Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.09.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/12/11712/multi.htm


Ich begrüße die Mitglieder der Bundespressekonferenz herzlich hier in Berlin. Auch wenn die meisten Gesichter aus Bonn bekannt sind, ist es doch auch für Sie ein Neuanfang. Ich freue mich auf eine spannende Zusammenarbeit mit Ihnen in dieser, im besten Sinne des Wortes: aufregenden Stadt.

Lassen Sie mich zunächst ein paar Worte zur Bedeutung des heutigen Tages sagen. Heute vor 60 Jahren hat mit dem Überfall Nazideutschlands auf Polen eines der grausamsten Verbrechen der Geschichte seinen Anfang genommen.

Zusammen mit dem polnischen Volk und den Völkern in ganz Europa und der Welt gedenken wir dieses Tages mit dem gemeinsamen festen Willen, solche Barbarei nie wieder zuzulassen.

Der Bundesaußenminister hat vor wenigen Tagen noch einmal den erklärten Willen der Bundesregierung bekräftigt, Polen und die anderen beitrittswilligen Nachbarstaaten in Mitteleuropa so rasch wie möglich in die Europäische Union zu integrieren.

Auch das ist Teil einer europäischen Friedenspolitik.

Ich finde es angemessen, an die Verpflichtung, die Geschichte nicht zu vergessen oder zu verdrängen, ausgerechnet hier in Berlin zu erinnern.

Denn der Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin ist auch eine Rückkehr in die deutsche Geschichte.

Und was den Umgang von Politik und Medien miteinander angeht, so dürfen wir eben auch nicht vergessen, dass dies die Stadt war, in der Goebbels über das Reichspropagandaministerium auch Medienpolitik gemacht hat.

Gerade im Bewußtsein des "geschichtsbeladenen" Ortes Berlin bin ich sehr froh, Ihnen heute ankündigen zu können, dass als erster ausländischer Staatsgast der israelische Ministerpräsident Ehud Barak am 21. September die Hauptstadt Berlin besuchen wird.

Wir haben bereits in Bonn unser "Zukunftsprogramm 2000" vorgestellt und damit klar gemacht, dass wir eine Trendwende wollen nach fast zwei Jahrzehnten des Durchwurstelns in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik.

Auch bei Ihnen wird ja gern verkürzt vom "Sparpaket" der Regierung gesprochen. Aber es geht nicht um Sparen als Selbstzweck. Die Haushaltskonsolidierung ist unverzichtbarer Bestandteil einer Politik, die die Zukunft unseres Gemeinwesens sichern soll.

Dazu gehört der zweite Teil der Steuerreform, dazu gehört die dauerhafte Sicherung der Altersversorgung, die Förderung von Innovation und Investition und im weiteren Sinne auch die Gesundheitsreform.

Allerdings: Zu den Einsparungen und zu einer Politik der langfristigen Haushalts-Konsolidierung gibt es keine Alternative.

Erstens: Weil wir sonst die Handlungsfähigkeit des Staates ernsthaft aufs Spiel setzen.

Zweitens: Weil die von der Regierung Kohl verantwortete, schwindelerregende Staatsverschuldung das Wirtschaftswachstum behindert.

Und drittens: Weil es eine grobe soziale Ungerechtigkeit ist, bald jede vierte Steuermark für den Schuldendienst ausgeben zu müssen. Eine gewaltigere Umverteilung von unten nach oben ist kaum vorstellbar.

Damit ist das Thema angesprochen, das ja derzeit viele zu beschäftigen scheint, deren konkreten Beitrag zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit ich nicht immer so deutlich erkennen kann. Ich meine damit nicht nur die Opposition.

Man kann an der Debatte, glaube ich, erkennen, dass in diesem Land viel zu lange keine Politik gemacht worden ist. Interessenpolitik wird mit Politik verwechselt.

Statt über die Inhalte einer Politik der sozialen Gerechtigkeit zu diskutieren, streitet man um Symbole; nach dem Motto: Ganz gleich, ob eine Vermögenssteuer etwas bringt - Hauptsache, sie schadet, zumindest symbolisch, den Reichen.

Ich will daher zunächst eines sagen: Es ist noch kein Jahr her, dass wir mit der Entlastung durchschnittlicher Einkommen, der Erhöhung des Kindergeldes, der Rücknahme der Ungerechtigkeiten bei Lohnfortzahlung und Rente gewaltige Anstrengungen zur Korrektur der sozialen Schieflage unternommen haben.

Und diese Schieflage haben diejenigen verursacht, die sich heute als Wahrer der sozialen Gerechtigkeit zu gebärden versuchen.

Gerade die Bezieher geringerer Einkommen haben doch heute schon spürbar mehr im Portemonnaie als vor der Bundestagswahl.

Ich bin sicher: Die meisten Menschen in unserem Lande sehen ein, dass wir nicht die Handlungsfähigkeit unseres Gemeinwesens einschränken, die Zukunft unserer Kinder und Enkel verspielen dürfen.

Keine Frage: Wir werden nicht darum herumkommen, die Frage neu auszubuchstabieren, was in unserer Gesellschaft unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft "soziale Gerechtigkeit" konkret bedeutet.

Beispielsweise haben wir, wie vor der Wahl angekündigt, Steuerschlupflöcher geschlossen. So haben wir die Regelung abgeschafft, Veräußerungsgewinne und Abfindungen zum halben Steuersatz zu versteuern.

Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, Popstars und Spitzensportler haben oft selbst nicht verstanden, warum gerade sie in den Genuss von Steuergeschenken gekommen sind, wenn sie bei Auflösung ihrer Verträge Abfindungen in Millionenhöhe kassierten.

Ausserdem war der alte § 34 Einkommensteuer-Gesetz geradezu eine Einladung an Finanzakrobaten, mit Vermeidungstricks die Steuerschuld zu drücken.

Den sinnvollen Kern der Regelung, die vor allem kleinen und mittleren Unternehmern, die kurz vor dem Ruhestand ihren Betrieb veräußern, zugute kommen soll, haben wir erhalten.

Sie kommen in den Genuss von Freibeträgen sowie der Möglichkeit, die Veräußerungsgewinne über fünf Jahre zu strecken und damit die Progression zu mildern.

Ebenso haben wir die Verlustzuweisungs-Modelle, etwa durch überhöhte Abschreibungen, Schiffsleasing-Fonds oder Bauherren-Modelle drastisch eingeschränkt.

Die Folgen sind nicht nur, dass die Werbung für sogenannte "Steuerspar-Modelle" bereits stark zurückgegangen ist.

Die Folge ist auch ein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres bereits spürbar erhöhter Zufluß an Einkommensteuer - ohne dass etwa die Steuer erhöht worden wäre.

Das heißt: Unsere Politik sorgt dafür, dass die Lasten wieder gerechter verteilt werden.

Ich sage allerdings noch einmal: Wenn die Staatsverschuldung einen Staat handlungsunfähig zu machen droht, dann ist Sparen sozial gerecht.

Die neuesten Zahlen über die Wirtschaftsentwicklung geben Anlass zu Optimismus. Hatten noch im letzten Herbst die fünf Wirtschaftsweisen von einem "Aufschwung zwischen Hoffen und Bangen" gesprochen, überwiegt in den Prognosen heute die Zuversicht.

Die Deutsche Bank Research erwartet für dieses Jahr sogar ein Wachstum, das die Prognose aus dem Jahreswirtschaftsbericht - 1,6 Prozent - möglicherweise übertrifft.

Für das kommende Jahr erscheint ein Wachstum von 2,5 Prozent oder sogar etwas mehr durchaus realistisch.

Unser Programm "100.000 Jobs für junge Menschen" war ein durchschlagender Erfolg. Schon jetzt sind dadurch fast 160.000 junge Menschen in Arbeit und Ausbildung vermittelt worden. Im Bündnis für Arbeit haben wir darüber hinaus eine konkrete Lehrstellenzusage erreicht.

Die Zahl der Arbeitslosen wird aller Voraussicht nach in diesem Jahr um reichlich 200.000 zurückgehen. Dieser Trend wird sich bei Anziehen der Konjunktur im nächsten Jahr verstärkt fortsetzen.

Ich will auch meine Genugtuung nicht verhehlen, dass die Bundesbank in ihrem letzten Monatsbericht das Zukunftsprogramm der Bundesregierung als "eindrucksvoll" und für andere Länder nachahmenswert gelobt hat.

All das zeigt uns: Die Maßnahmen der Bundesregierung beginnen zu greifen. Wir sind auf dem richtigen Kurs. Und wir werden diesen Kurs fortsetzen.

Mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 bis 2002 werden Familien und Durchschnittsverdiener deutlich entlastet. Damit und mit anderen Maßnahmen stärken wir die Nachfrageseite.

Die Senkung der Unternehmenssteuersätze auf 25 Prozent ab 2001 - das heißt eine Gesamtbelastung einschließlich Gewerbesteuer von 35 % - löst Wachstumseffekte von der Angebotsseite her aus.

Sie sehen daran, dass wir es ernst meinen, wenn wir gesagt haben, dass wir uns nicht in den Scheinwiderspruch zwischen Angebots- und Nachfragepolitik stellen.

Aber, ich habe es vorhin schon angedeutet: Es geht um eine Wiederkehr der Politik. Dass wir alle heute aufgerufen sind, unser Gemeinwesen zu gestalten. Dass wir das nicht den Vertretern von Einzelinteressen überlassen dürfen.