Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 12.04.2002

Untertitel: Deutschland und Frankreich tragen in der Europäischen Union eine besondere historische und ideelle Verantwortung. Die Überwindung der deutsch-französischen "Erbfeindschaft", die beiden Völkern und dem gesamten Kontinent so unendlich viel Leid gebracht hat, war und ist der tragende Pfeiler des gemeinsamen Europa, das wir nach dem Zweiten Weltkrieg miteinander geschaffen haben.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/75847/multi.htm


Als jemand, der mal Jura studiert hat, weiß ich natürlich um die Bedeutung der juristischen Fakultät dieser Universität. Aber weil mir über Ostern gerade die Lebenserinnerungen von Gadamer in die Hände gefallen sind, weiß ich natürlich auch um die Bedeutung der Philosophie gerade in Freiburg. Deswegen ist es schon eine Ehre für mich, hier in dieser Alma Mater reden zu können.

Freiburg - das wird immer wieder deutlich - ist historisch und auch geographisch ganz eng mit Frankreich verbunden. Oberbürgermeister Rolf Böhme weist immer wieder darauf hin und sieht auch zu, dass dieses enge Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in der Kommunalpolitik eine bedeutsame Rolle spielt. Ich finde, das verdient Nachfolge, in jeder Hinsicht.

Die Stadt - das wissen Sie so gut wie ich - beherbergte bis zuletzt französische Soldaten, die von ehemaligen Befreiern zu Partnern geworden sind, nicht zuletzt in dieser Stadt und durch diese Stadt. Das Frankreich-Zentrum - darauf ist bereits hingewiesen worden - hat sich hier außerordentlich positiv entwickelt und weit über Freiburg hinaus einen hohen Rang, was die Kompetenz angeht, auch zu deutsch-französischen Fragen Stellung zu nehmen.

Ich möchte Ihnen, Herr Rektor, und natürlich auch Ihnen, Herr Mangold, herzlich für diese Einladung und die Möglichkeit danken, hier einiges zu den deutsch-französischen Beziehungen zu sagen.

Zunächst einmal - ich denke, das weiß hier und darüber hinaus jeder: Deutschland und Frankreich tragen eine besondere Verantwortung für die Europäische Union. Das hat historische, aber auch - und das sollte im Vordergrund stehen - vor allen Dingen aktuelle Gründe. Es hat im Übrigen auch ideelle Gründe; darüber wird noch zu reden sein.

Die Überwindung - das ist die historische Dimension dessen, was man mal Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland nannte - dessen, was dem Kontinent, und zwar dem ganzen Kontinent, so unendlich viel Leid gebracht hat, war und ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union und einer der prinzipiellen Begründungszusammenhänge für die Römischen Verträge. Das darf niemals vergessen werden, auch dann nicht, wenn wir uns heute mit aktuellen Fragen, mit einer neuen Bestimmung dessen, was denn das Spezifische des deutsch-französischen Verhältnisses ausmacht, beschäftigen müssen.

Aus dem, was damals ins Werk gesetzt worden ist, ist inzwischen innerhalb Europas ein beispielhafter, weil wirklich grenzenloser Raum des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands geworden. Wenn ich in diesem Zusammenhang Europa sage, meine ich zunächst das integrierte Europa. Aber da gebe ich Ihnen völlig Recht, Herr Mangold: Es wird darauf ankommen, dass das nicht auf Westeuropa beziehungsweise das jetzige integrierte Europa beschränkt wird.

Im Übrigen ist, wenn ich mich richtig erinnere, seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland für alle Bundeskanzler - und zwar völlig unabhängig von den parteipolitischen Präferenzen, die sie hatten - , übrigens auch für alle Staatspräsidenten und Premierminister Frankreichs, von zentraler Bedeutung gewesen. Das ist eine gute historische Kontinuität, eine, die man mit guten Gründen weiter pflegen soll.

Das Ergebnis dieser spezifischen Gemeinsamkeit zwischen Deutschland und Frankreich ist eine bislang schon einzigartige Kooperation im Politischen, und eine einzigartig enge Verflechtung in so unterschiedlichen Bereichen wie denen der Ökonomie, des Jugendaustauschs oder der Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem Gebiet, im universitären Bereich, aber auch - und das, denke ich, gehört ebenso erwähnt - etwa bei Fragen der Kooperation im Rüstungsbereich. Es ist eine Zusammenarbeit, die oft genug und nicht ohne Grund als nachahmenswertes Vorbild für eine erweiterte europäische Zusammenarbeit gesehen worden ist.

Übrigens: Im Kulturellen - weil wir gerade dabei sind - ist 1992 Arte entstanden, ein Sender mit einer Vielfalt höchst differenzierter Themen von hohem Interesse und hohem intellektuellen Anspruch, ein Sender also, der eine deutsch-französische Perspektive und das, was sie inhaltlich bedeutet, tagtäglich in die Wohnzimmer bringt.

Zuletzt - auch das sollte die kulturelle Dimension unterstreichen - haben Präsident Chirac und ich im vergangenen Jahr in Berlin die Deutsch-Französische Filmakademie ins Leben gerufen. Ich denke, auch dieses Kind muss zum Wachsen und Gedeihen gebracht werden.

Deutsch-französische Impulse - das war berechtigte Forderung von Herrn Mangold - sind heute primär auf Europa ausgerichtet, nicht zuletzt deswegen, weil es in den bilateralen Beziehungen selbst angesichts gelegentlicher Interessenunterschiede, die man dann fair miteinander bespricht und austrägt, keinerlei Probleme gibt. Gemeinsame Vorschläge - das ist unsere Erkenntnis - sind geeignet und gleichermaßen nötig, um die europäische Integration sowohl, was ihre Erweiterung als auch ihre Vertiefung angeht, voranzubringen. Wir wissen das.

Die Deutsch-Französische Brigade, die 1989 gegründet wurde, war, wie sich jetzt herausstellt, ein erster und außerordentlich wichtiger Schritt zur Bildung des Eurokorps ein paar Jahre später. Das wiederum ist Voraussetzung oder beispielhaft dafür gewesen, was sich jetzt langsam herauskristallisiert, nämlich die Schaffung einer europäischen außen- und sicherheitspolitischen Identität. Ohne das, was damals auf den Weg gebracht worden ist, wäre es jedenfalls schwieriger geworden, diese gemeinsame Identität ins Werk zu setzen.

Auf einem anderen Gebiet gilt Ähnliches: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing haben Ende der 70er Jahre das Währungssystem reformiert. Das, was sie damals gemacht haben, hat unzweifelhaft die Grundlagen für die Schaffung eines gemeinsamen Währungsraumes gelegt. Dieser gemeinsame Währungsraum erfordert wiederum von Frankreich und Deutschland ein besonderes Maß an politischer Koordination, eine Entschiedenheit bei der Erreichung der politischen Union, wie es vorher in der Geschichte noch niemals notwendig war. Denn eines ist klar: Diejenigen, die den Euro beschlossen haben - sicherlich eine historisch weitreichende, wichtige und richtige Entscheidung - , haben ihn zur damaligen Zeit in Kenntnis der Tatsache eingeführt, dass er eine politische Union braucht, wenn er auf Dauer eine der erfolgreichsten Währungen der Welt werden soll.

Es war ja nicht so, dass diejenigen, die ihn gemacht haben, die Krönungstheorie vergessen hätten. Sie haben sehr wohl gewusst, dass man an sich zunächst die politische Union und dann als Krönung eines solchen Zusammenschlusses eine gemeinsame Währung schafft. Ich glaube, im Nachhinein wird sich herausstellen, dass unter den obwaltenden historischen Bedingungen damals die Umkehr - ich sage das durchaus mit Respekt - richtig gewesen ist. Das heißt aber gleichzeitig, dass es die Aufgabe derer ist, die jetzt Politik gestalten, die politische Union gleichsam nachzuliefern. Denn sonst kann das Konzept auf Dauer nicht funktionieren. Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass das, was wir heute ernten, etwa auf dem Gebiet der Ökonomie, der Währungspolitik, damals von diesen beiden beispielhaft genannten Staatsmännern gesät worden ist.

Übrigens ist es François Mitterrand gewesen, der festgestellt hat, dass der gegenwärtige und vor allen Dingen der zukünftige Inhalt des deutsch-französischen Verhältnisses und dessen Bedeutung sich dadurch ergibt, dass genau dieses Verhältnis im Dienste der europäischen Einigung steht. Die deutsch-französische Aussöhnung - das haben sie gewusst, und wir wissen es auch - war das Fundament des europäischen Hauses. Die deutsch-französische Freundschaft wird und muss, wenn man im Bild bleiben will, den Innenausbau dieses Hauses prägen und ebenso - sonst wird es nicht funktionieren - die Erweiterungsbauten.

In den 80er Jahren hat der Dissident und spätere tschechoslowakische Außenminister Jiri Dienstbier einen Aufsatz unter dem Titel "Träumen von Europa" veröffentlicht. Vieles von dem, was damals noch fast als unmöglich galt, ist inzwischen wahr geworden. Europa - ich glaube, das spüren wir alle, nicht nur auf internationalen Konferenzen, sondern auch ganz bewusst in der täglichen Arbeit - wächst wirklich zusammen, und zwar über Westeuropa hinaus.

Die Menschen in Osteuropa, vor allen Dingen sie, haben die Mauer und den Eisernen Vorhang überwunden, ja buchstäblich eingerissen. Genau das hat dazu geführt, dass unsere und die künftige Generation von Politikerinnen und Politikern eine einmalige historische Chance haben, die Chance nämlich, Europa dauerhaft zu einem Ort des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und des Wohlstandes zu machen.

Ich glaube, das ist auch genau das, was diejenigen, die jetzt der Europäischen Union beitreten wollen, als ihre ureigenen Ziele ansehen. Sie suchen gewiss auch nach Sicherheit im klassischen Sinne. Aber sie suchen vor allen Dingen nach Teilhabe an dem, was wir in den letzten Jahrzehnten in Europa aufgebaut haben: Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand, aber auch an Freiheit und nicht zuletzt auch an den kulturellen Leistungen dieses Kontinents.

Wir wissen, dass sich das alles unter dem Aspekt der Globalisierung und Internationalisierung vollzieht. Aber auch das, was wir seit dem 11. September so bitter verspürt haben, sind neue Herausforderungen - Herausforderungen, die wiederum auch mit Europa zu tun haben. Denn diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam bewältigen. Wir können sie wirklich nur bewältigen, wenn wir zu immer intensiveren Formen der regionalen Zusammenarbeit, naturgemäß aber auch der internationalen Zusammenarbeit kommen.

Das integrierte Europa hat sich selbst, zugleich aber auch die Welt verändert. Es hat ein Stück weit ein Modell geliefert. Wir werden das weiter verändern und verbessern müssen, effizienter gestalten - Sie haben Recht, Herr Vorsitzender - , nicht zuletzt, um Freiheit und kulturelle Identität, aber auch, um unseren Wohlstand zu wahren.

Europa ist also Gegenwart, aber allemal auch Zukunft. Das vereinte Europa ist der gemeinsame Erfolg nicht nur von handelnden Politikerinnen und Politikern, sondern vor allen Dingen der Erfolg von Völkern. Deswegen ist es sowohl in den deutsch-französischen Beziehungen als auch innerhalb Europas besonders wichtig, dass die Gestaltungsaufgabe, von der zu reden war, eben nicht auf Regierungen und offizielle Kontakte begrenzt bleibt, sondern emotional spürbar Teil der Zivilgesellschaft in den unterschiedlichen Ländern wird.

Die europäische Integration kann überhaupt nur gelingen - sie ist übrigens ein Prozess, der noch dauern wird - , wenn sie nicht nur Herzenssache von Politikerinnen und Politikern, von Staatsmännern oder einiger weniger Mitgliedstaaten, sondern Herzenssache der Völker selbst ist.

In diesem Sinne wäre ein Jahrhundertwerk wie das, was wir bereits geschaffen haben, ohne die besondere deutsch-französische Zusammenarbeit nicht zu verwirklichen gewesen, und ohne sie würde es natürlich auch nicht weiter vorangehen. Deutschland und Frankreich haben also aus einer gemeinsam empfundenen Verantwortung heraus immer wieder wichtige Impulse für die Vertiefung und die Erweiterung der Europäischen Union gegeben.

Dass sie dabei auch wohlverstandene, ihren kulturellen, ökonomischen und auch sozialen Traditionen gerecht werdende Interessen im Blick behalten haben, wird gelegentlich als Abkühlung des deutsch-französischen Verhältnisses beschrieben. Ich halte das für ganz falsch. Gerade wenn man weiß, wie eng man zusammenarbeitet und arbeiten muss - des eigenen Volkes, der eigenen nationalen Interessen, aber auch der europäischen Idee wegen - , gerade dann ist eine Basis gelegt, um fair und offen auch gelegentlich auftretende - die wird es immer wieder noch mal geben - unterschiedliche Interessen austragen zu können.

Es ist übrigens ganz bemerkenswert, dass diejenigen, die das am liebsten missverstehen, jene sind, die noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit politisch sozialisiert worden sind. Manche von ihnen rümpfen heute die Nase, weil genau das eingetreten ist, wofür sie selbst immer gekämpft haben. Frankreich und Deutschland sind sozusagen selbstverständlich besonders enge Freunde geworden. Das ist ein Stück Normalität im Verhältnis der beiden Länder zueinander. Darüber sollte man sich eigentlich freuen und nicht Tränen darüber vergießen. Es sind Freunde, die sich eben auch offen die Meinung sagen können, ohne dass damit ein Rückfall in alte Zeiten auch nur ansatzweise zu befürchten wäre.

Es gibt also keinen Zweifel: Frankreich und Deutschland haben auch künftig eine ganz besondere politische Verantwortung, für sich selber und ihre Beziehungen allemal, aber eben als Ausdruck dieser spezifischen Beziehungen auch für die Erweiterung und Vertiefung Europas.

Deutschland und Frankreich haben - auch das ist, denke ich, gerade in dem Europa, in dem es Tendenzen gibt, die niemanden freuen können, besonders wichtig - bei der Überwindung des Nationalismus Besonderes geleistet. Was Männer wie Adenauer und de Gaulle, Schmidt und Giscard d'Estaing, aber auch wie Helmut Kohl und Mitterrand begonnen haben, gilt es, mit Respekt zur Kenntnis zu nehmen und weiterzuentwickeln - gewiss unter neuen Bedingungen, aber in ähnlichem, um nicht zu sagen gleichem Geist.

Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern von ihrer Zeit und den jeweiligen Aufgaben geprägt sind. Naturgemäß verlangt das auch neue Antworten. Es geht eben nicht mehr in erster Linie um die Bewältigung von Vergangenem, sondern um die Gestaltung von Zukunft.

Ich will ein paar Beispiele nennen. Zur Osterweiterung ist schon etwas gesagt worden. Aber zum Beispiel die Diskussion um die Gentechnik wäre doch ein Feld, auf dem zwischen Deutschen und Franzosen neue Gemeinsamkeiten diskutiert und hergestellt werden könnten. Der Frage, was Europa eigentlich ist - ist das einfach nur ein Ort ökonomischer Interaktion, oder ist es vielmehr nicht auch ein Ort kultureller, sozialer Interaktion? - , nachzugehen und gemeinsame Antworten darauf zu finden, würde sich lohnen.

Auch die Frage, welche Antworten Franzosen und Deutsche zusammen auf Gefährdungen finden, die mit Globalisierung verbunden sind - wenn ich auch zu denen gehöre, die sagen, dass sie mehr Chancen als Gefahren in sich trägt - , die Globalisierung, die Notwendigkeit, beispielsweise in globalisierten Finanzmärkten Transparenz und ein Mindestmaß an Verantwortlichkeiten herzustellen, die Entwicklung gemeinsamer Perspektiven bei der Frage der Europäisierung von Bildung und Ausbildung, allŽ das sind Themen, die Felder deutsch-französischer Zusammenarbeit eröffnen.

Hier sind also sinnvolle gemeinsame Antworten zu entwickeln. Wir wollen das auch. Wir haben das fest vereinbart, übrigens auch wiederum völlig unabhängig von der politischen Heimat, die der eine oder andere im deutsch-französischen Verhältnis hat. Dieser Wille zur Gemeinsamkeit, immer wieder zur Einigung und zur Übertragung dessen, was wir gemeinsam gefunden haben, in den europäischen Kontext, macht die Substanz und die Perspektive der deutsch-französischen Zusammenarbeit aus.

Wir werden also das, was wir gegenwärtig und zukünftig miteinander tun wollen, neu bestimmen müssen, ohne uns von dem Geist zu entfernen, der das Verhältnis historisch geprägt hat.

Zum Beispiel werden wir gemeinsam die Frage beantworten müssen, ob das erweiterte Europa der Zukunft eher intergouvernemental zusammenarbeitet oder mehr integrativ angelegt ist. Für mich gibt es - ich bin auch froh darüber, dass ich aus den Reden derer, mit denen ich politisch zu arbeiten habe, dem Staatspräsidenten und dem Ministerpräsidenten, Ähnliches entnehme - zum integrativen Ansatz keine wirklich vernünftige Alternative. Das heißt, in einem erweiterten Europa wird sich die Qualität der deutsch-französischen Beziehung gerade darin erweisen müssen, die europäischen Institutionen in ihrer Arbeit zu stärken, sie zugleich aber auch effizienter zu gestalten. Dazu werde ich noch ein paar Bemerkungen machen, wenn es darum geht, eine Antwort auf die Frage zu finden, die Herr Mangold angesprochen hat: Was ist Inhalt des Konvents, und was muss er leisten?

Die Geschichte Europas in den vergangenen fünf Jahrzehnten ist - das sollte man auch immer mal wieder sagen, gerade Bürgerinnen und Bürgern gegenüber, denen Europa sich häufig als etwas darstellt, was sehr entfernt ist von dem, was sie täglich umtreibt - eine, glaube ich, einmalige Erfolgsgeschichte, und das in durchaus allen gesellschaftlichen Bereichen: wirtschaftlich, kulturell, politisch. Dieses Europa zeichnet sich eben doch durch mehr aus als Stärke, Leistungsfähigkeit seiner Wirtschaft, Erfindergeist oder auch Arbeitsfleiß seiner Menschen. Europa, das niemals in seiner Geschichte geographisch bestimmt war, sondern immer politisch definiert worden ist, steht - das ist meine feste Überzeugung - für eine ganz spezifische Kultur und auch ganz spezifische Form des Lebens.

In Europa hat sich ein eigenes und ein einzigartiges Zivilisations- und Gesellschaftsmodell durchgesetzt. Lionel Jospin nennt es "die europäische Lebensart". Ich habe gelegentlich von einer europäischen Partizipationsethik gesprochen. Gemeint ist, denke ich, in beiden Begriffen eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die auf dem Gedanken der europäischen Aufklärung fußt und die - das ist wichtig - auf die Teilhabe möglichst aller Menschen, jedenfalls vieler, als Triebkraft der europäischen Entwicklung setzt. Dabei meine ich Teilhabe sowohl an den erarbeiteten Werten in der Gesellschaft als auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft.

Diese Gesellschaftsethik unterscheidet sich - auch das dürfte man sagen, ohne dabei überheblich daherzukommen, aber durchaus mit einem gewissen Stolz - von anderen, etwa dem amerikanischen oder dem südostasiatischen Modell. Gerade Europa steht für den wirtschaftlichen, den sozialen, den kulturellen und mehr und mehr auch für den ökologischen Ausgleich. Der Gedanke der Teilhabe - der Teilhabe also am Haben, aber auch am Sagen - in der Gesellschaft ist genuin europäisch und für mich wirklich verteidigenswert.

Europa, das so mühevoll aus seiner blutigen Vergangenheit zur freiheitlichen und friedlichen Gegenwart und Zukunft gefunden hat, ist nicht zuletzt in diesem Sinne wirkliche Wertegemeinschaft geworden. Ich denke, dieses europäische Modell hat sich sozial und vor allem auch ökonomisch bewährt.

Es ist deshalb nach meiner Überzeugung ein Modell, das auch eine vernünftige Antwort auf die Globalisierung selbst ist, weil es Ängste überwinden hilft. Niemand in der Welt soll und muss das nachahmen. Aber unsere Erfahrung bei der Integration einstmals verfeindeter Völker ist ja etwas, das anderen Regionen, sicher unter anderen Bedingungen und in abgewandelter Form, bei der Lösung ihrer teilweise auch historisch begründeten Konflikte durchaus hilfreich sein kann - nicht in dem Sinne, dass wir unser Modell blind exportieren wollten, aber in dem Sinne, dass aus den historischen Erfahrungen und den historischen und gegenwärtigen Antworten darauf durchaus Konfliktlösungsansätze zu ermitteln sind.

Dabei wollen wir auch ruhig betonen, dass sich die europäischen Gesellschaften eben nicht mit so gewaltigen Unterschieden in dem, was Einzelnen zur Verfügung steht, und schon gar nicht mit sozialer Ausgrenzung von großen Teilen der Gesellschaft abfinden, wie das in anderen Kontinenten offenbar üblich ist und offenbar hingenommen wird.

Der Europäische Rat in Laeken hat im Dezember 2001 den Konvent, der hier schon eine Rolle spielte, eingesetzt. Dieser Konvent beschäftigt sich mit der institutionellen Zukunft Europas. Dass man, wenn man das tut, sich auch immer inhaltliche Vorstellungen vom Werden Europas machen muss, liegt ja auf der Hand.

Ich habe zu einem frühen Zeitpunkt sehr bewusst die Bewerbung von Valéry Giscard d'Estaing für den Vorsitz in diesem Konvent unterstützt. Dabei ging es auch um eine Persönlichkeit, dessen europäische Gesinnung völlig außer Frage steht und der einen gewaltigen Erfahrungsschatz mitbringt. Aber es ging vor allen Dingen darum, deutlich zu machen, dass wir gerade für diese Arbeit Frankreich in besonderer Weise brauchen. Ich habe seine Bewerbung also nicht nur der Person wegen unterstützt, sondern weil es auch ein Stück Demonstration, wenn Sie so wollen, der deutsch-französischen Zusammenarbeit werden und sein sollte.

Was muss dieser Konvent tun? Ich denke, sie haben wirklich schwere Arbeit zu leisten. Beneiden tue ich da keinen, auch wenn man sich die Größe des Gremiums anschaut. Ich denke, wichtig ist zunächst einmal, dass an dieser Diskussion, an der Arbeit des Konvents möglichst viele beteiligt werden. Also muss Öffentlichkeit über die Diskussionen, die dort stattfinden, hergestellt werden. Es wäre ja schön, wenn es europäische Öffentlichkeit gäbe. Es gibt sie aber in dem Sinne noch nicht, so dass wir das zunächst in den nationalen Öffentlichkeiten diskutieren müssen. Aber was das im Einzelnen in der zivilen Gesellschaft bedeutet, ist auch ein Feld deutsch-französischer Zusammenarbeit. Wir müssen also versuchen, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger in diese Arbeit einzubeziehen. Das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass es für die Menschen, die sich nicht jeden Tag damit professionell befassen dürfen oder müssen, auch eine Sache der eigenen Identität, des eigenen politischen Wollens wird.

Die Ziele, die dort erreicht werden müssen, sind ziemlich weit gesteckt. Giscard d'Estaing hat seinen Arbeitsauftrag formuliert. Er sagt, ein Konzept für eine Europäische Union müsste vorgeschlagen werden,"das gleichzeitig der gesamteuropäischen Dimension und den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird". Das ist eine wahrhaft riesige Arbeit, die da auf ihn zukommt.

Was sind - jedenfalls nach meiner Auffassung - die wichtigsten Elemente dieser Arbeit? Ich habe darauf hingewiesen, dass nach meinem Selbstverständnis die inhaltliche Basis das ökonomische, das kulturelle und soziale Modell sein muss. Aber was ist institutionell zu leisten? In dem, was vom Präsidenten selbst formuliert worden ist, wird gesagt: Anforderungen des 21. Jahrhunderts müssen erfüllt werden, aber es muss gesamteuropäisch sein.

Wie passt das zueinander? Ich glaube, das Wichtigste ist, die Stärkung des demokratischen Gedankens mit dem Gedanken der Effizienz zu verbinden. Wenn man sich davon eine Vorstellung macht, geht es im Grunde um drei, vielleicht auch eher vier wesentliche Themenbereiche, von denen einer abgearbeitet worden ist. Es geht letztlich darum, europäische Verfasstheit zu schaffen - wie immer man das dann nennt - , eine europäische Verfassung. Diese Frage interessiert übrigens nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern auch die skandinavischen Länder, vor allen Dingen auch Großbritannien, auch wenn man dort lieber Grundgesetz sagt. Auf den Namen kommt es mir überhaupt nicht an. Es kommt darauf an, dass der institutionelle Inhalt stimmt.

Es geht also um die Verfasstheit des künftigen Europa und um seine Effizienz. Denn das künftige erweiterte Europa darf ja nicht nur verfasst sein. Es muss auch politisch führbar bleiben. Wer einmal, wie ich das tun durfte, die Diskussionen im Europäischen Rat mitgestaltet - und da sitzen jetzt 15 - und mitbekommen hat, wie da um Spiegelstriche gestritten wird und man eine Stunde darüber redet, unter welchen Bedingungen etwa denn der Montblanc-Tunnel wieder geöffnet werden kann - in diesem Kreis, wohlgemerkt, keineswegs im Kreis von Beamten, deren Aufgabe das eigentlich wäre - , bekommt, wenn er sich vorstellt, da sitzen 25 oder gar 27 zusammen, wenn in einer längeren Perspektive Rumänien und Bulgarien dabei sind, eine ungefähre Vorstellung davon, was in diesem Zusammenhang die Schaffung von Effizienz heißt. Was ich hier jetzt sage, ist durchaus selbstkritisch gemeint.

Dieses Europa muss führbar bleiben. Deshalb müssen bestimmte Aufgaben erledigt werden. Wenn es um die Verfasstheit geht, braucht man einen Katalog von Grundrechten, die für alle Europäer gelten sollen. Da gibt es übrigens eine wunderbare und sehr verdienstvolle Vorarbeit mit der Charta. In dieser europäischen Charta steht alles, was der Grundrechtsteil einer Verfassung westlichen Zuschnitts erfordert. Da stehen wirklich präzise formuliert die Grundrechte europäischer Bürger drin.

Die Aufgabe ist also, das, was es dort gibt, zu nehmen und es für alle verbindlich zu machen. Dann hätte man den Grundrechtsteil einer europäischen Verfassung. Dabei kann es allerdings nicht bleiben. Europa wird wohl - in welcher Form auch immer - föderalistisch organisiert sein. Dabei muss man nicht unbedingt an das deutsche Modell denken. Aber dass es eine Form von föderalistischem Europa sein wird, liegt doch auf der Hand.

Dann muss geklärt werden - das ist auch die Arbeit des Konvents - , wie denn das Verhältnis zwischen der europäischen Ebene einerseits und den nationalen Ebenen andererseits auch staatsrechtlich organisiert werden soll. Es geht also um die Frage, was in welchen Entscheidungszusammenhängen Sache Europas wird und was Sache der Nationalstaaten bleibt. Da gibt es eine Leitlinie. Die ist definiert. Das ist das so genannte Subsidiaritätsprinzip, also möglichst viel nach unten delegieren, was im Übrigen auch den Gedanken Europa im Herzen der Bürgerinnen und Bürger bekräftigen würde. Aber das ist ja nur eine allgemeine Leitlinie. Also muss geklärt werden: Was wird Sache Europas sein, und was bleibt Sache der Nationalstaaten?

Ich denke, ganz im Sinne dessen, was ich eingangs zu erläutern versucht habe, dass die gemeinsame Währung eine politische Union erfordert, wenn sie auf Dauer Erfolg haben soll - und das muss sie, weil sie unumkehrbar ist - , braucht man natürlich verstärkte Koordination und eine verstärkte europäische Identität in den wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Man braucht das in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das wird ein ganz schwieriger Weg. Das hat etwas mit den nationalen Traditionen, die in allen Mitgliedstaaten gepflegt werden, zu tun.

Man braucht es natürlich auch auf dem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik. Ein integriertes, erweitertes Europa hat eine gemeinsame Außengrenze und braucht deswegen Institutionen, die innere Sicherheit produzieren können, ebenso wie es Institutionen braucht, die äußere Sicherheit herstellen können. Das sind, glaube ich, die wesentlichen Bereiche, um die es dabei gehen wird.

Dass die Fragen der kulturellen Identität, der Vielfalt in der Einheit, vielleicht doch eher bei den Nationalstaaten bleiben können, bleiben sollen, liegt für mich auf der Hand. Dagegen ist, glaube ich, nichts einzuwenden.

Der Konvent wird also die Frage der Kompetenzabgrenzung zu regeln haben. Wie übrigens dann die Partner in dem erweiterten und integrierten Europa diese Frage bei sich selber lösen - ob nach deutschem oder französischen Muster oder mit Zwischenlösungen, wie sie jetzt in Großbritannien erarbeitet worden sind - , ist deren Sache. Damit muss sich Europa nicht beschäftigen. Hier geht es nur um die Abgrenzung zwischen der europäischen und der nationalstaatlichen Ebene. Der Rest ist Sache der Nationalstaaten selbst. Das kann man eher zentralistisch regeln wie in Frankreich oder föderal wie in Deutschland oder sich Zwischenlösungen ausdenken. Ich denke, da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.

Ich komme zu dem dritten Punkt, der nach meiner festen Überzeugung notwendig ist. Eine solche Verfassung, die einen Grundrechtsteil, einen Kompetenzteil hat, braucht natürlich auch eine Vorstellung davon, wie die politischen Institutionen arbeiten sollen. Mir wird gelegentlich gesagt, dass meine selten und dann nur sehr dezent geäußerte Kritik an der Europäischen Kommission - besser: an deren Entscheidungen - damit zu tun habe, dass ich sie schwächen wollte. Das ist überhaupt nicht der Fall. Wer sich in dem Sinne, europäische Verfasstheit zu schaffen, Gedanken über politische Führbarkeit macht und dabei ein eher integratives Modell im Auge hat, der muss ganz selbstverständlich eine starke Exekutive wollen. Aber eine starke Exekutive ist dann auch eine, die sich mit anderen Vorstellungen, als sie selber gehabt hat - im Ökonomischen, im Sozialen, im Kulturellen - , auseinandersetzen können muss. Das ist kein Widerspruch, sondern es ergänzt einander.

Ich bin für eine starke Exekutive, wie immer man sie nennt. Aber wenn man eine starke Exekutive hat, um dieses Europa politisch führbar zu machen, dann braucht man auch eine starke Kontrollinstanz der Exekutive. Deshalb müssen die Rechte des Parlaments gegenüber einer gestärkten Exekutive ebenfalls ausgebaut werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie eigentlich die weiter bestehenden Nationalstaaten in einer integrierten und erweiterten Europäischen Union ihre Vorstellungen einbringen können. Welche Funktion hat also der heutige Rat? Da kann man sich vorstellen - ich will da niemanden präjudizieren - , dass man den Rat zu einer starken zweiten Kammer ausbaut. Man kann andere Vorstellungen entwickeln. Der Konvent wird diese Fragen zu diskutieren und zu beantworten haben.

Dann geht es viertens darum, wie dieses Europa finanziert wird. Lassen Sie mich feststellen: Ich gehöre nicht zu denjenigen, die sagen, man muss sich besonders intensiv mit der Nettozahlerposition des einen oder anderen beschäftigen. Deutschland - das wissen wir ganz genau - profitiert vor allem wirtschaftlich von der europäischen Integration. Deutschland wird auch politisch sehr viel von der Erweiterung haben. Also ist es nur gerecht, dass wir unseren vernünftigen Anteil an der Finanzierung der Integration übernehmen. Das ist nicht das wirkliche Problem. Aber natürlich wird darüber zu diskutieren sein, wie hoch dieser Anteil ist. Alles muss in einem sinnvollen Verhältnis stehen.

Deshalb sehe ich Diskussionsbedarf im Konvent zur Frage, wie die Finanzierung aufgebracht werden soll. Wer trägt hierfür letztlich die Verantwortung? Es ist natürlich nicht schön, dass diejenigen, die das Geld ausgeben, den Bürgerinnen und Bürgern in Europa nicht erklären müssen, warum sie wie viel einnehmen. Denn das Einnehmen bedeutet ja immer, dass man es jemandem wegnehmen muss, wofür man selten gelobt wird.

Deswegen glaube ich, dass der vierte Teil einer solchen Verfasstheit Europas schlicht darin bestehen muss, sich Gedanken zu machen, wie die bisher indirekte Finanzierung am sinnvollsten in eine teilweise direkte, jedenfalls durchsichtigere, für die Bürger nachvollziehbare Art des Aufbringens der notwendigen Finanzmittel überführt werden soll.

Das sind dann in vier Teilen - das kann man gerade an dieser ehrwürdigen Universität mit ihrer so berühmten juristischen Fakultät sagen - die klassischen Grundzüge einer Verfassung westlichen Musters. Das ist die Aufgabe, die der Konvent auf diesem Sektor wird leisten müssen.

Ich denke, wenn man auf diese Weise politisch arbeitet und so zu bestimmen sucht, was der Inhalt Europas ist - Europa nicht nur als Ort ökonomischer, sondern auch als Ort kultureller und sozialer Interaktion, Europa, das ein spezifisches Gesellschaftsmodell hat und behalten soll - , wenn man dieses Europa gleichzeitig erweitert und sinnvoll verfasst macht, hat man die notwendigen Elemente einer politischen Form, die gleichermaßen demokratisch und effizient ist.

Das ist die Aufgabe, die diese und die künftigen Generationen von politischen Entscheidungsträgern zu leisten haben werden. Denn in diesem Sinne ist das wirklich ein Prozess - übrigens einer, bei dem es mal schneller und mal weniger schnell geht. Wir wollen die Menschen mitnehmen. Das erfordert gelegentlich Besinnung auf das, was schon erreicht ist, und sorgfältige Begründung dessen, was man erreichen will. Dies ist kein Manko. Deswegen muss man nicht gleich bei jeder Hürde vom Scheitern reden oder schreiben.

Ich denke vielmehr, wir kennen die Aufgaben. Wir haben die institutionellen Voraussetzungen für die Erledigung der Aufgaben geschaffen. Was wir alle miteinander brauchen und weswegen Veranstaltungen und Institute wie diese wichtig sind, ist schlicht, dass im Bewusstsein möglichst vieler Menschen bleibt, dass, um diese Ziele zu erreichen, deren Grundlagen wir gelegt haben, die deutsch-französische Zusammenarbeit in neuen Formen fundamental ist. Sie war es über die Zeit der Nachkriegsgeschichte, und sie wird es bleiben, auch deswegen, weil die Aufgaben so gewaltig sind, dass einer alleine sie nicht leisten kann. Deutschland und Frankreich zusammen sind aber eher in der Lage, sie zu bewältigen und sie müssen sie auch gemeinsam bewältigen.

Das ist, glaube ich, der Kern dessen, was am Frankreich-Zentrum entwickelt und geforscht wird und von hier ausgeht: Zu dieser Form gemeinsamer Arbeit in und für Europa gibt es gegenwärtig und in Zukunft, jedenfalls nach meiner Einschätzung, keine wirkliche Alternative.