Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 25.04.2002

Untertitel: (...) Weder die Realität des palästinensischen Volkes noch die des israelischen Volkes wird ungeschehen gemacht werden können, denn das wäre ein furchtbares Verbrechen. Es wird also nur einen Kompromiss geben können. Wir müssen dazu beitragen, dass ein Kompromiss Realität wird. (...)
Anrede: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/50/77950/multi.htm


Grundlagen der deutschen NahostpolitikDeutsche Nahostpolitik als aktive FriedenspolitikWiederherstellung des gegenseitigen VertrauensDas IdeenpapierSchaffung zweier StaatenNotwendigkeit eines Wege- und verbindlichen ZeitplansEinbeziehung einer starken dritten ParteiTrennung als Beginn eines FriedensprozessesAufbau eines demokratischen palästinensischen StaatesInternationale GarantieverpflichtungUnwirksamkeit von SanktionenDeutsch-israelisches SonderverhältnisGrundlagen der deutschen Nahostpolitik

Nachdem wir die beiden Vorredner, den Bundeskanzler und Ministerpräsident Stoiber für die CDU / CSU, gehört haben, ist es für die deutsche Außenpolitik und insbesondere die deutsche Nahostpolitik in diesem tragischen Konflikt wichtig, die Gemeinsamkeiten, die in beiden Reden zum Ausdruck gekommen sind und die, wie ich denke, in diesem Hause breit getragen werden, zu Beginn meines Beitrags herauszuarbeiten.

Ich habe beiden Beiträgen Folgendes entnommen:

Erstens. Es besteht in der deutschen Nahostpolitik ein breiter Konsens darüber, dass das Sonderverhältnis Deutschlands zu Israel, das historisch begründet und von David Ben-Gurion und Konrad Adenauer entwickelt wurde, unverändert fortbesteht.

Zweitens. Wir alle bejahen uneingeschränkt das Existenzrecht Israels, und zwar ein Existenzrecht in sicheren Grenzen und in Frieden ohne Angst vor Terror für den Staat und die Bürgerinnen und Bürger.

Drittens. Wir wissen, dass die dauerhafte Sicherung der Existenz Israels und seiner Menschen eine Umsetzung der legitimen Interessen der Palästinenser in einem eigenen Staat als wesentliches Element bedingt, einen Staat Palästina, der in gemeinsamer Sicherheit als Nachbar mit Israel in Frieden verbunden ist.

Viertens - auch das finde ich wichtig - . Die Rolle der internationalen Gemeinschaft, vor allen Dingen des so genannten Quartetts - die USA, die Europäische Union, Russland und der Generalsekretär der Vereinten Nationen - , wird ebenfalls als zentraler Punkt angesehen. Angeführt wird die internationale Gemeinschaft ohne jeden Zweifel von den USA, die die entscheidende Rolle spielen. Aber völlig klar ist auch - das hat leider der Camp-David-Prozess gezeigt - , dass selbst die mächtigen und großen Vereinigten Staaten von Amerika allein nicht ausreichen, um als dritte Partei einen Frieden durchsetzen zu können.

Eines allerdings, Kollege Stoiber, wird Ihnen der Bundeskanzler nicht beantworten können, nämlich die Frage nach den Erörterungen des Bundessicherheitsrates; denn diese unterliegen der Geheimhaltung.

Deutsche Nahostpolitik als aktive Friedenspolitik

Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um einen tragischen Konflikt handelt. Es ist ein sehr gefährlicher Konflikt in unserer direkten und unmittelbaren Nachbarschaft. Wir sind mit Israel historisch verbunden, aber wir als Deutschland, wir Europäer sind auch unmittelbare Nachbarn dieser Konfliktregion. Wenn dieser tragische Konflikt eskaliert oder gar explodiert, würde das Konsequenzen für die Menschen bei uns haben. Wir haben es auf furchtbare Art und Weise in Djerba erleben müssen, dass es sich hierbei nicht nur um Vorhersagen, sondern um ganz aktuelle Gefahren handelt. Deswegen ist es so wichtig, dass die deutsche Außenpolitik, eingebettet in die europäische Politik, hier als Friedenspolitik mit initiativ ist und zur Beendigung dieses tragischen Konflikts beiträgt.

Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens

Ich weiß um die Kraft der Bilder. Aber ich warne davor, allein auf die Bilder zu vertrauen. Man wird diesen Konflikt nicht verstehen, wenn man einseitig Schuldzuweisungen vornimmt; denn man wird dann mindestens zur Hälfte falsch liegen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Es wird stattdessen ganz entscheidend drauf ankommen, die Gesprächsfähigkeit beider Seiten wieder herzustellen und sich in die Ängste der jeweils anderen Seite hineinzudenken; denn nur auf dieser Grundlage wird es möglich sein, den Friedensprozess erneut zu beginnen. Das Fatale am Zusammenbruch des Camp-David-Prozesses war und ist, dass er zu einem völligen Zusammenbruch des Vertrauens und auch der politischen Friedensvision geführt hat. Dies wieder herzustellen wird den beiden Konfliktparteien allein nicht gelingen. Es wird hier vielmehr einer starken dritten Kraft, des Quartetts, bedürfen.

In diesem Zusammenhang ist die deutsche Position zu sehen. Wer die ganze Komplexität in kurzer, zusammengefasster Form verstehen will, dem kann ich nur empfehlen, das Interview mit Sari Nusseibeh, dem beeindruckenden palästinensischen Intellektuellen und Direktor der Al-Quds-Universität in Jerusalem, in der heutigen Ausgabe der "Zeit" zu lesen. Er bringt in diesem Interview die ganze Komplexität des Konflikts zwischen den beiden Seiten in wenigen Sätzen zum Ausdruck und macht klar, dass Schuldzuweisungen den Konflikt immer weiter eskalieren lassen und dass stattdessen nur das Aufeinanderzugehen, ein historischer Kompromiss, eine Perspektive für die beiden Völker eröffnet.

Weder die Realität des palästinensischen Volkes noch die des israelischen Volkes wird ungeschehen gemacht werden können, denn das wäre ein furchtbares Verbrechen. Es wird also nur einen Kompromiss geben können. Wir müssen dazu beitragen, dass ein Kompromiss Realität wird. Das ist gegenwärtig schwerer denn je.

Das Ideenpapier

Wir haben ein Ideenpapier entwickelt."Ideenpapier" deswegen, weil wir unsere Ideen in die Europäische Union einbringen wollten. Das haben wir auch getan. Wir haben vorher darüber mit der amerikanischen Seite intern diskutiert. Ihren Versuch, Herr Ministerpräsident Stoiber, hier Differenzen aufzubauen, verstehe ich nur als innenpolitisches Bemühen, in dieser Debatte zwischen Ihrer und unserer Position Abstand zu schaffen. Ich dagegen bin sehr froh, dass es hier einen breiten Konsens gibt. Ich entnehme Ihren Worten auch keine Sachkritik an der Politik, die wir betreiben. Das freut mich. Denn ich kann aufgrund meiner Erfahrungen nur sagen: Wir brauchen hierbei in der Tat eine breite Unterstützung.

Schaffung zweier Staaten

Warum? Es sind im Wesentlichen vier Elemente, die ich für unverzichtbar halte, wenn wir wieder einen Friedensprozess in Gang setzen wollen: Das erste Element ist die Schaffung zweier Staaten. Das hat auch Bush, Präsident des mächtigsten Staates des gegenwärtigen politischen Staatensystems, in seiner Rede vom 11. April - ich finde, an dieser strategischen Orientierung sollten wir unbedingt festhalten - zum Ziel erklärt. Selbst die USA - die Europäer haben dies schon lange getan - erklären die Schaffung zweier Staaten jetzt als Ziel, das es zu erreichen gilt. Es bleibt für uns die Aufgabe, darüber nachzudenken, wie wir eine Brücke bauen können, um aus der gegenwärtig furchtbar zugespitzten Situation heraus dieses Endziel zu erreichen.

Notwendigkeit eines Wege- und verbindlichen Zeitplans

Meine Damen und Herren, aufgrund der Erfahrungen, die ich vor allem im letzten Jahr gesammelt habe, sind drei Dinge unverzichtbar, wenn es funktionieren soll: Erstens. Wir brauchen einen Wegeplan, das heißt, die einzelnen Schritte des Friedensprozesses müssen vereinbart sein. Das allein führt aber zu gar nichts. Dann steht man noch immer - diese Erfahrungen haben wir mit den hervorragenden Vorschlägen des ehemaligen Senators Mitchell und seiner Kommission gemacht - vor verschlossenen Türen und kommt nicht voran, obwohl alle behaupten, sie seien dafür. Denn es würde dann - zweitens - noch immer ein verbindlicher Zeitplan für beide Konfliktparteien fehlen. Aber selbst ein solcher Zeitplan - ich verweise nur auf Oslo, wo ein verbindlicher Zeitplan vereinbart wurde - führt allein zu nichts. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich verdeutliche das an einem praktischen Beispiel, damit die Zuhörerinnen und Zuhörer es verstehen:

Wenn Sie im Nahen Osten eine Vereinbarung treffen, die "Guten Tag" heißt, dann interpretiert die eine Seite das als "Guten Morgen" und die andere Seite als "Gute Nacht". Das ist die Realität. Das bedeutet: Wenn Sie den Konfliktparteien die Umsetzung überlassen, dann werden Ihnen Wegeplan und Zeitmechanismus allein nichts nützen.

Einbeziehung einer starken dritten Partei

Deswegen brauchen Sie die Einbeziehung einer starken dritten Partei. Sie ist sozusagen die Umsetzungsgarantie. Diese Konsequenz müssen wir ziehen, wenn wir das Ziel zweier Staaten, die in Frieden nebeneinander leben, erreichen wollen.

Diese Elemente liegen unserer Ideenskizze zugrunde, weil es meines Erachtens diese Punkte sind, die umgesetzt werden müssen. Ob eine Konferenz am Ende oder am Beginn dieses Prozesses steht, halte ich für eine zwar wichtige, aber taktisch operative Frage. Entscheidend ist, dass wir jetzt auf der Grundlage der Realität im Nahen Osten handeln.

Trennung als Beginn eines Friedensprozesses

Wir müssen uns der Frage der Trennung stellen. Diese Debatte beginnt in Israel. Diese Trennung nicht zu nutzen, sondern politisch folgenlos zu lassen, sie nicht als Beginn eines Friedensprozesses zu begreifen, hieße, eine riesengroße Chance zu verspielen.

Allerdings darf diese Trennung, die kommen wird, nicht dazu führen, dass man versucht, die Palästinenser abzuriegeln. Das würde auf Dauer nicht funktionieren, sondern nur zu einer weiteren Eskalation mit enormen Sicherheitsrisiken für Israel führen. Vielmehr muss - und das sieht unser Ideenpapier vor - dieser Trennungsprozess den Beginn eines politischen Prozesses einleiten, in dessen Zuge nicht völkerrechtliche Annexionen betrieben werden und nicht ein dauerhafter Status festgeschrieben wird, wohl aber Sicherheit und Entzerrung der Konfliktparteien entstehen.

Aufbau eines demokratischen palästinensischen Staates

Der zweite Schritt in diesem Zusammenhang ist mit der palästinensisch-arabischen Seite zu diskutieren. Es geht um die Idee unserer französischen Freunde, die auch vom israelischen Außenminister Peres und vom palästinensischen Verhandlungsführer, dem Parlamentspräsidenten Abu Alaa, formuliert wurde, die Ausrufung eines palästinensischen Staates auf vorläufiger Grundlage, das heißt ohne eine abschließende Entscheidung über den Endstatus, schnell vorzunehmen. Ich will zunächst darauf zu sprechen kommen, warum das für die Palästinenser schwierig ist, bevor ich die Vorteile nenne. Die Palästinenser fürchten, dass dieser Zwischenstatus quasi zu einem Endstatus wird. Das wollen sie nicht. Sie sagen: Wir begnügen uns heute schon mit 22 Prozent des ursprünglichen Territoriums - was wiederum von Israel aufgrund des Teilungsbeschlusses der Vereinten Nationen von 1958 infrage gestellt wird - und wollen uns nicht mit weniger begnügen. Diese Position ist durchaus ernst zu nehmen.

Dennoch meine ich, dass die französische Idee und der Peres-Abu-Alaa-Plan an diesem Punkt einen großen Vorteil bieten. Denn ein Mangel der Osloer Verhandlungen war doch, wie wir festgestellt haben, dass der demokratische Staatsaufbau, das heißt das Schaffen demokratischer Institutionen, in den palästinensischen Gebieten nicht in dem Maße Priorität hatte, wie das der Fall sein muss. Diese beiden Staaten werden immer aufs Engste miteinander verbunden sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Frieden funktionieren kann, wenn in Israel - der Bundeskanzler hat das völlig zu Recht unterstrichen - eine Demokratie besteht und zehn bis 15 Kilometer außerhalb von Jerusalem ein autoritäres Regime herrscht. Das wird nicht zusammenpassen.

Deswegen ist die Frage des Aufbaus eines demokratischen Staates von zentraler Bedeutung.

Internationale Garantieverpflichtung

Beide Konfliktparteien müssen einen Gewaltverzicht leisten und Terrorismus aktiv und entschlossen, ohne Wenn und Aber, bekämpfen. Beide Seiten müssen sich verpflichten, Verhandlungen über den Endstatus zu führen und - das ist noch wichtiger - sie auch zum Abschluss zu bringen. Wir schlagen dafür einen Zeitraum von zwei Jahren vor. In diesem Zusammenhang muss es eine internationale Garantie zur Umsetzung dieses Beschlusses geben. Dieser Punkt ist zentral.

Herr Ministerpräsident, ich verstehe Sie ja: Es ist Wahlkampf und man muss darum auch Dissense herausstellen. Ich kann Ihnen aber nur Folgendes sagen: Die Beteiligung der Europäer und der Deutschen hat sich im Bereich des Monitoring schon als sehr wichtig erwiesen. Nach dem furchtbaren Attentat vor dem Dolphinarium am 1. Juni letzten Jahres hat dieser Ansatz beim Versuch, einen Waffenstillstand hinzubekommen, ganz besonders im Süden von Jerusalem Wirkung gezeigt. Er hat ganz besonders gut in Beit Jala, im Süden von Jerusalem, zwischen Bethlehem und Jerusalem, einem ganz besonders heißen Punkt, wo nahezu nächtlich auf Gebäude israelischer Siedler geschossen wurde, funktioniert, weil dort sechs Monitore der Europäischen Union, darunter auch ein Deutscher, tätig waren. Die Arbeit dieser Geheimdienstmitarbeiter unter Führung eines Briten, Alister Crooke, wurde von Ministerpräsident Sharon mir gegenüber mehrmals nachdrücklich gelobt. Dieses Modell des Monitoring ist meines Erachtens von entscheidender Bedeutung allein deshalb, um die zentrale Frage der Terrorismusbekämpfung, ob jemand festgenommen wurde, wo er und unter welchen Bedingungen er im Gefängnis sitzt, zu beantworten - was in der Region alles andere als einfach ist.

Diese Monitore wurden zwar von Israel offiziell abgelehnt, weil die Internationalisierung abgelehnt wurde, aber ihre Arbeit, die deshalb von mir ironisch als "non-existing monitoring" bezeichnet wurde, wird dort sehr geschätzt; sie haben bei den oben beschriebenen Aufgaben eine sehr wichtige Funktion wahrgenommen. Darum geht es doch bei einem Sicherheitsmechanismus. Dass das zu mehr führen muss, kann doch heute beim besten Willen niemand behaupten... Da ist ein solcher Mechanismus von zentraler Bedeutung. All das kann nur erreicht werden, wenn die dritte Partei zusammenhält.

Unwirksamkeit von Sanktionen

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, noch einen Aspekt in diesem Zusammenhang anzusprechen. Ich halte auch deswegen nichts von Sanktionen, weil diese nicht wirken werden.

In der Europäischen Union und im Europaparlament gab es diesbezügliche Forderungen. Die einzige Wirkung, die Sanktionen der EU hätten, wäre, dass das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Israel endgültig zerrüttet würde. Selbst wenn ich zu 100 Prozent der Meinung derer wäre, die für diese sehr israelkritische Position eintreten - ich teile diese Meinung überhaupt nicht - , würde ich sagen: Frieden stiftet man nicht mit sich selbst, sondern man muss Gespräche mit beiden Seiten führen. Deshalb kommt es zentral darauf an, dass die Europäische Union gesprächsfähig bleibt.

Deutsch-israelisches Sonderverhältnis

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nochmals an diesem Punkt versichern: Wir als Bundesrepublik Deutschland stehen historisch in einem Sonderverhältnis zu Israel. Daran gibt es nichts zu deuten und daran darf von niemandem gerüttelt werden. Ich fände es gut, wenn das hier von allen Fraktionen eindeutig klargestellt würde und wir im jetzt beginnenden Wahlkampf keine Kontroversen über diesen Punkt hätten.

Zum einen ist besonders wichtig, dass wir den jüdischen Deutschen, unseren jüdischen Bürgern - man muss nicht die Frage der Loyalität betonen, wir betonen auch nicht die Loyalität von nicht jüdischen Deutschen - , das Gefühl geben, dass wir an ihrer Seite stehen, dass Antisemitismus in Deutschland keine Chance mehr hat und dort, wo er auftaucht, mit aller Macht des Staates, der Jus tiz und der Politik bekämpft wird.

Zum anderen müssen wir in Europa und in der Welt mit unserer ganzen Kraft dafür eintreten, den Frieden, der so unwahrscheinlich geworden, aber zugleich so alternativlos ist, zu erreichen. Wie hat ein Außenminister aus der Region bei meinem letzten Besuch gesagt: Es ist absurd, dass wir wissen, wie das Ergebnis sein wird und sein muss - zwei Staaten - , aber nicht wissen, wie wir dort hinkommen; jetzt sterben deswegen viele unschuldige Menschen. Wir müssen unsere ganze Kraft darauf richten zu erfahren, wie wir diesen Frieden erreichen, nämlich das Ziel von zwei Staaten, verbunden in Frieden und gemeinsamer Sicherheit.