Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.04.2002

Untertitel: Es gibt heute auf dem Arbeitsmarkt allen Grund zu Optimismus. Und es gibt weiterhin allen Grund dafür, den Beschäftigungsaufbau durch eine sozial gerechte und gleichermaßen effiziente Arbeitsmarktpolitik zu flankieren. Eine Arbeitsmarktpolitik, die selbstverständlich darauf ausgerichtet sein muss, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt, in eine dauerhafte Beschäftigung zu integrieren.
Anrede: Herr Oberbürgermeister, lieber Florian Gerster, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/32/77232/multi.htm


die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und die Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums stehen, wer wollte das bezweifeln, in einem nicht auflösbaren, weil engen Zusammenhang. Deswegen war es wichtig, den erfolgreichen Versuch zu machen, die Wachstumskräfte der deutschen Wirtschaft wieder zu stärken - und dies dauerhaft.

Gestärkt werden konnten sie nur durch eine konsequente Politik der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und durch eine verlässliche Steuerpolitik, die die Unternehmen auf der einen Seite, also der Angebotsseite, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien auf der anderen Seite - das ist also das, was man in der volkswirtschaftlichen Terminologie als Nachfrageseite bezeichnet - gleichermaßen entlastet. Es galt - und das ist realisiert worden - , eine sinnvolle Balance zwischen Reformmaßnahmen in der Steuerpolitik auf der Angebots- und Nachfrageseite zu schaffen. Das ist mit den Steuerreformmaßnahmen gelungen, die die Bundesregierung und die sie tragende Koalition durchgesetzt haben. Für die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes wird wichtig bleiben, dass man die Perspektive beibehält und nicht in jährliche Steuergesetze zurückfällt, die Planbarkeit von Investitionen ebenso ermöglichen wie Berechenbarkeit der eigenen Einkommenssituation auf der Nachfrageseite und damit Sicherheit und Verlässlichkeit für das eigene Leben.

Diese Politik hat sich ausgezahlt und zahlt sich weiter aus, denn die deutschen Unternehmen sind entgegen dem, was gelegentlich gesagt wird, auf dem Weltmarkt außerordentlich konkurrenzfähig. Jahr für Jahr gewinnen sie Marktanteile hinzu. Das heißt, die deutsche Exportwirtschaft hat den Einbruch im Welthandel besser überstanden als beispielsweise die Konkurrenz aus Japan - die uns ja gelegentlich als ein Vorbild dargestellt wird - oder selbst die aus den Vereinigten Staaten.

Die deutschen Unternehmen - es ist mir wichtig, gerade das in dem Zusammenhang zu sagen - sind also gut gerüstet für den bevorstehenden Aufschwung der Weltwirtschaft und die Belebung der Konjunktur in Europa und auch in Deutschland. Vieles deutet darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft stärker vom Konjunkturaufschwung in der Welt profitieren wird als andere. Die Voraussetzungen für eine Wende in der Binnenkonjunktur sind in der Tat günstig.

Das Preisklima ist weiterhin stabil und ruhig. Die Zinsen sind auf einem erfreulich niedrigen Niveau, was den Konsum und Investitionen sowie ihre Refinanzierung erleichtert. Auch die Erwartungen in der Wirtschaft sind zunehmend positiv. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist bereits zum vierten Mal in Folge deutlich gestiegen und befindet sich inzwischen über dem langjährigen Durchschnitt. Wirtschaftsforscher, Sachverständige, Analysten und institutionelle Anleger blicken optimistisch in die Zukunft. Die Produktion wächst in vielen Bereichen bereits wieder deutlich. Auch die Nachfrage hat sich seit November letzten Jahres kontinuierlich erhöht.

Ein wichtiger Impulsgeber für die konjunkturelle Erholung in Deutschland ist unverändert die Industrie. Die Stärke unserer Industrie, ihre Investitionskraft und die hohe Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben dieses Land zum Vizeweltmeister beim Export gemacht. Auch für dieses Jahr können wir wieder mit einer deutlichen Beschleunigung der Ausfuhren rechnen.

Die positive Entwicklung der Lohnstückkosten trägt sicher dazu bei. Diese haben sich seit 1998 weit günstiger entwickelt als in fast allen anderen Industrienationen: Während es in Deutschland in den vergangenen vier Jahren nur einen Anstieg um knapp ein Prozent gegeben hat, sind die Lohnstückkosten in den USA im gleichen Zeitraum um mehr als zehn Prozent gewachsen. All das sind Belege für die enorme Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der deutschen Wirtschaft. All das sind Belege dafür, dass wir Rahmenbedingungen haben, die höhere Beschäftigung ermöglichen.

Auch auf dem Arbeitsmarkt - dies ist in den jüngsten Zahlen deutlich geworden - ist die Talsohle durchschritten. Seit 1998 ist die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um 1,2 Millionen gestiegen. Wohlgemerkt meine ich hier sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Niemals zuvor waren mehr Menschen in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auch das ist die Wahrheit: Trotz des tiefen Einbruchs der Weltwirtschaft ist die Zahl der Arbeitslosen im Vergleich zu 1998 zurückgegangen, leider nicht so, wie wir uns das alle vorgestellt haben. Aber immerhin sind fast 500.000 weniger - lassen Sie mich das so sagen - auch eine Größenordnung, die diskutabel ist.

Wichtig ist, dass das niemandem reichen darf. Und uns reicht es schon gar nicht. Aber aufbauen kann man darauf schon. Und wir wollen das tun.

Unser präventiver Ansatz zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit hat sich gerade bei sogenannten Problemgruppen ausgezahlt: Beispielsweise geht die Langzeitarbeitslosigkeit - jedenfalls in Westdeutschland - überproportional zurück. Was mir besonders wichtig ist: Auch bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit haben wir im Vergleich zu unseren europäischen Partnern wirklich wichtige und weit überdurchschnittliche Erfolge erzielt.

Es gibt also Grund dafür, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Es gibt weiterhin allen Grund dafür, den Beschäftigungsaufbau durch eine sozial gerechte und auch effiziente Arbeitsmarktpolitik zu flankieren. Eine Arbeitsmarktpolitik, die selbstverständlich darauf ausgerichtet sein muss, Menschen in den ersten Arbeitsmarkt, also in eine dauerhafte Beschäftigung zu integrieren.

Der sich abzeichnende konjunkturelle Aufschwung wird sich schon sehr bald auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machen. Aber angesichts des Wandels in der Arbeitswelt und auch auf dem Arbeitsmarkt reicht es nicht aus, allein auf Wirtschaftswachstum zu setzen. Die Ansprüche in der Arbeit, aber auch die Ansprüche an die Arbeit sind gestiegen. In vielen Branchen ist der Anteil gering qualifizierter Tätigkeiten in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.

Um die hochwertigen Beschäftigungsmöglichkeiten konkurrieren weltweit immer mehr Wirtschaftsstandorte. Denken wir nur an die Flexibilisierung der Arbeitszeit, an projektbezogene Arbeit und die hoch komplexe und sich ständig fortentwickelnde Technik und Technologie. Globalisierung und der technische Fortschritt in der Arbeitswelt schaffen völlig neue Wettbewerbssituationen, denen sich die Unternehmen stellen müssen. Ein immer höheres Maß an Qualifikation, vor allem dauerhafte Anstrengungen zur Qualifizierung unserer Menschen sind deshalb notwendig, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.

Konzepte und Strategien eines lebenslangen, lebensbegleitenden Lernens spielen dabei eine immer wichtigere Rolle. Denn es gilt, die individuelle Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen herzustellen, zu erhalten und, wo immer es geht, zu verbessern. Ansätze einer fortdauernden oder permanenten Qualifizierung sind neu. Sie sind aber unverzichtbar, weil es eben nicht mehr ausreicht, auf fertige Abschlüsse zu vertrauen, die jeweils das erfolgreiche Bestehen eines Bildungsabschnitts bescheinigen.

Die Lösung kann also folglich auch nicht darin bestehen, nach Schule, Ausbildung und ersten Berufserfahrungen einen weiteren Abschnitt der Weiterbildung und Qualifizierung hinzuzufügen. Nein, die Lösung kann nur darin bestehen, parallel zur beruflichen Tätigkeit Weiterbildung und Qualifizierung als eine dauernde Aufgabe für den Einzelnen zu etablieren und ihm dabei hilfreich zu sein.

Das ist der Grund, warum wir mit dem, was wir Job-AQTIV-Gesetz nennen, die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Dieses Gesetz - Sie wissen es - ist seit vier Monaten in Kraft. Schon nach einer kurzen Zeit zeigt sich: Das Job-AQTIV-Gesetz ist eine solide Grundlage für eine wirksame Politik des Förderns, aber eben auch des Forderns der Betroffenen.

Es geht darum, mit dem einzelnen Arbeitslosen individuelle Vereinbarungen darüber zu treffen, wie eine erfolgreiche Wiedereingliederung in Arbeit - ich betone: in den ersten Arbeitsmarkt - am besten erreicht werden kann. Welche Möglichkeiten ergeben sich aus der jeweiligen Biografie und Ausbildung? Was muss die Behörde tun, um die es geht? Welche Förderungen sind objektiv möglich? Aber auch: welche Schritte müssen die Arbeitslosen selbst gehen? Auch das ist wichtig und wird immer wichtiger werden.

Zusätzlich zum Job-AQTIV-Gesetz haben wir eine neue Vermittlungsoffensive gestartet. Denn, wenn man den Zahlen glauben kann, die insbesondere von den Wirtschaftsverbänden unterstrichen werden, dann gibt es immer noch weit mehr als eine Million offener Stellen in den deutschen Unternehmen. Viele Arbeitgeber beklagen immer wieder, sie hätten es inzwischen aufgegeben, diese Stellen der Bundesanstalt überhaupt zu melden. Ich will jetzt nicht auf mögliche Animositäten zwischen Arbeitgebern auf der einen und öffentlicher Arbeitsvermittlung auf der anderen Seite eingehen. Aber eines muss klar sein: Bei so vielen unbesetzten Stellen sind ganz offensichtlich noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Arbeitslose wieder dauerhaft in Beschäftigung zu bringen.

Darum kann die Konsequenz nur lauten: Damit die Vermittlung besser und reibungsloser funktioniert, müssen die Vermittler über alle - und ich betone: alle - unbesetzten Stellen Bescheid wissen. Hier liegt eine Bringschuld der Unternehmen, die dafür sorgen müssen, dass das auch geschieht. Übrigens zeigt sich auch an solchen Punkten Qualität von Selbstverwaltung, um das sehr deutlich zu sagen.

Im Interesse der Arbeitslosen ist eine neue Form und neue Intensität der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen einerseits und Arbeitsvermittlern andererseits notwendig. Auch das ist Teil eines Reformkonzeptes. Wer also glaubte, man könne sich in der Wirtschaft, also in den Unternehmen, einfach zurücklehnen - "Herr Gerster und seine Kollegen werden das schon machen" - , irrt. Hier gibt es eine Verpflichtung der Unternehmen, Arbeitsmarktpolitik aktiv - ich betone: aktiv - zu unterstützen.

Die Arbeitmarktpolitik hatte sich immer wieder auf Umbrüche im Beschäftigungssystem und auf strukturelle Veränderungen in der Arbeitswelt einzustellen. Von den Anfängen der Arbeitslosenversicherung bis in die 60er Jahre hinein stand die passive Arbeitsmarktpolitik im Vordergrund. Die Arbeitsverwaltung war im Wesentlichen zuständig für die Auszahlung von Lohnersatzleistungen.

Mit dem tiefgreifenden Strukturwandel in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft - ich erinnere hier an einzelne Branchen wie etwa den Bergbau, Werften, Stahl oder Textil und Bekleidung - stieß außerdem die passive Arbeitsmarktpolitik immer mehr und erkennbar an ihre Grenzen. Erforderlich war deswegen ein qualitativ neuer Ansatz der Arbeitsmarktpolitik, der den Strukturwandel begleitet und ihn nicht aufzuhalten versucht, sondern gestaltend in diesen Strukturwandel eingreift.

Diese Entwicklung führte im Jahr 1969 schließlich zum Arbeitsförderungsgesetz. Über lange, lange Zeit ist es bis heute der Inbegriff der aktiven Arbeitsmarktpolitik in der sozial-liberalen Koalition und auch später. Die aktive Arbeitsmarktpolitik mit ihren Maßnahmen zur Umschulung, Weiterbildung und Qualifizierung oder auch, wo nötig, zur Arbeitsbeschaffung war - ich denke, auch das gehört ausgesprochen - durchaus erfolgreich.

Nicht zuletzt nach der Herstellung der staatlichen Einheit, also nach der Integration der ehemaligen DDR-Kommandowirtschaft in die westdeutsche Marktwirtschaft, hat aktive Arbeitsmarktpolitik einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, um soziale Verwerfungen mit all dem, was sich für die einzelnen Beschäftigten damit verbindet, in Ostdeutschland - und naturgemäß dann auch Westdeutschland beeinflussend - zu verhindern. Ohne die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir auch weiterhin gerade und vor allen Dingen in den ostdeutschen Ländern benötigen, wären wir bei der Herstellung der inneren Einheit längst nicht so weit gekommen, wie wir bei allen Schwächen, die es noch gibt und die wir beseitigen müssen, schließlich doch gekommen sind.

Und noch etwas ist mir an dieser Stelle nicht nur, aber auch der Fairness wegen wichtig: Der frühere Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, ist jemand, der sich stets dafür eingesetzt hat, den Menschen in Ostdeutschland während der Übergangs- und Anpassungskrise neue Beschäftigung und Hoffnung durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu geben. Ich denke, wir haben Anlass, ihm dafür auch dankbar zu sein.

Aber auch die Erfolge der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach der deutschen Einheit können eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bekannten Instrumente der Arbeitsmarktpolitik immer öfter auch versagen. Das hat nicht zuletzt mit dem weitergehenden Strukturwandel und den neuen Bedingungen zu tun, die wir in einer globalisierten Ökonomie vorfinden. Sie sind nicht mehr wirksam genug, die neuartigen strukturellen Probleme infolge von Globalisierung und damit einhergehender verschärfter internationaler Konkurrenz und des Übergangs von einer Industriegesellschaft zu einer wissensbasierten - nicht allein, aber doch ganz wesentlich - Dienstleistungsgesellschaft zu lösen.

Was wir brauchen, ist also eine neue Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Weg von der bloß aktiven, durchaus erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik, hin zu einer, die Betroffenen aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Die traditionellen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik weisen zu viele Defizite auf. Sie entsprechen immer weniger den Bedürfnissen der Wirtschaft und auch längst nicht mehr der arbeitsuchenden Menschen. Diese haben ein Interesse an einer dauerhaften und verlässlichen Beschäftigung, nicht aber an vorübergehenden Maßnahmen ohne konkrete Anschlussperspektive.

Die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, so wie wir sie verstehen, folgt einem neuen Verständnis: Ihr geht es weit stärker als bisher um den einzelnen Menschen, der Beschäftigung sucht, und um dessen individuelles Qualifikations- und damit Beschäftigungsprofil. Sie orientiert sich viel stärker an den Stellenprofilen und den Qualifikationsanforderungen, die die Arbeitsplätze in den Unternehmen heute aufweisen. Auch hier gilt: Um diese Profile zu kennen, muss man die Stellen wissen. Sie müssen auch gemeldet werden.

Aktivierende Arbeitsmarktpolitik umfasst aber noch mehr: Wir brauchen weitere wirksame Anreize zu beschäftigungsorientiertem Verhalten durch die Betroffenen selbst. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz und unseren anderen Programmen stärken wir die individuelle Entscheidungsfreiheit des Einzelnen. Aber wir tun nicht nur das: Wir verlangen, was auch nötig ist, von jedem eine deutlich größere Verantwortung für die eigene Perspektive und die seines beruflichen Fortkommens. Diese Kombination von Fördern, aber eben auch von Fordern eröffnet ganz neue Perspektiven bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

Das deutsche wie das europäische Sozialmodell beruhen auf dem Gedanken der Teilhabe. Der Teilhabe an den Werten, die in der Gesellschaft geschaffen werden - also am Haben - , aber auch der Teilhabe an den Entscheidungen in der Gesellschaft - und keineswegs nur durch Wahlen - , also auch am Sagen in der Gesellschaft. Sie beruhen auf der Teilnahme an den demokratischen Entscheidungen der Teilhabe dort und dem erarbeiteten Wohlstand.

Ich denke, dieses Sozialmodell - und die Bundesanstalt ist ein wichtiger Teil dessen - hat sich ungeachtet aller Schwächen, die immer wieder sichtbar werden und die man abstellen muss, gerade im Zuge der Globalisierung international bewährt. Das deutsche Sozialmodell - darauf ist hingewiesen worden - ist international konkurrenz- und wettbewerbsfähig. Es garantiert hohe Produktivität und hohe Arbeitsmotivation der Beschäftigten, eben weil Teilhabe gewährleistet wird.

Dieses Modell unserer sozialen Marktwirtschaft lebt davon, dass der Ausgleich zwischen den Wünschen der arbeitenden Menschen nach Sicherheit und Planbarkeit ihres Lebens und das ihrer Familien und den Bedürfnissen der Unternehmen nach zureichender Flexibilität im Einsatz der Arbeitskräfte immer wieder gelingt. Ich denke, auch das ist ein wichtiger Aspekt, der in unsere Diskussion gehört.

Wir Deutschen jedenfalls sind mit der Politik des sozialen Ausgleichs und der sozialen Kohäsion, des sozialen Zusammenhalts also, stets gut gefahren. Deswegen, so denke ich, muss man gegenüber Forderungen zurückhaltend sein, die ihr Heil darin suchen wollen, die Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen einfach zu Objekten von Entscheidungen zu degradieren. Das kann und darf unsere Sache nicht sein. Das wäre dann falsch verstandene Deregulierung oder auch Flexibilisierung.

Worum es geht - es ist mir wichtig, dass das in überschaubarer Zeit deutlich wird und deutlich bleibt - ist, die Anforderungen nach Sicherheit und Planbarkeit der abhängig Beschäftigten, was ihr eigenes Leben angeht, mit den ökonomischen Notwendigkeiten übereinzubringen. Dass das geht, haben wir bewiesen. Wir haben dabei bewiesen, dass jede Einseitigkeit in die Irre führt, ein hoch attraktives Sozialmodell schließlich in Frage stellt, wozu es überhaupt gar keinen Anlass gibt. Denn Deregulierung oder Flexibilisierung an sich bewirken keine neue Beschäftigung. Sie machen Arbeitnehmer schutzlos und degradieren sie zu Objekten, die beliebig geheuert und gefeuert werden können. Das wollen wir nicht.

Diese Rezepte sind bereits in der Vergangenheit gescheitert. Mit den Rezepten von gestern kann man keine Probleme von heute und erst recht keine von morgen lösen. Ich will das an einem Punkt ganz klar sagen: Wer meint, den Kündigungsschutz zur Disposition zu stellen, um Menschen also leichter entlassen und Arbeitslosigkeit verringern zu können, irrt. Das ist auch schon in sich selbst nicht logisch. Die dahinter stehende Vorstellung, auf diese Weise würden dann mehr eingestellt, weil man sie leichter los werden könnte, hat sich jedenfalls in der Zeit vor 1998, in der das Prinzip ja galt, genau als nicht richtig erwiesen. Rezepte, deren Scheitern klar ist, sollte man nicht erneut anwenden wollen.

Die Bundesanstalt für Arbeit ist ohne Frage - und darauf ist hingewiesen worden - eine der wichtigsten Institutionen des deutschen Sozialstaates. Aber, so wie sich der Sozialstaat insgesamt auf neue Bedingungen und Anforderungen einzustellen hat, so müssen sich auch einzelne Institutionen, die ihren Kern ausmachen, immer wieder auf neue Bedingungen einstellen.

Die Bundesanstalt für Arbeit - wir wissen das alle - ist in den vergangenen Monaten Gegenstand zum Teil heftiger Kritik gewesen. Manches war unangemessen und

überzogen. Manche Kritik aber hat sich als sehr berechtigt erwiesen. Genau aus dieser berechtigten Kritik gilt es nun, die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen, und zwar mit dem einen Ziel: Das Potential der Bundesanstalt für die Vermittlung von Arbeitslosen so zu verbessern und so optimal zu nutzen, dass Arbeitgeber und Arbeitsuchende davon etwas haben und am Ende die ganze Gesellschaft profitiert. In der Krise der Bundesanstalt für Arbeit, die offenbar geworden ist, liegt nach meiner festen Überzeugung eine große Chance.

Ich bin Florian Gerster sehr dankbar, dass er aus einer nicht ganz ungesicherten Position, wenn ich das einmal so sagen darf, das Wagnis auf sich genommen hat, sich an die Spitze der Reformbewegung zu stellen. Ich denke, wir alle haben Anlass, ihm und seinen Vorstandskollegen alles Glück und allen Erfolg der Welt zu wünschen, damit diese gewaltige Aufgabe gelingt.

Hinzu kommt, dass Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Arbeitsämtern, über Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, die wichtig und unverzichtbar sind. Auf diesen Kenntnissen und Erfahrungen muss das Reformwerk aufbauen, wenn es gelingen soll. Wenn also die Anreize nach innen und außen stimmen, Engagement und Erfolg künftig belohnt werden, dann werden Sie den gewollten Wettbewerb mit den privaten Anbietern, den wir brauchen, auch gut bestehen. Ich bin jedenfalls davon überzeugt.

Ich sage es noch einmal: Florian Gerster hat gemeinsam mit Heinrich Alt und Frank-Jürgen Weise die schwierige Aufgabe übernommen, die Bundesanstalt für Arbeit zu einer modernen Dienstleistungseinrichtung mit einem kundenorientierten Management zu machen. Parallel dazu wird die Experten-Kommission unter Leitung von Peter Hartz Vorschläge und Empfehlungen für eine weitere, an den eben von mir gekennzeichneten Grundsätzen orientierte Reform der Arbeitsmarktpolitik erarbeiten. Das geschieht mit Hochdruck. Unabhängig von Wahlterminen rechnen wir damit, dass noch im Sommer Ergebnisse vorliegen werden. Ich denke, das kann ruhig in die Diskussion über Perspektiven zukünftiger Politik in Deutschland mit aufgenommen werden.

Dabei werden Peter Hartz und seine Experten, die sich auch auf die Erfahrungen in der Bundesanstalt stützen, Antworten darauf geben müssen, wie die Arbeitsmarktpolitik, deren Wurzeln bekanntlich bis in die Weimarer Zeit reichen, mittelfristig auf völlig veränderte Anforderungen in einer Wissensgesellschaft mit grundlegend veränderten Arbeitsbiografien eingestellt werden kann.

In diesem Zusammenhang will ich ein Projekt ausdrücklich unterstreichen: Wir werden in der nächsten Legislaturperiode die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe angehen müssen. Wir werden das auch tun. Dass dies in eine Reform der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eingebettet sein muss, liegt auf der Hand, denn man kann nicht Aufgaben transferieren, ohne die Mittel zur Verfügung zu stellen.

Die Bundesanstalt für Arbeit hat in ihrer Geschichte mehrmals bewiesen, dass sie Krisen und Umbrüche meistern und damit Wandel nicht über sich kommen lässt, sondern gestalten kann. Ich bin sicher, dass die Arbeitsämter eine große Chance haben, aus den gegenwärtigen öffentlichen Turbulenzen gestärkt hervorzugehen: moderner, wettbewerbsfähiger, effektiver und vor allen Dingen kundenorientierter. Ich denke, genau das ist im Interesse aller: Im Interesse der Mitarbeiter in den Arbeitsämtern, die, wie wir wissen, ja helfen wollen. Im Interesse der Arbeitgeber, die neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter suchen. Vor allem im Interesse jener Männer und Frauen, die Arbeit und Beschäftigung suchen, und dabei auf die Unterstützung und die Solidarität unserer ganzen Gesellschaft angewiesen sind.

Für diese Gesellschaft handelt nicht zuletzt diese Institution, deren 50. Geburtstag wir feiern und auf deren Leistungen, besser auf die Leistungen der zahllosen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wir durchaus stolz sein können. Das heißt dann aber nicht, etwas, was gut ist, nicht noch besser machen zu können.