Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 20.03.2002

Untertitel: (...) Seit den furchtbaren Anschlägen in den USA stellt sich ein altes Dilemma in einer neuen Form: Welches ist die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit? Wie können wir die Sicherheit der Menschen optimal schützen, ohne die Freiheit und die Rechte des Einzelnen einzuschränken? (...)
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/73213/multi.htm


Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Botschafter Jakubowski, zur Übernahme des Vorsitzes der 58. Sitzung der Menschenrechtskommission gratulieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und eine glückliche Hand bei der Ausübung dieses verantwortungsvollen Amtes.

Die diesjährige Sitzung der MRK findet in einem veränderten Umfeld statt. Der 11. September und seine Folgen haben die Weltpolitik neu ausgerichtet und dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Menschenrechtspolitik. Die hiermit zusammenhängenden Fragen werden die diesjährige Debatte in Genf prägen.

Jede Regierung muß es als eine ihre obersten Pflichten ansehen, die Sicherheit der ihr anvertrauten Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Wir alle sind aufgerufen, Terroristen, die das Leben unschuldiger Menschen ihren Zielen unterordnen, mit aller Entschlossenheit und Härte zu bekämpfen - notfalls auch, wie in Afghanistan, mit militärischen Mitteln.

Härte und Repression allein sind jedoch keine befriedigende Antwort auf die Bedrohung durch den modernen Terrorismus. Wir werden ihn nur durch eine Politik der Prävention eindämmen können, wenn es uns gelingt, gemeinsam einen neuen Anlauf zu machen, um seine vielfältigen Ursachen wirksam zu bekämpfen. Dazu gehören neue Strategien gegen Hunger, Armut und soziale Perspektivlosigkeit ebenso wie eine soziale und gerechtere Gestaltung der ökonomischen Globalisierung.

Dazu gehört aber vor allem der Schutz der Menschenrechte, der bürgerlich-politischen genauso wie der wirtschaftlich-sozialen und kulturellen. Menschenrechte sind kein Luxusgut, kein Orchideenthema, das in den Hintergrund rücken kann, wenn die Stunde der Sicherheitspolitik wieder schlägt. Das Gegenteil ist wahr: Die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind auf Dauer die verläßlichste Grundlage für Stabilität und Frieden - diese zentrale Lektion aus dem Kalten Krieg erhält im Lichte des 11. 9. eine neue, globale Aktualität.

Seit den furchtbaren Anschlägen in den USA stellt sich ein altes Dilemma in einer neuen Form: Welches ist die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit? Wie können wir die Sicherheit der Menschen optimal schützen, ohne die Freiheit und die Rechte des Einzelnen einzuschränken? Die hiermit zusammenhängenden, konkreten Fragen sind oft nicht leicht zu beantworten, auch in Deutschland ist um ihre Beantwortung immer wieder gerungen worden. Prinzipiell kann es hier aber nur eine überzeugende Antwort geben: Freiheit und Sicherheit müssen gleichzeitig verwirklicht werden."Wer die Freiheit opfert, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren" - dieser Satz Benjamin Franklins ist heute genauso aktuell wie vor fast 250 Jahren.

Im vergangenen Jahr ist leider eine neue bedrohliche Tendenz erkennbar geworden, Menschenrechtsverletzungen unter dem Etikett der Terrorismusbekämpfung zu legitimieren. Dem muss die Staatengemeinschaft, dem müssen alle zivilisierten Staaten mit aller Entschiedenheit entgegentreten.

Für jede Gesellschaft muss gelten: Im Umgang mit Andersdenkenden, politischen Gegnern, religiösen und ethnischen Minderheiten, auch mit Kriegsgefangenen und der Mitwirkung an Terrorakten Verdächtigen, sind weiterhin die international vereinbarten Normen des Menschenrechtsschutzes die unumstößliche Grundlage. Es wäre ein fataler Rückschlag, wenn die Terroristen uns dazu bringen würden, unsere eigenen Werte in Frage zu stellen. Unter keinen Umständen darf es zu einer Aushebelung von menschenrechtlichen Grundnormen unter dem Deckmantel von Terrorismusbekämpfung kommen. Einen "Anti-Terror-Rabatt" darf es für niemanden geben! Die Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson hat hierzu in ihrer Eingangserklärung und in ihrem Bericht an die MRK klare Worte gefunden. Ich möchte ihr dafür und für ihre gesamte, wertvolle Arbeit der vergangenen Jahre sehr herzlich danken.

Herr Vorsitzender, gerade vor diesem Hintergrund müssen auf dieser Sitzung der MRK schwere Menschenrechtsverstösse deutlich angesprochen werden. Die EU wird deshalb auch in diesem Jahr eine Reihe von Länderresolutionen einbringen.

Wir sehen die Menschenrechtssituation in China trotz der Freilassung von politischen Gefangenen und der verstärkten Bereitschaft, mit internationalen Menschenrechtsmechanismen zusammenzuarbeiten, weiterhin sehr kritisch. Die Bundesregierung fordert deshalb China erneut auf:

die Repression gegen Mitglieder von christlichen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften zu beenden, die Unterdrückung ethnischer Minderheiten einzustellen und insbesondere den Tibetern und Uighuren substantielle Autonomierechte zu gewähren, Falun Gong-Anhänger nicht weiter zu verfolgen, ein Moratorium bei der Vollstreckung der Todesstrafe mit dem Ziel ihrer endgültigen Abschaffung zu verhängen, und den VN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte bald zu ratifizieren und den VN- Wirtschafts-und Sozialpakt vollständig umzusetzen. Auch die Situation in Tschetschenien erfüllt uns mit anhaltender, großer Sorge. Rußland definiert den Tschetschenienkonflikt weiterhin als "anti-terroristische Operation" und als "innere Angelegenheit". Nach dem 11. 9. hat Rußland gefordert, angesichts der Verbindungen tschetschenischer Rebellen zu Taliban und Osama Bin Laden die Notwendigkeit und Angemessenheit des russischen Vorgehens in Tschetschenien anzuerkennen.

Die Bundesregierung hat nie die Legitimation Russlands in Frage gestellt, seine territoriale Integrität zu erhalten. Rußland hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegenüber Terrorismus. Wir halten jedoch das gewaltsame Vorgehen der Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung für inakzeptabel und mit europäischen und VN-Normen nicht vereinbar.

Gerade in jüngster Zeit haben sich ernstzunehmende Berichte über systematische, schwere Übergriffe auf die Zivilbevölkerung durch beide Seiten gehäuft. Wir erwarten von russischer wie von tschetschenischer Seite, endlich den massiven Einsatz von Gewalt zu beenden, die Kämpfe einzustellen und erkennbar und energisch die Suche nach einer politischen Lösung voranzutreiben. Die Lage in Tschetschenien muss, solange sie sich nicht deutlich bessert, auf der Tagesordnung der Genfer MRK bleiben.

Die dramatische Zuspitzung der Lage im Nahen Osten in den letzten Wochen hat die Welt, hat uns alle zutiefst schockiert. Die täglichen Bilder von getöteten oder verletzten Israelis oder Palästinensern - darunter immer mehr unschuldige Zivilisten, immer mehr Frauen und Kinder - haben das ganze Ausmaß des Hasses und der Verzweiflung auf beiden Seiten offenbart. Seit Monaten erleben wir, wie jeder Versuch, eine Waffenruhe zu vereinbaren und über den Einstieg in den Tenet- und Mitchell-Plan zu Verhandlungen zu kommen, von Terroristen vereitelt wird. Die eine Seite sagt: "Terror must not pay", die andere Seite: "Occupation must not pay". Die Folge sind immer neue Verletzungen der Menschenrechte.

Ich appelliere mit allem Nachdruck an beide Seiten, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte ohne Einschränkung zu respektieren. Die palästinensische Behörde trägt als rechtmäßige Autorität die volle Verantwortung für die Bekämpfung des Terrorismus. Sie hat dafür zu sorgen, dass menschenrechtliche Mindeststandards durch Polizei- und Sicherheitsdienste eingehalten werden. Und sie muss entschiedener gegen Fälle von Lynchjustiz und Selbstmordattentate vorgehen. Israel muss unverzüglich seine Streitkräfte aus den A-Gebieten zurückziehen, die aussergerichtlichen Hinrichtungen einstellen, die Blockaden und Einschränkungen aufheben und die Siedlungspolitik stoppen. Maßnahmen gegen medizinische und humanitäre Einrichtungen und deren Angehörige sind vollkommen inakzeptabel. Die Funktionsfähigkeit dieser Einrichtungen muß in jedem Falle gewährleistet sein.

Die Tragik dieses Konflikts besteht darin, dass beide Seiten legitime Rechte in Anspruch nehmen, dass auch alle Elemente für eine Lösung auf dem Tisch liegen: Die Resolutionen 242 und 338, Madrid, Oslo, Camp David, die Clinton-Parameter, Taba sind Stationen dieser Bemühungen. Es ist über alles gesprochen worden, hundertmal, ja tausendmal. Das Ziel ist klar: "eine Vision von einer Region, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an Seite in sicherern und anerkannten Grenzen leben", wie es in der Sicherheitsrats-Resolution 1397 formuliert ist und wie es auch die Europäische Union wiederholt zum Ausdruck gebracht hat. Alle Hoffnung richtet sich nun darauf, dass die verstärkten Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, allen voran der USA, der EU, des VN-Generalsekretärs, Rußlands und der Arabischen Liga, wieder eine politische Perspektive für den Nahen Osten eröffnen. Die Unterstützung der saudiarabischen Initiative auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Beirut wäre dafür ein wichtiges, positives Signal.

Eine Polarisierung in der Debatte um den Nahostkonflikt hier in Genf wäre in der gegenwärtigen Lage nicht geeignet, Vertrauen zu schaffen und die Friedensbemühungen voranzubringen. Ich möchte an alle Teilnehmer den dringenden Appell richten, diese Gefahr für die Lage im Nahen Osten und für den Erfolg dieser Konferenz abzuwenden.

Herr Vorsitzender, für die ganze Welt war es bewegend, mitzuverfolgen, wie die Frauen in Afghanistan den Weltfrauentag zum ersten Mal als einen Tag der Hoffnung begehen konnten. Ein Signal des Aufbruchs, dem nun konkrete Schritte folgen müssen. Frauen stehen die Menschenrechte in gleichem Masse zu wie Männern und doch werden ihre Rechte in vielen Ländern der Welt unter Anführung religiöser oder kultureller Gründe aufs Schwerste verletzt. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, die Gleichberechtigung und tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und Mädchen überall auf der Welt zu fördern.

Wenn Frauen zu Tode gesteinigt werden, weil ihnen Ehebruch vorgeworfen wird, wenn sie wie unter den Taliban systematisch als Sexsklavinnen mißbraucht werden, dann sind dies grausame, zum Himmel schreiende Verbrechen, die nicht toleriert und auch von islamischen Ländern nicht stillschweigend hingenommen werden dürfen. Wir halten den Kulturdialog mit dem Islam gerade nach dem 11. 9. für besonders dringlich, aber er wird nur Früchte tragen, wenn beide Seiten bereit sind, für sie Inakzeptables auch als solches zu benennen. Für uns gehört zu einem ehrlichen Dialog vorrangig auch die Frage der Vereinbarkeit der Scharia mit den Frauenrechten und den internationalen Menschenrechtskonventionen.

Die Bundesregierung wird auf der diesjährigen Sitzung der MRK eine Reihe von Initiativen vorantreiben, die uns seit langem am Herzen liegen. Wir werden uns gemeinsam mit unseren EU-Partnern weiter mit allem Nachdruck für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einsetzen. Wir unterstützen die Ausarbeitung eines starken, effektiven Fakultativprotokolls zur Anti-Folterkonvention der Vereinten Nationen ebenso wie die weltweite Ächtung der Produktion und Ausfuhr von Folterwerkzeugen. Im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wird Deutschland erneut die Resolution zum Recht auf angemessene Wohnung einbringen. Ich bitte hierfür um Ihre Unterstützung.

Lassen Sie mich an dieser Stelle die Bereitschaft Deutschlands bekräftigen, mit den Sonderberichterstattern der MRK zusammenzuarbeiten und sie entsprechend ihren Wünschen in Deutschland zu empfangen.

Herr Vorsitzender, das vergangene Jahrzehnt hat die Menschenrechte in wichtigen Bereichen vorangebracht - die Tribunale in Den Haag und Arusha, der Internationale Strafgerichtshof, der wachsende Stellenwert der Menschenrechte gegenüber staatlicher Souveränität, neue demokratische Verfassungen in vielen Ländern, der erfolgreiche Abschluß der Weltrassismuskonferenz in Durban waren von sehr großer Bedeutung. Möglich wurde dies alles auch deshalb, weil die überragende Bedeutung der Menschenrechte für eine erfolgreiche Modernisierung und gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nach dem Ende der Blockkonfrontation überall auf unserem Globus stärker wahrgenommen wurde.

Wenn heute mit dem Auftauchen einer neuen Bedrohung für den Weltfrieden wieder gefordert wird, Sicherheit über Freiheit und Recht zu stellen, so wäre dies ein gefährlicher, ein fataler Irrweg, aus menschenrechtlicher wie aus politischer Sicht. Die Freiheit und die Menschenrechte sind unsere Grundwerte. Wenn wir sie aufgeben würden, hätten die Terroristen ihren ersten Sieg über uns davongetragen. Sicherheit und Freiheit sind eben gerade keine Gegensätze und das Verhältnis zwischen ihnen ist kein Nullsummenspiel. Sicherheit und Freiheit bedingen sich vielmehr gegenseitig und sie müssen deshalb gemeinsam verwirklicht werden. Diesem Ziel weiß sich Deutschland unerschütterlich verpflichtet.