalen und landes-politischen Überlegungen bisweilen als Standortfaktor figuriert, hat bei mir immer eine gewisse Aversion ausgelöst. Für mich ist Kultur der Inbegriff einer kontinuierlichen gesellschaftlichen Diskussion, eines ästhetischen Selbstgespräches der Gesellschaft über den Sinn ihrer wirtschaftlichen, politischen, daseinsfürsorgerischen Aktivitäten. Die Künste halten nur einen Spiegel vor, und wir müssen uns fragen: "Sind wir das? Wollen wir so leben?" Das heißt, Kultur ist nichts anderes als der Versuch, den Menschen aus dem berühmten Reich der Notwendigkeit herauszuführen in freie Situationen, in denen darüber nachgedacht wird, was eigentlich der Sinn unseres Fleißes und der Sinn unserer Arbeit ist. Das kann nicht nur ein sicheres Leben, eine geklärte Rentenanwärterschaft sein. Kultur erlaubt uns, darüber nachzudenken, was ein glückliches, gutes Leben ist. Die Definition von Glück wird nicht von der Wirtschaft geleistet, sondern muß im kulturellen Raum diskutiert werden.

Kultur und Kunst auf der einen, Kommerz auf der anderen Seite galten lange Zeit als unverträgliches Paar. Heute gehen sie vielfach eine mehr oder weniger innige Verbindung ein. Ist das eine Bedrohung oder eine Chance für mehr Effizienz?

Man muß immer wissen, daß auch in der Antike eine Aufführung von Sophokles in Athen nur möglich war vor dem Hintergrund der gut florierenden Silberminen der Stadt. Mit anderen Worten, es gibt keine Hochkultur europäischen Zuschnitts, die nicht auf finanzielle Zuwendungen des Publikums oder von Institutionen, ob Kirche oder Fürstenhäuser, angewiesen war. Künstler leben nicht von Luft. Die biedermeierliche Vorstellung des armen Poeten war immer falsch. Jeder Künstler, jeder selbständige Schriftsteller ist ein Kleinunternehmer. Und er weiß das auch. Diese Nähe zum Geld wird nur ungern thematisiert. Selbst die Theorien etwa der Frankfurter Schule zur eigentlichen Unverträglichkeit von Kultur und Wirtschaft sind in Milieus entstanden, die abhängig waren von der wohlflorierenden Gesellschaft, in der sie produziert worden sind.

Der Japaner Minoru Masuda hat für die nachindustrielle Gesellschaft einen "quartären" Sektor vorausgesagt, in dem eine Kommunikationsindustrie, eine Ethische Industrie und eine Kunstindustrie die großen Wachstumsfelder werden. Sehen Sie das auch so?

Ich glaube schon, daß der "Dienstleistungssektor" Kunst und Kultur inzwischen ein großer Wirtschaftsfaktor geworden ist. Manche Leute sprechen von vier Prozent des Bruttosozialprodukts, die hier erwirtschaftet werden. Wenn man mit einer gewissen Großherzigkeit die Dienstleistungsangebote der elektronischen Industrie, der Softwareindustrie usw. dazurechnet, ist das der Wirtschaftssektor mit den größten Zuwachsraten: 25 Prozent Zuwachs innerhalb von fünf Jahren, heißt es. Meines Erachtens kam das nicht überraschend. Wir haben in Deutschland nach dem Krieg eine fast 30jährige Phase gehabt, in der die Gesellschaft sich wesentlich auf den materiellen Wiederaufbau des Landes konzentriert hat. Die Künstler und die Literatur bildeten die kritische Begleitung. Angesichts gravierender ökonomischer und politischer Veränderungen gewinnt das kulturelle Gespräch über die Frage, warum haben wir eigentlich alles so fleißig wieder hergerichtet eine neue Bedeutung. Wachstum wofür? Diese Frage beantwortet die Wirtschaft nicht aus sich allein heraus.

Die Unterscheidung in Wirtschaft und "Nichtwirtschaft" ist eigentlich wenig hilfreich. Kulturwirtschaft produziert doch auch etwas, Gemälde zum Beispiel oder Sinn und Einsichten.

Zuerst einmal produziert, wenn wir diesen problematischen Begriff überhaupt übernehmen wollen, der Kultursektor in der Gesellschaft Fragen wie: warum wollen wir reich sein? Mehr Einkommen, mehr Urlaub, mehr Erlebnisse, diese Antworten sind nicht befriedigend. Mit den fast schon massenhaften Austritten aus den Kirchen, den Sinnvermittlungsinstanzen der Vergangenheit, ist das Grundbedürfnis der Menschen nach einem Sinn für ihr Dasein, nach Trost zudem ja nicht verschwunden.

Aber die ethischen Industrien sind offenbar neue Sinnproduzenten?

Dieses Wort selbst muß man sofort relativieren. Sekten sind keine Industrie, auch wenn sie Geschäfte machen. Sinn ist nicht produzierbar. Diese Ökonomisierung einer wesentlich älteren und ich muß auch sagen, würdigeren Sprache, nämlich der Sprache der Philosophie und der Theologie und der Religion und der Künste, der Versuch, diese Sprache zu ökonomisieren, suggeriert die Möglichkeit von klaren Antworten und suggeriert Statistiken. Die gibt es aber im Kulturbereich nicht.

Wenn wir das akzeptieren, bleibt die Frage, inwieweit wirtschaftliche Prinzipien in der Herstellung oder in der Vermittlung von Kunst oder Sinn angewendet werden können. Wie weit werden Sie als geldgebender Minister darauf drängen, daß die Kulturinstitutionen wirtschaftlicher geführt werden?

Die Forderung einer möglichst kosteneffizienten Relation von Input zum Output im Kulturbereich halte ich für problematisch, wenn nicht gar verfehlt. Die Antworten, die die Kultur für die Gesellschaft gibt, lassen sich nicht statistisch messen. Der Sachverhalt, daß eine Stadt wie Berlin oder München Hunderte von Millionen in Opern steckt, signalisiert die Hoffnung der Politiker, daß das, was dort produziert wird, einen gewissen Sinn macht. Was ist denn dieser Sinn? Der Sinn von Theaterkunst zum Beispiel, ob subventioniert oder nicht, ist zweierlei: Erstens ganz klassisch aristotelisch gesprochen: die Katharsis der Seelen zu bewirken oder lessingsch gesprochen, die Moralische Anstalt einer Nation zu sein oder zeitgenössisch gesprochen, alles in Frage zu stellen. Eine Gesellschaft, die nichts mehr in Frage stellt, verarmt nicht nur intellektuell sondern auch politisch und zuletzt auch wirtschaftlich.

Aber die Welt ist leider sehr viel schwieriger. Ob ich 161 Mark pro besetzten Besucherplatz in deutschen Opern ausgebe oder mit dem gleichen Geld nicht mehr Katharsis mit anderen Mitteln der Kultur erreichen kann, muß jeder beantworten, der über ein begrenztes Budget verfügt. Also muß man in irgendeiner Weise auch im Kulturbetrieb Kriterien für eine sinnvolle Kosten-Nutzen-Abwägung suchen. Wie macht man das?

In meiner Situation ist das so, daß von den sogenannten Zuwendungsempfängern ja durchaus Leistungen verlangt werden. Die Leistung der Bayreuther Festspiele ist es zum Beispiel, Wagner-Opern aufzuführen. Die Frage stellt sich mir persönlich nicht, muß ich überhaupt Wagner hören. Denn in dem Augenblick, in dem sich die Politik die Frage stellt, welche Kunst muß ich hören und welche nicht, überschreitet sie genau den Bereich, der meines Erachtens in Deutschland geradezu vorbildlich geregelt ist, nämlich das in der Tat nach Artikel fünf Grundgesetz die Künste frei sind. Und solange wir daran glauben, daß sie frei sind, ist die Entscheidung, welche Oper wo, wie, wann, von wem gespielt wird, Aufgabe der dazu berufenen Intendanten. Ihre Arbeit wird von der ebenso dazu berufenen Kritik gewürdigt - oder auch nicht. Daß dann Kostenrahmen gesetzt sind, die sich definieren aus der finanziellen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft und daß diese Kostenrahmen eingehalten werden müssen, ist eine ganz andere Sache. Es wäre falsch, wenn ich jetzt versuchen würde, eine allgemeine Ästhetik der Staatsausgaben im Kulturbereich zu entwerfen. Aber ich gehe davon aus, daß auch Kultursubventionspolitik in sich selbst keinen monolithischen Begründungszusammenhang hat und auch nicht haben sollte, sondern drei Dinge wiederspiegelt: Erstens die kulturelle Tradition. Darum werden übrigens auch sehr viele Museen gefördert. Der zweite Sektor der Kulturförderung in den Städten, aber auch auf Bundesebene, sollte sich sicherlich darauf kaprizieren, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß das, was allgemein unter dem Begriff "Kunst" im öffentlich subventionierten Raum figuriert, zumindest auf dem Niveau von heute gehalten wird. Denn das, was heute produziert ist, gehört zum Selbstverständnis einer Nation und einige dieser heute produzierten Kunstwerke, ob es Bilder sind oder Musik, werden einmal zur Tradition des Landes zählen. Das dritte Förderungskriterium ist eine Förderung der Debatte um das Selbstverständnis unseres Landes. Das ist einer der Gründe, warum wir heute Gedenkstätten in Deutschland mit doppelt so viel Geld des Bundes fördern als das in der Vergangenheit der Fall war. Die Frage, wie gut die Arbeit ist, die geleistet wird, kann ein Ministerium und auch ein Politiker alleine nicht beantworten. Das, was auf diesen vom Staat geförderten Podien von Kultur geschieht, wird kritisiert und wird evaluiert in einem kontinuierlichen Prozeß der Akzeptanz oder der Zurückweisung durch die Presse, des Publikums, durch Kenner. Aber interessant ist auch das, was zurückgewiesen wird, was als nicht förderungswürdig beurteilt wird. Und das bedeutet, Kulturpolitik, egal ob auf Bundes- , Landes- oder Kommunalebene muß immer noch einen peripheren Blick haben, mit dem man die Dinge sieht, die zur Zeit noch "off scene" und ästhetisch ungesichert sind.

Das andere Extrem führt zur Tradition.

Genau. Und das zu fördern, macht eigentlich den größten Spaß.

Das Gespräch führte Heik Afheldt.