Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.05.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder bei der Eröffnung des Kongresses "Soziale Stadt" unter anderem zu den Zielen einer sozialen Stadtpolitik und warum es wichtig ist, die Lebensform "Stadt" und ihre Entwicklungschancen zu fördern.
Anrede: Verehrter Herr Minister, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/71/79171/multi.htm


verehrte Gäste,

unsere moderne Welt wäre nicht vorstellbar - ich finde, das ist in der Begrüßung des Ministers deutlich geworden - ohne attraktive, gesunde und lebenswerte Städte. Städte sind die Zentren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Aber sie sind auch Brennpunkte der ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit. Übrigens, Herr Minister, das mit den Autofahrten, die dann gemacht werden müssen, wäre ein Konjunkturprogramm für die Automobilindustrie. Aber davon will ich heute nicht reden - und soll es auch nicht.

Über einen Großteil der Chancen einer Gesellschaft im internationalen Wettbewerb, also auch unserer Gesellschaft, wird ohne jeden Zweifel in den Städten entschieden. Aber Städte sind auch Testgelände für verschiedene nach vorn gerichtete Entwicklungen, im Ökonomischen, im Ökologischen und vor allem auch im Sozialen. Ob die Integration aller Bürger in ein Gemeinwesen, ob die Teilhabe der Menschen nicht zuletzt an den Entscheidungen in einer Gesellschaft gelingt - auch darüber wird vor allem in den Städten entschieden.

Städte leben nicht von einer Funktion allein. Sie müssen auch weiterhin Orte vielfältiger Interaktion bleiben - Orte also, in denen Handwerk und Gewerbe, Wissenschaft, Wohnen und Kultur nebeneinander bestehen und voneinander profitieren.

Die Stadt ist eine Lebensform, in der sich Individuum und Gesellschaft nur miteinander entwickeln können. Das verlangt von jedem Einzelnen ebenso Gemeinsinn wie Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Menschen, die anders sind.

Ziel einer sozialen Stadtpolitik war und ist es, die Lebensform "Stadt" und deren Entwicklungschancen zu fördern. Das heißt zunächst, wirksam darauf hinzuarbeiten, den Gefahren der Ausgrenzung und des Zurückbleibens ganzer Stadtteile - und damit der Menschen, die in diesen Stadtteilen leben - entgegenzuwirken.

Dazu braucht es natürlich eine politische Basis. Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland ist die bewährte institutionelle Grundlage für eine solche Politik. Sie hat den Stadtgemeinden die Möglichkeit gegeben, eine eigene Sozialpolitik und eine eigene Wohnungspolitik zu betreiben.

Dabei haben die Städte - das ist deutlich geworden - sehr unterschiedliche Konzepte und Konzeptionen entwickelt. All diese unterschiedlichen Konzepte und Konzeptionen waren von dem Gedanken getragen, dass die Stadt ein Gemeinwesen ist - gebildet von den Bürgerinnen und Bürgern und dass sie es sind, die zuallererst über die Geschicke der Stadt entscheiden.

Für den Erhalt und die Entwicklung lebenswerter, dynamischer Städte brauchen wir mehr als nur den Willen zu einer Politik, die Ausgrenzung verhindert. Wir brauchen in unseren Städten breite Koalitionen gegen Ausgrenzung und für nachhaltige Entwicklung.

Wir haben - auch das ist angeklungen - eine sehr gute Tradition sozialer Stadtpolitik. In unseren Städten - in Europa, zumal in Deutschland - haben sich nie Slums entwickeln können, wie wir sie aus vielen anderen Städten in der Welt kennen. Insofern war die "europäische Stadt" immer eine "soziale Stadt" - das gilt ganz besonders für die deutschen Städte.

Das hat nicht nur mit im Vergleich relativ großem Wohlstand zu tun, sondern - davon bin ich überzeugt - auch damit, dass wir kommunale Selbstverwaltung haben. Wegen dieser kommunalen Selbstverwaltung geben die Städte gleichsam mehr auf sich Acht, als das anders der Fall wäre.

Die Bundesregierung will diesen Traditionen gerecht werden. Sie ist sich also der Verpflichtungen, die damit verbunden sind, sehr bewusst. Wir haben dafür Initiativen ergriffen; das ist auch schon angeklungen:

Wir haben die klassische Städtebauförderung um das Programm "Soziale Stadt" und den "Stadtumbau Ost" ergänzt sowie alle drei Instrumente zu einem Gesamtkonzept verknüpft. Heute investieren wir mit 640 Millionen Euro doppelt so viel wie noch 1998. Bis 2009 werden Bund, Länder und Gemeinden insgesamt 2,6 Milliarden Euro für den "Stadtumbau Ost" aufwenden.

Wir haben mit der Wohngeldnovelle und der Reform des Sozialen Wohnungsbaus mehr Gerechtigkeit in der Wohnungspolitik geschaffen. Erstmals seit zehn Jahren ist das Wohngeld wieder deutlich gestiegen.

Auch der Soziale Wohnungsbau wurde endlich grundlegend reformiert und wirksam auf die schwächeren Haushalte konzentriert.

Dadurch sind ohne Zweifel neue Akzente für eine soziale Stadt gesetzt worden.

Der Übergang von der Industrie- zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft macht sich längst auf den Arbeitsmärkten bemerkbar. Zwar hat die Industrie nach wie vor große Bedeutung für die städtische Ökonomie, aber in den Städten nimmt die Zahl der Arbeitsplätze in der Fertigung stärker als irgendwo anders ab.

Über viele Jahrzehnte hatten die großen Städte immer die niedrigsten Arbeitslosenquoten. Heute dagegen sind häufig die Arbeitslosenzahlen gerade in den tradierten Industriezentren und -städten besonders hoch. Das hat mit dem rasanten Strukturwandel zu tun. Daraus folgt, dass es gewaltige Anpassungsprobleme insbesondere in den Städten gibt. Die Konsequenz ist, dass man sie damit nicht allein lassen kann. Deswegen können sich die Städte auch weiterhin auf unsere Unterstützung verlassen.

Es ist schon angeklungen: Wir brauchen - das werden wir in der nächsten Legislaturperiode anpacken - eine neue Finanzbeziehung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden; schlicht deshalb, damit die Städte ihre Investitionsnotwendigkeiten erfüllen können und auf diese Weise mit dazu beitragen, dass der Strukturwandel, von dem ich gesprochen habe, auch wirklich gelingt.

Zu diesem Vorhaben gehört übrigens die Verzahnung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Aber das kann nur im Rahmen der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geleistet werden. Es wäre alles andere als fair, wenn man Aufgaben verteilte, ohne die finanziellen Ressourcen mitzuliefern. Das werden wir nicht tun, weil das nicht verantwortbar wäre.

Dabei bleibt klar: Neue Arbeitsmöglichkeiten in den Städten entstehen heute vor allen Dingen im Bereich der Dienstleistungen. Dabei geht es um eine wachsende Zahl von hoch qualifizierten Tätigkeiten. Gerade auf diesem Sektor gibt es gewaltige Zukunftsaussichten. Gleichzeitig entstehen in den Städten aber immer mehr Arbeitsplätze, bei denen die durchschnittlichen Verdienste geringer sind als in der traditionellen Industrie. Mir ist wichtig, dass man das nicht einfach laufen lässt und sagt: "Na ja, wenn es mit einem Job nicht reicht, ein auskömmliches Leben zu führen, dann können es auch drei sein." Das hat Konsequenzen, die man - ohne dass ich mit dem Finger darauf zeigen will - in anderen Gesellschaften studieren kann; es sind keine besonders erfreulichen Konsequenzen, wenn ich zum Beispiel über notwendige Erziehungsarbeit nachdenke.

Es bleibt deswegen eine wichtige Aufgabe, so weit wie möglich Einkommen und Auskommen so zu gestalten, dass Auskommen für diejenigen möglich ist, die eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit wollen und auch brauchen.

Übrigens: Darüber hinaus haben wir mit dem "Mainzer Modell", das wir auf das ganze Bundesgebiet ausdehnen wollen, verantwortbare Formen der Förderung niedrig bezahlter Arbeit geschaffen.

Zur Veränderung der Wirklichkeit gehört auch, dass in unseren Städten - wer wüsste das besser als Sie - immer mehr Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft leben. Die Städte machen in dieser Hinsicht einen Modernisierungsprozess durch. Ethnisch homogene Städte sind in allen ökonomisch entwickelten Ländern ein Phänomen der Vergangenheit.

Das übrigens sollte der eigentliche Kern der Debatte um die Steuerung von Zuwanderung sein, dass nämlich unsere wirtschaftliche Zukunft nur durch eine Öffnung für diejenigen Spitzenleute und Fachkräfte zu sichern ist, die bereit sind, ihr Wissen und ihre Arbeitskraft in Deutschland, in unsere Unternehmen und unsere Städte zu investieren. Das ist die eine Seite dessen, was wir zu leisten haben und was wir mit dem Zuwanderungsrecht, das wir verändert haben, leisten wollen.

Die andere Seite ist, dass wir genauso selbstverständlich unseren humanen Verpflichtungen nachkommen, die sich aus dem Grundgesetz entwickeln. Das Akzeptieren der humanen Verpflichtung, Menschen, die an Leib und Leben verfolgt sind, Schutz zu gewähren und mehr Internationalität, auch und nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen - beides zusammen genommen bestimmt den Inhalt des neuen Zuwanderungsrechts, von dem ich hoffe, dass es Gesetz wird.

Die Gestaltung der pluralen Stadt - einer Stadt ohne Diskriminierung und Ausgrenzung - ist eine der ganz wesentlichen politischen Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Bundesregierung ist bereit, die Städte bei ihrer schwierigen und für unsere Gesellschaft so wichtigen Integrationsarbeit zu unterstützen. Natürlich wissen wir - deswegen die Neuordnung der Finanzbeziehungen - , dass das vor allen Dingen Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung ist und auch bleiben soll. Wir wollen sie stärken. Hilfe soll das ergänzen, keineswegs ersetzen. Aber wo Hilfe benötigt wird, wollen wir sie auch gewähren.

Die Gemeinschaftsinitiative "Soziale Stadt" ist dafür ein, wie ich finde, guter Beweis. Sie zeigt, dass wir gemeinsam daran arbeiten, die soziale, kulturelle und ökologische Modernisierung unserer Städte zu ermöglichen. Wenn es stimmt, dass die Städte Laboratorien für neue Formen der sozialen Integration sind, dann muss dieser Integration unsere ganze Aufmerksamkeit gelten.

In vielen Städten müssen wir leider beobachten, dass sich soziale Problemlagen in bestimmten Quartieren konzentrieren und die Gefahr besteht, dass Stadtviertel von der allgemeinen Entwicklung der Stadt abgekoppelt werden.

Erfahrungen aus anderen Ländern lehren uns, dass man schon den ersten Anzeichen einer solchen sozialräumlichen Polarisierung entschieden entgegentreten muss. Das Wohnen etwa in einem benachteiligten Viertel kann rasch zu weiteren Benachteiligungen für die konkreten Menschen führen. Genau dem wollen wir mit dem Programm "Soziale Stadt" entgegenwirken. Indem wir Investitionen fördern, den Arbeitsmarkt unterstützen und sozial- und jugendpolitische Instrumente gezielt einsetzen, wollen wir der möglicherweise beginnenden Verelendung ganzer Stadtviertel entgegenwirken.

Dabei geht es natürlich um Geld, aber nicht nur. Es geht allemal auch um die Stärkung von sozialen Zusammenhängen. Es geht um soziale und kulturelle Integration in den Stadtteilen - und damit um die Integration in die Stadt und in die Gesellschaft insgesamt.

Natürlich hat das auch mit der Verbesserung des alltäglichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Lebensstile in den städtischen Nachbarschaften zu tun. Wir wollen und müssen - ich denke, das geht nur gemeinsam - verhindern, dass eine wachsende Anzahl von Bürgern von der Teilhabe am Wohlstand, aber auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft, ausgeschlossen wird.

Eine große Gefahr des sozialen Auseinanderfallens in den Städten liegt ganz offensichtlich bei den allgemein bildenden Schulen. In Zeiten eines dynamischen sozialen und ökonomischen Wandels machen sich Eltern zu Recht Sorgen um die Zukunftschancen ihrer Kinder.

Wenn Eltern den Eindruck haben, dass das Leistungsniveau nicht hinreichend ist, um die Fähigkeiten der Schüler zu entfalten, melden sie ihre Kinder in einer anderen Schule an oder verlassen die entsprechenden Stadtviertel gleich insgesamt. Das ist besonders auffällig dort der Fall, wo die Anteile von Schülern mit einer nicht-deutschen Herkunftssprache - wie man das so schön nennt - sehr hoch sind.

So entsteht die Gefahr, dass sich die Chancen für eine gute Schulbildung innerhalb ein und derselben Stadt stark differenzieren. Länder und Kommunen tragen eine besondere Verantwortung, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Die Schulen müssen für ihre Aufgaben in einer pluralen Stadt noch besser vorbereitet werden. Ihnen kommt eine zentrale Bedeutung für die Integration unserer Gesellschaft zu. Unsere Schulen sind die wichtigsten Agenturen für die Integration und für eine gerechte Gesellschaftspolitik, in der die Fähigkeit eines jedes Einzelnen zur Geltung kommen kann.

Wir wissen natürlich um die verfassungsrechtlich verbürgten Zuständigkeiten, die bei den Ländern und, soweit es um die sachliche Ausstattung geht, bei den Kommunen liegen. Wir wissen um die Empfindlichkeiten - ich weiß es auch - , die sich daraus ergeben können. Wir wollen diese verfassungsrechtlich verbürgten Zuständigkeiten überhaupt nicht in Frage stellen.

Das, worüber ich eben gesprochen habe, ist eine gesamtgesellschaftliche Frage. Deswegen haben wir gesagt: Ungeachtet der formalen Zuständigkeiten soll es in den nächsten vier Jahren ein bundesweites Programm "Zukunft Bildung und Betreuung" mit einem Investitionsvolumen von vier Milliarden Euro geben. Wir wollen damit die Länder und auch die Kommunen unterstützen, die Betreuungs- und Bildungsangebote zu verbessern.

Nur ein Beispiel: Nach den Berechnungen, die überschlägig gemacht worden sind, könnte man, wenn man es darauf konzentrierte, mit einem solchen Programm bis zum Jahr 2007 in Deutschland 10.000 zusätzliche Ganztagsschulen schaffen. Das wäre ein wirklicher Durchbruch, was die Ganztagsbetreuung angeht. Wir sollten es uns gemeinsam vornehmen, das zu schaffen - aus den Gründen, über die wir heute reden, aber auch aus einem ganz anderen zentralen Grund. Es macht wenig Sinn, sich über mangelnde Emanzipationsmöglichkeiten von gut ausgebildeten Frauen in unserer Gesellschaft zu verbreiten, wenn man nicht erkennt, dass angesichts der Verteilung der Familienlasten - ob es einem gefällt oder nicht; es ist zunächst einmal so - diese Emanzipationsschritte nur dann möglich sind, und zwar nachhaltig, wenn man sich auf die eben gekennzeichnete Weise um Betreuung kümmert. Denn nur dann bewegt sich etwas.

Unser Programm "Soziale Stadt" eröffnet neue Ansätze und Perspektiven einer modernen und sozialen Politik in den Stadtteilen. Das ist, wie wir glauben, der richtige Weg. In einer solchen Initiative müssen verschiedene Politikfelder und damit auch verschiedene Bedürfnisse, die dahinter stehen, zusammengeführt werden.

Deswegen braucht es eine größtmögliche Bürgerbeteiligung. Denn die Bewohner in den Stadtvierteln wissen am besten, welche Probleme in ihrem jeweiligen Viertel dringlich sind. Zur Mitarbeit gewinnen wir sie nur, wenn wir ihnen auch die Möglichkeit geben, nicht nur mitzureden, sondern auch mitzuentscheiden.

Das ist in einigen Städten dadurch der Fall, dass ein Fonds bereitgestellt wird, über den die Bürgerinnen und Bürger in Zusammenarbeit mit der Verwaltung entscheiden können. Berlin beispielsweise hat damit gute Erfahrungen gemacht.

Zu einer städtischen Koalition gegen Ausgrenzung gehört - das möchte ich an dieser Stelle unterstreichen - auch das Engagement der Wirtschaft. Viele Defizite etwa im Bereich der beruflichen Bildung oder bei der Nutzung neuer Technologien können am besten durch eine Zusammenarbeit mit der lokalen Wirtschaft beseitigt werden. Dafür gibt es gute Beispiele, aber auf diesem Gebiet kann und muss noch mehr getan werden. Auch die produzierende und die Dienstleistungen anbietende Wirtschaft haben ein elementares Interesse an einer funktionierenden Stadtkultur.

Die Unternehmen müssen davon überzeugt werden, dass sich ihr Image nicht nur durch das Sponsoring von Kunst- und Kultur-Projekten verbessern lässt, sondern auch durch Engagement in sozial integrativen Projekten. Gerade im Hinblick auf die Zukunftsaussichten der zweiten Generation von Zuwanderern ist das für diese Menschen, aber vor allen Dingen auch für die Stadt, von herausragender Bedeutung. Wenn junge Menschen erfahren, dass sie erwünscht sind und gebraucht werden, dann reagieren sie anders, als wenn das Gegenteil der Fall ist. Dann ist Integration möglich, während sie auf andere Weise unmöglich gemacht wird.

Wie die Bürger miteinander umgehen, ob und wie sie sich gegenseitig unterstützen, ob sie Gemeinschaft wirklich bilden, das kann Politik nicht verordnen. Hier ist Bürgersinn gefragt, zwischenmenschliche Solidarität und die Identifikation mit dem eigenen Lebensumfeld in der Nachbarschaft.

Gewiss ist es nicht genug, Menschen, die sich in sozialer Notlage befinden, bloß zur "Selbsthilfe" aufzufordern. Das tut von uns ja auch keiner. Aber auf der anderen Seite leben die Stadtteile auch vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Das muss gefördert, aber auch gefordert werden. Es gibt viele gelungene Beispiele für ein derartiges stadtteilbezogenes Engagement.

Deswegen bin ich den Initiatoren des Wettbewerbs "Soziale Stadt 2000" dankbar, dass sie solche Beispiele durch eine Auszeichnung nicht nur ermutigt haben, sondern ausdrücklich zur Nachahmung anregen. Die Projekte im Programm "Soziale Stadt" zeugen von einer großen Vielfalt, was die Art der Stadtteile, die Problemorientierung und die Träger betrifft. Die prämierten Projekte zeichnen sich vor allem durch das kooperative Engagement von Vereinen, Genossenschaften, Bewohner-Initiativen, Wohlfahrtsverbänden, Wohnungsbaugesellschaften und kommunalen Behörden aus und - Frau Bischöfin, das steht nicht in meiner Rede - natürlich auch der Kirche. Das ist keine Frage.

Die Resonanz auf unser Programm "Soziale Stadt" zeigt, dass das zivilgesellschaftliche Engagement blüht, und auch die Viertel, die bisher eher im Schatten der Entwicklung gelegen haben, mit der Solidarität der Stadtbewohner rechnen können.

Da gibt es das "soziale Management" einer Wohnungsbaugesellschaft in Lünen - "wohnen plus" genannt - , die es geschafft hat, ein weit verzweigtes Netzwerk von öffentlichen Trägern, Wirtschaftsunternehmen und bürgerschaftlichen Vereinigungen aufzubauen.

Die Vermietungsgenossenschaft Ludwig Frank in Mannheim hat in einem Stadtteil, für den die Stadtverwaltung kaum mehr eine Perspektive gesehen hat, mit viel persönlichem Engagement die Initiative ergriffen und die bauliche Erneuerung mit dem Aufbau einer sozialen Netzwerkstruktur verbunden.

Dadurch konnten sich die Bewohner wieder mit ihrem Quartier identifizieren. Die Folge kann man an einem solchen Projekt studieren: Die Gewaltbereitschaft hat abgenommen, und die soziale Integration der jüngeren Generationen konnte entscheidend verbessert werden. Besonders hervorzuheben ist, dass es dabei gelungen ist, die ausländischen Bewohner in die Genossenschaft zu integrieren; gewiss kein leichtes Unterfangen.

In Dortmund hat der "Projektverbund Nordstadt" ein Praxisnetzwerk für eine bewohnerorientierte Erneuerung von Quartieren in der Nordstadt entwickelt, in dem auch Initiativen ausländischer Mitbürger eine wichtige und gewichtige Stimme haben.

Ein besonders originelles Projekt ist die "Kunstplatte" in Stendal. Dort wurden leer stehende Ladenlokale in einem Plattenbaugebiet genutzt, um soziokulturelle Projekte anzustoßen, die nicht nur das Image, sondern auch die Identifikation mit dem Wohngebiet erheblich gestärkt haben.

Wir wollen in den kommenden Jahren in drei Bereichen neue Akzente für mehr Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt in den Städten leisten, indem wir

erstensbezahlbaren Wohnraum auch und gerade in den Großstädten sicherstellen, zweitens innovative Konzepte für eine soziale Stadtentwicklung umsetzen und

drittenseinen bezahlbaren Öffentlichen Personenverkehr gewährleisten.

Ich will das ausdrücklich unterstreichen, weil wir nur weiterkommen - in den Städten, aber auch in der Mobilitätsfrage insgesamt - , wenn wir mehr als in der Vergangenheit verstehen, dass die unterschiedlichen Verkehrsträger nicht einzeln für sich selbst ausgebaut und weiter entwickelt werden können, sondern die wirklich große Chance, Mobilität in ihrer differenzierten Form zu gewährleisten, darin besteht, zu einer Vernetzung der unterschiedlichen Verkehrsträger zu kommen.

Selbstverständlich hat der öffentliche Personennahverkehr für die Städte eine herausragende Bedeutung. Das wird niemand bestreiten - auch nicht jemand, der gelegentlich als "Automann" apostrophiert wird.

Nicht zuletzt wollen wir unsere Städte für die Bürger sicherer machen. Ich will deutlich sagen: Sicherheit vor Kriminalität für Bürgerinnen und Bürger ist ein Grundrecht, ein Bürgerrecht. Insbesondere für diejenigen, die nicht in der Lage sind, für ihre eigene Sicherheit zu bezahlen, wird das ein Grundrecht von herausragender Bedeutung. Deswegen ist es so wichtig, dass insbesondere diejenigen, die sich Gedanken über lebenswerte Städte machen, diesen Aspekt der Gewährleistung von Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger neben all den Notwendigkeiten zur sozialen Integration nicht unterschätzen.

Die Menschen und gerade die Familien brauchen zuverlässigen Schutz vor Kriminalität und Gewalt. Dazu - wir wissen das - ist eine ausreichende Präsenz der Sicherheitskräfte nötig. Wir wissen aber auch, dass das allein nicht genügt. Wir brauchen die attraktive Belebung der Innenstädte und eine gut ausgebaute Infrastruktur mit sicheren öffentlichen Verkehrswegen.

Besonders die Kommunen sind gefordert, im Zusammenwirken mit privater Initiative geeignete Konzepte für eine soziale Stadtentwicklung zu entwickeln. Politik für eine soziale Stadt wird in dem Maße erfolgreich sein, wie es gelingt, eine breite Solidarität unter den Stadtbürgerinnen und -bürgern und mit öffentlichen sowie privatwirtschaftlichen Institutionen zu erreichen.

Ich denke, wir haben wichtige Anstöße gegeben. Wir wollen diesen Prozess weiter nach Kräften unterstützen. Allein das kann unsere Aufgabe sein. Der Rest muss, wie man so schön sagt, vor Ort geleistet werden.

Städte haben die europäische Kultur geprägt und das in einem guten Sinne. Sie sind zentraler Ort der Teilhabe von Menschen. In unseren Städten wird die aktive Bürgergesellschaft fassbar und erfahrbar. Unsere Politik für eine soziale Stadt ist und bleibt diesen europäischen, zumal deutschen Traditionen verpflichtet.