Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 08.05.2002

Untertitel: Kulturstaatsminister Nida-Rümelin beschreibt in seiner Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Tempel im Moor" in Hannover die Funktion der Museen als "kulturelles Gedächtnis" einer Gesellschaft.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/79966/multi.htm


Kulturelles Gedächtnis

Vor rund dreißig Jahren begannen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Städten eine neue Kulturpolitik. Ziel war es, die großen Kunst- und Kulturinstitutionen zu öffnen, Schranken die durch unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen errichtet wurden, einzureißen, die kulturelle Partizipation und ästhetische Erfahrung auch für diejenigen zu ermöglichen, deren Bildungshintergrund dies bislang erschwerte. Diese neue Kulturpolitik war über alle Maßen erfolgreich. Kaum eine Zahl belegt das so eindrücklich, wie die Besuche in Museen und Ausstellungen. Diese haben in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen, und haben unterdessen die Hundertmillionengrenze überschritten. Auch die Anzahl Deutscher Museen und Ausstellungshäuser hat mit unterdessen 6600 eine neue Rekordmarke erreicht. Sie werden es mir ja nicht glauben, aber es stimmt trotzdem: Jahr für Jahr gehen unterdessen zehn mal so viele Menschen in Museen und Ausstellungen als in Fußballstadien. Das kulturelle Interesse an kulturellen Ausstellungen überschreitet das sportliche Interesse am Fußball um das zehnfache. Kulturpolitikern sollte es daher nicht bange sein. Sie beackern ein Feld, das in der Bevölkerung heute so populär ist, wie noch nie zuvor. Es ist gerade das kulturelle Gedächtnis, die kollektiven Erinnerungen, regionale Identitäten, aber auch die Veränderungen der Kunst im Laufe der Zeiten, die eine besondere Faszination ausüben. Wir leben in einer Phase raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Dies mag erklären, dass das bleibende, das was in Traditionen verwurzelt ist, das was zur eigenen Identität beiträgt, das was aus der Vergangenheit bis heute Bestand hat, auch in den Museen gesucht und aufgefunden wird.

Dieser große Erfolg der Museumsarbeit in Deutschland hat viele Aspekte:

Rund 12000 Sonderausstellungen haben die deutschen Museen und Ausstellungshäuser im Jahr 2000 veranstaltet und damit den Besuchern immer neue Anreize geschaffen, bisher nicht gesehene Kunstwerke zu betrachten und neue Themen und Objektwelten zu entdecken. Eine forcierte Öffentlichkeitsarbeit und neue Marketingstrategien wie die Einrichtung zielgruppenspezifischer Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien, die Etablierung langer Museumsnächte und attraktiverer Öffnungszeiten in den Abendstunden, die Einbindung von Museumsaktivitäten in Jubiläumsveranstaltungen und touristische Angebote, haben den Museen neue Besucherschichten erschlossen und die Eröffnung weiterer neuer Museumsgebäude -abteilungen und neukonzipierter Dauerausstellungen bieten immer wieder neue Attraktionen für die Besucher.

Insofern hält der in den 70er Jahren begonnene Boom im Museums- und Ausstellungswesen ungemindert an und hat - allen Unkenrufen zum Trotz - vielleicht noch nicht einmal seinen Höhepunkt erreicht.

Dabei ist dieser Weg vom eher elitären Musentempel hin zum demokratischen Museum für eine breite Öffentlichkeit gerade in Museumskreisen selbst immer wieder auf Kritik gestoßen. Von Aktionismus und populistischer Eventkultur war in Bezug auf Großausstellungen die Rede und unter konservatorischen Gesichtspunkten von einem "Tod auf Reiseraten", dem die Kunstwerke bei zu häufiger Ausleihe anheim fallen. Ich kann diese scheinbare Alternative, die sammelnde, bewahrende und forschende Funktion auf der einen und die präsentierende und vermittelnde auf der anderen nicht teilen, sie sind vielmehr einzelne Faktoren eines Funktionszusammenhanges, der als ganzes das Museumswesen definiert. Nur durch mutige und spektakuläre Ausstellung erhält das Museum die Resonanz und Akzeptanz, die Bereitstellung neuer Mittel, sei es der öffentlichen Hand, sei es von privaten Förderern und Sponsoren, möglich macht, mit denen wiederum Modernisierungen, Erweiterungen oder Neubauten von Gebäuden, aber auch die Einführung moderner Konservierungs- und Restaurierungstechniken oder der Ankauf neuer Sammlungsbeständen realisiert werden können.

Erst in dieser Doppelfunktion der Sammlung und Bewahrung des kulturellen Erbes und der anschaulichen Präsentation dieser Kulturgüter erfüllt das Museum in vollem Umfang seine Rolle im kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft. Denn die Bedeutung der Sicherung und Demonstration der kulturellen Hinterlassenschaften nimmt weiterhin zu. In der modernen industriellen und postindustriellen Gesellschaft, die durch raschen technischen Wandel, hohen Objektverschleiß und schwindendes Traditionsbewusstsein gekennzeichnet ist, entsteht das paradoxe Phänomen, dass sie trotzdem Sinn für historische Objekte entwickelt und Einrichtungen wie das Museum schafft, denen die Sicherung des kulturellen Erbes aufgetragen wird. Das Abreißen von Traditionen, das Verlassen von angestammten Lebens- und Herkunftswelten macht spezielle Bemühungen der Aneignung dieser fremd gewordenen Vergangenheit als der eigenen notwendig. Oder wie Reinhart Koselleck es ausgedrückt hat: Die Desorientierung in einer sich immer stärker verändernden Gegenwart, das Schrumpfen des "Erfahrungshorizontes" und die damit einhergehende Verkürzung des "Erwartungshorizontes", also der perspektivierenden Zukunftserwartung, befördern die Ausbildung eines historischen Bewusstsein als Medium kultureller Identitätsvergewisserung.

In den letzten Jahren hat vor allem Jan Assmann in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses darauf hingewiesen, dass es sich bei individueller wie kollektiver Sinnbildung vor allem um eine Erinnerungsleistung handelt, in der sich die Beteiligten der Vergangenheit vergewissern, um sich in der Gegenwart zu orientieren. Erinnerungen, auch persönlicher Art, entstehen durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen und diese gemeinsamen Erinnerungen formieren wiederum das kollektive Gedächtnis dieser Gruppen. Solange diese Erinnerung gruppenbezogen bleibt und nicht über die gemeinsamen Erfahrungen dieser Gruppe hinausgeht, kann sie in Form der Alltagskommunikation erfolgen.

Sobald die Erinnerung aber diesen räumlichen und zeitlichen Rahmen verlässt und das lebensweltlich kommunikative Gedächtnis in das kulturelle, zeitlich weiter zurückreichende und potenziell weitere Teile der Gesellschaft erfassende Gedächtnis übertritt, bedarf es der kulturellen Formgebung. Dies sind natürlich nicht nur Bilder sondern Texte, Bauwerke, Denkmäler, Riten, Feste, Jahrestage, Jubiläen, Akten, Vorträge, Protokolle, Fotos, Filme und Objekte, all die kulturellen Hinterlassenschaften, die die Funktion haben, etwas im Gedächtnis zu bewahren.

Insofern ist der lange Streit um das Denkmal für die europäischen Juden in Berlin, über die Fotoausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" oder die Diskussion über andere Formen des Gedenkens an den Holocaust auch Reflex auf den Umstand, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus sich nicht mehr an die teilnehmende oder betroffene Generation der Zeitzeugen bindet und neue Formen der kulturellen Erinnerung braucht oder aber dem Vergessen anheim fällt. Von grundlegender Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis ist also - im Unterschied zum kommunikativen - die Formung der Erinnerung durch Kultur, durch Formate der kulturellen Überlieferung.

Walter Benjamins Theorie der "Aura des Objektes", ist für das Verständnis des Museums von grundlegender Bedeutung."Aura" meint bei ihm keineswegs nur den bedeutenden ästhetischen Wert eines Kunstwerkes, sondern vielmehr die Faszination des Authentischen, das Spannungsverhältnis zwischen einer sinnlichen Nähe und zeitlichen Ferne und kultureller Differenz. Die räumliche Nähe transportiert das Bild einer zeitlichen Ferne. Kollektive Erinnerung und kulturelle Überlieferung stehen somit in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Vergangenheit vermittelt sich nur in kultureller Formung. Das soziale Gedächtnis ist vor allem ein Bildergedächtnis.

Wenn dem Museum die Aufgabe zukommt, die materiellen, nicht schriftlichen Hinterlassenschaften der Vergangenheit zu sammeln, so ist weiterhin zu beachten, dass diese Relikte nicht gleichsam naturwüchsig ins Museum kommen. Museale Sachüberlieferung bildet sich im Unterschied zu manchen Archivkomplexen, die direkt aus den Geschäften hervorgehen, nicht von selbst. Museale Objekte sind gesammelt und solcherart Ergebnis einer komplexen Tätigkeit, in der historisch wechselnde Auswahlkriterien, Bewertungen und Interessen eine Rolle spielen. Sie gehören zum System der kulturellen Überlieferung, in dem die Überreste gefiltert werden und dies geschieht in gestaltender Absicht. Diese ist häufig mit politischen regionalen oder weltanschaulichen Interessen verbunden. Durch seine musealen Selektionen und Darstellungsperspektiven formt und gestaltet das Museum unser kulturelles Gedächtnis.

Dies zeigt sich auch an der Geschichte des modernen Kultur- und Naturhistorischen Museums. Es entstand im 19. Jahrhundert im Kontext von bürgerlicher Revolution und Aufklärung und auf Initiative der neuen führenden Schicht, des Bürgertums. Es war vor allem die Erfahrung des Neuen, des Bruchs, die den Zugriff auf die Vergangenheit notwendig machte. Die Zerstörung des Vergangenen, vor allem aber die reale Geschichtslosigkeit der neuen bürgerlich-industriellen Gesellschaft führte zur Ausbildung einer organisierten Geschichtskultur, die sich in den neu entstehenden historischen Fakultäten der Universitäten aber auch in historischen, naturkundlichen und Kunstvereinen etablierte. Die seit dieser Zeit gegründeten Museen wurden zu Auffangräumen für das materiell bedrohte und das, was der Geschichtsvergessenheit anheim zu fallen schien.

Wenn das Niedersächsische Landesmuseum Hannover in diesem Jahr sein 150tes Jubiläum feiert, so gehört es zu den ältesten bürgerlichen Museumsgründungen in Deutschland, die - sieht man von zwei frühen Vorläufern, dem Rheinischen Landesmuseum Bonn ( im Jahre 1820 ) und dem Westfälischen Landesmuseum Münster ( im Jahre 1825 ) ab - allesamt nach der gescheiterten Revolution von 1848 gegründet wurden. Das Niedersächsische Landesmuseum wurde als "Museum für Kunst und Wissenschaft" im gleichen Jahr 1852 gegründet wie das Museum der bürgerlichen Nationalbewegung schlechthin, das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg. Und es war keine fürstliche oder staatliche Einrichtung wie noch das Alte Museum in Berlin ( 1830 ) oder die Alte Pinakothek in München ( 1836 ) , sondern eine Gründung bürgerlicher Vereinigungen, namentlich der "Naturhistorischen Gesellschaft", des "Historischen Vereins für Niedersachsen" und des "Vereins für die öffentliche Kunstsammlung". In seiner langen und erfolgreichen Geschichte hat es - bereits seit 100 Jahren im Museumsgebäude am heutigen Standort - eine bedeutende Sammlung mit den Schwerpunkten in der älteren bildenden Kunst Europas, der Naturkunde, der Urgeschichte und der Völkerkunde zusammengetragen und ist heute das größte und meistbesuchte Museum des Landes Niedersachsen.

Aber selbst diese beeindruckenden Sammlungsbestände, die der frühen Gründung, dem Sammlungseifer nachfolgender Forscher- und Wissenschaftlergenerationen, aber eben auch deren wissenschaftlichen Vorlieben und kulturpolitischen Vorgaben zu danken sind, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eine Auswahl und nicht etwa repräsentativ für vergangene Lebenswelten sind. Die gesamte historische Überlieferung entspricht nicht dem "normalen" historischen Verlust, in dem sie sich einigermaßen gleichmäßig mit dem Maß ihrer Entfernung von der Gegenwart verdünnen würde. Die Überlieferung erfolgt vielmehr ungleichmäßig, oft zufällig. Aber es gibt eine klare Tendenz: Sie begünstigt das Unerhörte, das Ungewöhnliche, das Fatale und sie benachteiligt den Alltag, das Übliche, das Normale.

Es gibt ganze Bereiche, die nie in die Überlieferung hineingefunden haben und die Chancen überliefert zu werden, sind auch sozial bedingt. Die Masse der Namenslosen ist auch die Masse der Sprachlosen und ihre Hinterlassenschaften sind oft recht spärlich. Die Zeit erzeugt nicht nur Überlieferung, sie frisst sie auch. Die Fragmentarik der Überlieferung hat viele Gründe. Die Dauerhaftigkeit des Materials ist einer. Eisen und Ton halten den Zeiten besser stand als Holz und Stoff; Geräte aus Gold und Silber sind ohnehin für die Ewigkeit gemacht. Materialien korrespondieren mit Dingen, Dinge mit Gebrauchszusammenhängen - und die je mit sozialen Konstellationen. Aus Holz waren über Jahrtausende die meisten bäuerlichen Gerätschaften, aber diese waren lange nicht Gegenstand der Forschung und ihre Ansiedlungen nur selten Ziel archäologischer Ausgrabungen.

Urkunden und Bücher verdanken ihre Überlieferung nicht der Dauerhaftigkeit des Materials, sondern ihrer gesellschaftlichen Funktion, die sich erst in ihrer Aufbewahrung realisiert, bevor sie zum historischen Objekt avancieren. Liturgisches Gerät, sei es von sonst hinfälliger Substanz, bleibt unverhältnismäßig lange erhalten, weil es über Jahrhunderte aufgrund seiner sakralen Bedeutung behütet und bewahrt wird. So sind die Objekte im Museum zwar authentische Stellvertreter ihrer Zeit, sie repräsentieren sie aber nicht in einem Sinne, der als maßstäbliche Wahrheit zu verstehen wäre. Die Tatsache ihrer Überlieferung ist ebenso Teil ihrer Botschaft wie die Geschichte ihrer Überlieferung.

Es ist das Verdienst der Ausstellung "Tempel im Moor", die wir heute eröffnen, dass sie auf diese grundlegenden Fragen der Überlieferung verweist. Sie präsentiert auf der einen Seite Exponate aus organischen Materialien, die mit diesem Alter und dieser Qualität nirgendwo sonst erhalten sind. Sie verdankt dies der konservierenden Wirkung der Moore, die diese Objekte bewahrt und schließlich freigegeben haben. Im Mittelpunkt steht der Tempel im Moor, die Überreste des einzig bekannten Holztempels aus der Bronzezeit, aber auch der achttausend Jahre alte Holzeinbaum aus den Niederlanden. Daneben zeigt sie Feuersteine, Äxte, Keramik, Schmuck, Waffen aber eben auch landwirtschaftliche Geräte, Lederschuhe und Kleidungsstücke, die im Moor erhalten blieben. Und sie gibt mit diesen Objekten - größtenteils Opfergaben - einen Eindruck von der Vorstellungswelt, dem Alltagsleben und den Kulthandlungen unserer Vorfahren.

Aber die Ausstellung beschränkt sich nicht auf die Darstellung der Vergangenheit. Nicht nur mit der Rekonstruktion der Gesichtszüge des "Roten Franz", der berühmten, 1700 Jahre alten Moorleiche des Landesmuseums, präsentiert die Ausstellung die Moore als Geschichtsarchiv und debattiert mit dem Besucher über Konservierungs- und Rekonstruktionsmethoden und damit über die Grundfragen des kulturellen Gedächtnisses unserer Gesellschaft.

Und hiermit erfüllt sie exakt die doppelte Funktion, die das Museum, aber auch das gesamte kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft zu erfüllen hat. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann unterscheidet in ihrer Definition von Gedächtnis und Erinnerung zwischen einem sogenannten Speichergedächtnis, das die Informationen der Vergangenheit speichert und archiviert und einem sogenannten Funktionsgedächtnis, das diese Informationen vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu deutet und interpretiert. Diese beiden Modi der Erinnerung existieren jedoch nicht unabhängig voneinander. Ein vom Speichergedächtnis abgekoppeltes Funktionsgedächtnis verkommt zum Phantasma, ein vom Funktionsgedächtnis abgekoppeltes Speichergedächtnis verkommt zu einer Masse bedeutungsloser Informationen.

In der heute eröffneten Ausstellung scheint mir diese Symbiose vorbildhaft gelungen. Sie versammelt eine Reihe hervorragender Exponate, die wichtige historische Informationen bereithält und sie präsentiert diese im Hinblick auf gegenwärtige Fragestellungen und aktuellen Forschungsansätzen. Ich wünsche der Ausstellung schon hier in Hannover und dann auf ihrer vierjährigen Reise durch Kanada, die USA, die Niederlande und Großbritannien den verdienten Erfolg.