Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 25.04.2002

Untertitel: (...) Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, der Entscheidung über die NATO-Erweiterung. Die NATO-Erweiterung wird kommen. Das ist etwas, was im deutschen und europäischen Interesse liegt. (...)
Anrede: Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/77997/multi.htm


Replik auf PDS-Haltung Interesse an starker transatlantischer Bindung Die NATO-Erweiterung liegt im deutschen Interesse Erweiterung und Transformation Solide Erweiterung Spannungsverhältnis NATO-Europäische Union Weltpolitische Lage macht NATO-Erweiterung erforderlich Replik auf PDS-Haltung

Frau Präsidentin! Ich habe hier gewiss nicht die sozialdemokratische Fraktion in Schutz zu nehmen, wohl aber auf einige Widersprüche der PDS hinzuweisen. Ich finde es gut, dass Sie sich zu Egon Bahr bekennen, aber ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie gerade getan haben. Denn Egon Bahr ist mit allem Nachdruck dafür, dass es eine starke europäische militärische Komponente gibt. Wenn das neuerdings die Position der PDS ist, eine starke militärische Europäische Union statt einer NATO-Erweiterung, dann hätten Sie Egon Bahr in der Tat gerade zu Recht zitiert. Ich will Ihnen aber nicht unterstellen, dass das die Position der PDS ist. Dasselbe gilt selbstverständlich für Helmut Schmidt.

Die Debatte darüber, wie weit sich eine NATO-Erweiterung mit einer Stärkung des europäischen Pfeilers und der europäischen Integration, auch und gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik, verträgt, ist eine, wie ich finde, sehr wichtige und zentrale Debatte. Der Beitrag der PDS besteht allerdings darin, dass sie zu allem Nein sagt. Es ist auch nichts Neues, wenn Sie, Herr Kollege Gehrcke, behaupten, dass die NATO jetzt, nach dem Ende des Kalten Krieges, nicht mehr in erster Linie für Sicherheit stehen würde. Sie waren ja auch schon vorher, während des Kalten Krieges, dieser Meinung, weil Sie ja damals eher den Warschauer Pakt vertreten haben, wenn Sie ehrlich sind; das dürfen wir nicht vergessen. Ich möchte da nicht nachkarten; darum geht es hier nicht. Aber Sie sollten sich hier nicht mit dem Gestus des Ehrlichen hinstellen. Sie machen hier Innenpolitik und Wahlkampf; das ist Ihr gutes Recht. Aber das hat mit der Debatte nichts zu tun.

Interesse an starker transatlantischer Bindung

Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, der Entscheidung über die NATO-Erweiterung. Die NATO-Erweiterung wird kommen. Das ist etwas, was im deutschen und europäischen Interesse liegt. Ein sich vereinigendes Europa wird, gerade aus deutscher Sicht, immer ein Interesse an einer starken transatlantischen Bindung, einer starken transatlantischen Rückversicherung haben müssen. Denn die Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika - wir dürfen das nicht vergessen - ist in den Zeiten des Kalten Krieges nicht nur unter dem Sicherheitsgesichtspunkt der Abwehr expansiver Vorstellungen seitens der damaligen Sowjetunion zu sehen gewesen, sondern war vor allen Dingen auch für die innere Stabilität des sich vereinigenden Europas von zentraler Bedeutung. Deutschland wäre, wenn die USA auf diesem Kontinent nicht mehr präsent wären, sofort in einer anderen Situation. Nie wird das klarer, als wenn Sie mit polnischen Freunden über diese Situation in Europa sprechen. Insofern haben wir ein Interesse daran - unbeschadet dessen, wie wir die Politik der jeweiligen Regierungen bewerten - dass die Sicherheit in Europa und einem sich vereinigenden Europa durch die transatlantischen Beziehungen dauerhaft, auch in Zukunft, gewährleistet wird.

Die NATO-Erweiterung liegt im deutschen Interesse

Ich kann nur nochmals unterstreichen: Wenn weitere Kandidaten in die NATO aufgenommen werden wollen, dann müssen wir das ernst nehmen und die notwendigen Bedingungen prüfen. Die Kandidaten müssen die notwendigen Bedingungen schaffen. Es zeichnet sich ab - viele Kollegen haben das erwähnt, ohne dass ich mir das heute schon abschließend als Standpunkt der Bundesregierung zu Eigen machen kann - , dass es eine große Erweiterungsrunde geben wird, in der Größenordnung, wie das verschiedene Kollegen hier schon dargestellt haben. Ich betone nochmals: Dies liegt im europäischen, im deutschen und im transatlantischen Interesse; denn wir werden damit mehr Stabilität und Sicherheit bekommen.

Erweiterung und Transformation

Ich behaupte, dass die Diskussion dann erst beginnt. Sie findet in einem doppelten Spannungsverhältnis statt; denn die Erweiterung wird die NATO selbstverständlich transformieren. Diese Transformation wird nicht in Richtung OSZE erfolgen. Aber es wird sich eine Reihe von relevanten Fragen ergeben, die nicht kurzfristig zu beantworten sein werden.

Dieser Transformationsprozess ist durch die historische Zäsur, die sich aus dem Ende des Kalten Krieges, aus dem Verschwinden der Sowjetunion und damit aus dem Zusammenwachsen Europas ergab, in Gang gesetzt worden. Ich sage in Ihre Richtung - ich möchte jetzt keine innenpolitische Debatte darüber führen, wer für die Kürzung des Verteidigungshaushaltes und für den jetzigen Zustand der Bundeswehr verantwortlich ist - : Wir müssen feststellen, dass der Transformationsprozess von der auf den Kalten Krieg ausgerichteten Bundeswehr hin zu einer Bundeswehr, die den neuen - auch den europäischen - Erfordernissen und den strategischen Herausforderungen gerecht wird, eben nicht in dem Maße in der Vergangenheit vorangebracht wurde, wie es notwendig gewesen wäre. Die Weizsäcker-Kommission hat in der Regierungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und unter Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Grundlagen für diese Transformation herausgearbeitet.

Mir geht es um etwas anderes. Wenn Sie sagen, die NATO sei nur eingeschränkt handlungsfähig, dann muss ich fragen: Auf was beziehen Sie diese Aussage? Beziehen Sie sie auf die Handlungsfähigkeit der einzigen globalen Macht, nämlich der USA? In diesem Sinne war die NATO in der Vergangenheit immer nur eingeschränkt handlungsfähig, es war immer asymmetrisch und wird es auch in der Zukunft sein. Oder beziehen Sie Ihre Aussage auf etwas anderes, nämlich auf die Tatsache, dass wir bestimmte Kapazitäten wie zum Beispiel im Bereich der Langstreckentransporter - während des Kalten Krieges brauchten wir sie nicht, weil die Frontlinie in Deutschland sozusagen in Fußmarschweite lag; Gott sei Dank gibt es diese Situation nicht mehr - noch nicht haben? Wenn das der Fall ist, dann müssen wir darüber sprechen. Aber die Frage, die Sie aufwerfen, weckt zugleich die Illusion, dass die NATO nur dann voll einsatzfähig wäre, wenn das Niveau der wichtigsten europäischen Mitgliedstaaten innerhalb der NATO mit dem Niveau der global handelnden USA mithalten könnte. Ich halte diese Auffassung für schlichtweg illusionär und für politisch nicht erstrebenswert.

Solide Erweiterung

Für uns ist ganz entscheidend, dass diese Erweiterung solide gemacht wird. Weitere wesentliche Punkte, um die es dabei geht, sind, dass es eine Integration geben muss, dass die Kohäsion der NATO in ihren wesentlichen Elementen erhalten bleibt und dass das Sicherheitssystem nicht gelockert wird.

Spannungsverhältnis NATO-Europäische Union

Aber selbstverständlich gibt es, meine Damen und Herren von der Opposition, noch ein zweites Problem, das hier schon angeklungen ist. Das ist das Verhältnis von NATO und Europäischer Union. Ich habe das grundsätzliche Spannungsverhältnis schon erwähnt. Ich bin der Meinung, dass die USA für die Sicherheit und Stabilität auch in einem sich vereinigenden oder sogar in einem schon vereinigten Europa unverzichtbar sind.

Klar ist aber auch: Wir werden die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die ja nicht Aufgaben nach Art. 5 des NATO-Vertrages umfasst, nicht vernachlässigen. Wir werden die Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Europäischen Union als die zentrale Herausforderung neben der Erweiterung anzugehen haben.

Da habe ich eine gewisse Sorge; denn wir stehen jetzt vor sehr wichtigen Fragen. Die NATO-Erweiterung ist relativ einfach, vergleicht man sie mit der EU-Erweiterung, bei der es um das Zusammenführen ganzer Volkswirtschaften und um die Überwindung großer Unterschiede hinsichtlich der Mentalitäten geht. Im Rahmen dieser Erweiterung liegen noch schwierige Kompromisse vor uns. Wir werden gleichzeitig die NATO-Erweiterung haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es eine große Runde geben. Wir werden dann in beiden Bereichen vor der Frage der Handlungsfähigkeit, der Integration und der Absorption stehen. Das heißt, die Frage hinsichtlich der institutionellen Handlungsfähigkeit - in Bezug auf die NATO wurde sie schon angesprochen - wird sich in Bezug auf die EU noch wesentlich zuspitzen. Die finanzielle Dimension, die ab dem Jahr 2006 aktuell wird, verlangt sehr schwierige Kompromisse.

Weltpolitische Lage macht NATO-Erweiterung erforderlich

Wir haben heute morgen die Situation im Nahen Osten diskutiert. Angesichts dieser aktuellen weltpolitischen Lage muss man hinzufügen, dass wir nicht nur eine hoch gefährliche Zuspitzung im iraelisch-palästinensischen und im iraelisch-arabischen Konflikt haben. Man muss ehrlicherweise hinzufügen, dass die Gefahr des islamistischen Terrorismus mitnichten vorüber ist. Afghanistan stellt noch große Herausforderungen an uns. Das heißt, wir bewegen uns in einem alles andere als stabilen und sicheren Umfeld.

Insofern nützt es überhaupt nichts, wenn wir die Augen davor verschließen, dass wir vor sehr herausfordernden und historisch zu nennenden Schritten stehen. Bestimmte Wahlergebnisse in Europa kann ich nicht dahin gehend interpretieren, dass es einen Integrationsschub gibt.

Das ist die Lage, in der wir uns befinden. In dieser internen Großwetterlage Europas und vor dem Hintergrund der Herausforderungen müssen wir die Zuordnung der vor uns liegenden Schritte vornehmen.

Herr Kollege Gehrcke, ich kann Ihnen nur sagen: In einer solchen Lage eine Position wie Sie einzunehmen bedeutet wirklich, aus innenpolitischen und wahltaktischen Gründen den Kopf in den großen Sandhaufen zu stecken und in diesem beide Hände vor die fest zugekniffenen Augen zu halten, damit man garantiert nichts wahrnimmt.

Die Menschen in unserem Lande wissen, dass wir es uns in unserer Zeit nicht leisten können, wegzuschauen. Die nächste Erweiterung der NATO und die Verbindung zu den USA werden einen großen Diskussionsbedarf mit sich bringen. Wir werden strategische Fragen zu diskutieren haben. Die Europäer müssen ihre Leistungen auf dem Balkan und an anderer Stelle mit einem entsprechenden Selbstbewusstsein klar zum Ausdruck bringen.

Die nächste Erweiterungsrunde liegt im europäischen Interesse. Die Bundesregierung wird sich im europäischen und im NATO-Rahmen dafür einsetzen, dass sowohl die Erweiterung der NATO als auch die Erweiterung der EU erfolgreich angegangen und in integrative Schritte umgesetzt werden.