Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 13.05.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Globale Gerechtigkeit ist zu Beginn unseres 21. Jahrhunderts zur Überlebensfrage geworden. Ohne eine klare Agenda für globale Gerechtigkeit werden wir keine globale Sicherheit erreichen können."
Anrede: Lieber Volker Hauff, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/71/79971/multi.htm


Globale Gerechtigkeit, also das Thema, das Sie in besonderer Weise beschäftigt, ist - ich bin jedenfalls davon überzeugt - zu einer Überlebensfrage im 21. Jahrhundert geworden. Ohne eine wirkliche Agenda für globale Gerechtigkeit gibt es auch keine globale Sicherheit. Mir liegt daran, zu verdeutlichen, dass Sicherheit für die Menschen - wo auch immer - nicht allein und schon gar nicht dauerhaft mit militärischen Möglichkeiten herstellbar ist, sondern wir einen Sicherheitsbegriff brauchen und ihn auch ausfüllen müssen, der die ökonomischen, die ökologischen und die sozialen Aspekte mit einschließt. Ohne Nachhaltigkeit werden wir vor diesem Hintergrund jene Entwicklung nicht bekommen, die wir brauchen, damit Sicherheit für die Menschen - eben nicht nur bei uns in Europa, in Deutschland, sondern überall auf der Welt - gewährleistet werden kann.

Der von der Bundesregierung eingesetzte Rat für Nachhaltige Entwicklung hat - Volker Hauff hat zu Recht mit Stolz darauf hingewiesen - wirklich vorbildliche Arbeit geleistet. Die Bundesregierung ist bei der Erarbeitung ihrer Nachhaltigkeitsstrategie in wesentlichen Punkten - wenn auch nicht in allen; zu einem werde ich etwas sagen - den Empfehlungen des Rates gefolgt. Dies deswegen, weil das eine qualitativ hochwertige Arbeit war, die der Rat abgeliefert hat, was angesichts der Zusammensetzung auch nicht anders zu erwarten war.

Übrigens ist mir ein Aspekt in diesem Zusammenhang wichtig, weil Regierungsperspektiven ja im Wesentlichen von der eigenen Bürokratie vorbereitet - gelegentlich durch fachmännischen Rat von außerhalb ergänzt - und in der Regel nicht unter Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet werden. Hier ist das anders gewesen. Erstmals haben betroffene - von Politik im wahrsten Sinne des Wortes betroffene - Bürgerinnen und Bürger aktiv an einem Strategiepapier - letztlich an einem der Bundesregierung - mitgewirkt. Kirchen, Gewerkschaften, Wirtschafts- und Umweltverbände waren intensiv beteiligt. Länder und Kommunen sind um Stellungnahmen gebeten worden, die wir auch erhalten haben.

Viele Anregungen und Vorschläge haben wir für das, was unsere Nachhaltigkeits-strategie ist, aufgegriffen. Insofern sind die - wie wir es genannt haben - "Perspektiven für Deutschland" ein Gemeinschaftswerk, zu dem viele beigetragen haben. Das ist ein schöner Erfolg, auch für die Art und Weise, wie wir Politik verstehen, und ich bedanke mich deshalb auch bei all denen, die mitgeholfen haben.

Im Spätsommer dieses Jahres werden wir diese Strategie auf dem Gipfel in Johannesburg vorstellen. Dort soll die Völkergemeinschaft - zehn Jahre nach Rio - ihre Verpflichtungen zu einer Nachhaltigen Entwicklung bekräftigen, aber natürlich auch ein Stück Rechenschaft ablegen. Das wird Klaus Töpfer - jedenfalls insbesondere er - schon von uns verlangen, und ich finde, auch zu Recht. Mit diesem strategischen Ansatz sollte die Welt in wirtschaftlich erfolgreiche, ökologisch verträgliche und vor allem sozial gerechte Bahnen gelenkt werden.

Mir liegt daran, zu verdeutlichen, dass ich die Auffassung vertrete, dass dauerhafter wirtschaftlicher Erfolg nicht ohne die beiden anderen Komponenten denkbar und auch nicht realisierbar ist. Es gibt keinen Widerspruch zwischen ökonomisch Vernünftigem und ökologisch und sozial Angebrachtem, sondern beides gehört zusammen.

Beides macht übrigens den Kern des europäischen Sozialmodells aus, das wir, glaube ich, miteinander - jedenfalls die meisten derer, die hier sind - in den kommenden Auseinandersetzungen ernsthaft verteidigen werden müssen; denn das, was wir gegenwärtig erleben, ist ein Erstarken der populistischen und undemokratischen Rechten in Europa, der wir miteinander - und zwar alle Demokraten - unter allen Umständen entgegentreten müssen. Dabei wird wichtig sein zu betonen, dass wir Europa nicht nur als einen Ort ökonomischer Interaktion - also als einen Markt - verstehen, sondern Europa als ein Sozialmodell begreifen, dass für soziale und ökologische Verträglichkeit steht und in eine sinnvolle Beziehung zu ökonomischer Vernunft setzt.

Trotz wirtschaftlicher Erfolge, die beispielsweise in vielen Ländern außerhalb Europas - etwa in Asien - mit Händen zu greifen sind, gibt es enorme Probleme, auch zehn Jahre nach Rio. Weltweit müssen immer noch 1,2 Milliarden Menschen mit weniger als einem US-Dollar pro Tag leben. Wenn man, wie ich es gerade habe erleben müssen, einmal durch das zerstörte Kabul gefahren ist und gesehen hat, wie Menschen dort leben, dann, denke ich, weiß und spürt man ganz unmittelbar, wie groß die gemeinsame Verantwortung für das ist, was wir "Eine Welt" nennen. Die schlimme Armut in vielen Ländern, insbesondere in Afrika, behindert - im Übrigen nicht nur dort - die ökonomische und soziale Entwicklung und führt auch zu einem Raubbau an der Natur.

Auch bei den globalen Umwelttrends ist die Bilanz - auch nach Rio - allemal noch verbesserungsbedürftig. Es darf uns nicht wundern, wenn viele Entwicklungsländer heute enttäuscht meinen, dass die Versprechen von Rio eben nicht eingelöst worden sind. Unabhängig davon sage ich: Auch zehn Jahre nach Rio bleibt die richtige Verknüpfung von Armutsbekämpfung und globalem Umweltschutz mittel- und langfristig der Schlüssel zum Erfolg.

Das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ist die gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung - und muss es noch stärker werden - , einer Globalisierung, die dann und nur dann Chancen eröffnet, wenn wir lernen, sie mit nationaler und internationaler Politik zu gestalten. Mein Eindruck ist, dass vielen Ängsten, die die Globalisierung auslöst, nur auf diese Weise zu begegnen ist.

Es geht darum, der Globalisierung - die man nicht aufhalten kann und auch nicht aufhalten soll - eine Richtung zu geben, sie für Nord und Süd wirtschaftlich erfolgreich und sozial und ökologisch verträglich zu gestalten. Dazu brauchen wir nicht weniger an politischen Handlungsmöglichkeiten, sondern eher mehr, und dies gilt im nationalen wie im internationalen Zusammenhang. Ich begrüße daher den Vorschlag des Rates für Nachhaltige Entwicklung. Dieser sieht vor, nach dem Vorbild der Brundtland-Kommission eine Weltkommission der Vereinten Nationen zu Nachhaltigkeit und Globalisierung einzusetzen. Die Kommission soll Wege aufzeigen, wie die Globalisierung ökologisch und sozial gestaltet werden kann, und wir können das - nicht nur als Schrittmacher - gut gebrauchen.

Ich finde, dass all das, was seinerzeit geleistet worden ist - angefangen mit der Nord-Süd-Kommission, die seinerzeit Willy Brandt geleitet hat, über die Brundtland-Kommission und andere - , Politik auch unter Legitimationszwänge gesetzt hat, und zwar unter richtige Legitimationszwänge. Das kann hilfreich sein und das ist hilfreich, auch für die Formulierung von Politik im nationalen Maßstab.

Ich finde, auch das muss festgestellt werden: Erste Ansätze für einen sozialen und ökologischen Ordnungsrahmen sind bei der WTO-Ministerkonferenz in Doha gelungen. Danach wird die WTO künftig im Zusammenhang mit den Regeln für den Welthandel auch über Fragen des Umweltschutzes verhandeln und sich mit grundlegenden Arbeitnehmerrechten zu beschäftigen haben. Die Hoffnung, die wir haben und die Verpflichtung, die wir im internationalen Maßstab durchsetzen müssen - und das wird viel Kraft brauchen - , geht dahin, dass alle, aber auch wirklich alle relevanten Kräfte sich auf eine solche Strategie einlassen.

Auch das Kyoto-Protokoll, das im Interesse des weltweiten Klimaschutzes verbindlich Ziele, Regeln und Instrumente festlegt, ist inzwischen ein wichtiger Pfeiler einer globalen Ordnung für globale soziale und ökologische Entwicklung. Wir haben uns zusammen mit der Europäischen Union für dieses Protokoll stark gemacht und damit ein Fundament geschaffen, das wir miteinander verteidigen müssen, verteidigen werden und auf dem wir aufbauen können.

Bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Folgen der Globalisierung halte ich nichts davon, sehr eindimensional mit dem Thema umzugehen. Die Vereinten Nationen fordern die Öffnung der Absatzmärkte der Industrieländer für Produkte aus Entwicklungsländern als Voraussetzung für deren wirtschaftliche Erholung. Ich finde, diese Ansicht kann man nur teilen. Ich kann Ihnen versichern, dass zum Beispiel im europäischen Maßstab Deutschland das Land ist, das sich am nachhaltigsten für die Öffnung der Märkte der Industrieländer einsetzt. Das gilt auch und gerade für landwirtschaftliche Produkte.

Unser Ziel muss sein, die internationalen Regeln so zu gestalten, dass fairer Handel möglich wird und die Entwicklungsländer eben durch die Öffnung der Märkte und durch den Abbau insbesondere von Agrarprotektionismus die Chancen der Globalisierung verstärkt nutzen können. Wer dagegen pauschal die Globalisierung der Weltwirtschaft bekämpft und sie aufzuhalten sucht, springt zu kurz und wird keinen Erfolg haben. Das ist kein Weg aus der Armut heraus, sondern eher einer, der zum Verbleib in der Armut führt.

Deutschland wird in Johannesburg einen ganz praktischen Beitrag leisten, um die Globalisierung stärker am Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung auszurichten.

In einem sehr intensiven Dialog erarbeiten derzeit Bundesregierung, Wirtschaft, Gewerkschaften und Umweltverbände Grundsätze zur besseren Berücksichtigung des Umweltschutzes bei Direktinvestitionen im Ausland. So konkret und aktionsorientiert wünsche ich mir auch die Ergebnisse von Johannesburg.

Mit meinen Kollegen in der Europäischen Union bin ich mir einig, dass wir ein entschiedenes und umsetzbares Aktionsprogramm brauchen, das die Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern mit einer umweltverträglichen Entwicklung verknüpft. So haben etwa weltweit zwei Milliarden Menschen keinen Zugang zu Energie. Wir wollen deshalb erreichen, dass der Weltgipfel in Johannesburg das Startsignal für ein Aktionsprogramm zur nachhaltigen Energieversorgung gibt. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Schwerpunkte unserer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie mit den Prioritäten für Johannesburg in Einklang zu bringen sind.

Für uns ist eine Effizienzrevolution bei der Nutzung von Energie und natürlichen Ressourcen der Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung. Das gilt eben nicht nur national. Das muss auch weltweit gelten.

Übrigens darf man darauf ja auch gelegentlich einmal mit Stolz hinweisen, weil dahinter eine ganz bestimmte Leistung liegt: Schon heute liegt Deutschland bei der Energieeffizienz an der Spitze der Industriestaaten. In der Nachhaltigkeitsstrategie haben wir die Latte noch höher gelegt: Bis 2020 wollen wir die Energieproduktivität gegenüber 1990 verdoppeln. Mit diesem Ziel lösen wir einen Innovationsschub aus.

Auch das gilt es, einmal zu unterstreichen, weil denen, die über Nachhaltigkeit reden und das in den Mittelpunkt ihres politischen Wollens stellen, ja gelegentlich vorgeworfen wird, sie hätten nichts übrig für Arbeitsplatzargumente: Wir schaffen damit einen Innovationsschub, der auch zu neuen Arbeitsmöglichkeiten führt. Wir haben bei den Programmen, die wir zur Stützung und zum Anschub der erneuerbaren Energieträger formuliert und durchgesetzt haben, immer wieder gemerkt, wie arbeitsplatzintensiv diese Programme wirken können und gewirkt haben.

Ich bin in einem sicher: In Zukunft werden Ressourcen- und Energieeffizienz weltweit die Markenzeichen dauerhaft erfolgreicher Marktwirtschaften sein. Wer heute nicht die Grundlagen legt, wird im internationalen Wettbewerb zurückfallen und den Menschen im eigenen Land, auch denen, die Angst um Arbeitsplätze und Arbeitsmöglichkeiten haben, Steine statt Brot geben.

Unsere Strategie jedenfalls ist und bleibt konsequent: Mit der Ökosteuer, der massiven Förderung von Kraft-Wärme-Koppelung, der Brennstoffzelle und vor allem durch die Vereinbarungen mit der Wirtschaft zum Klimaschutz haben wir die Weichen gestellt, um die Energieeffizienz langfristig zu sichern. Ich denke, das gilt es, auch in den kommenden Wochen und Monaten zu verteidigen. Diejenigen, die heute ankündigen, sie wollten diese Strategie, die ja in einem gesteuerten und geplanten Prozess auf die Verwendung von Kernenergie zur Stromproduktion verzichtet, wieder rückgängig machen, schaden der Realisierung der Klimaschutzziele und nutzen ihnen nicht.

Hier setzen wir mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, dem 100.000 Dächer-Programm und den weiteren Förderprogrammen sehr erfolgreich Rahmenbedingungen, die, wie gesagt, auch zu neuen Arbeitsplätzen führen. Das sind im Übrigen sehr handfeste Investitionen in eine zukunftsfähige Energieversorgung und damit in eine zukunftsfähige wirtschaftliche Entwicklung.

Man kann das auch an Beispielen deutlich machen. So hat sich zum Beispiel seit 1998 die Kapazität von Windkraftanlagen verdreifacht. Mit einem Pilotprojekt im so genannten Offshore-Bereich machen wir den Weg frei, um diese Potenziale noch weiter zu nutzen. Unsere Förderpolitik wird auf diesen Gebieten auch in den kommenden Jahren zu einem stabilen Aufwärtstrend führen.

So können wir als Industrieländer - und von wem sollte das sonst verlangt werden - zeigen, wie sich, angepasst an die dortigen Bedürfnisse, auch in den Entwicklungsländern eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung mit einer Schonung der natürlichen Ressourcen vereinbaren lässt. Es macht nämlich nach meiner festen Überzeugung keinen Sinn, von den Entwicklungsländern, von den Ärmsten der Armen einzufordern, was für sich betrachtet vernünftig ist: Schonend mit den Ressourcen umzugehen, über die man dort verfügt. Es macht keinen Sinn, wenn wir nicht wenigstens als die reichsten Länder der Welt vormachen, wie es geht, wenn wir nicht unseren Beitrag gleichsam als Vorleistung zu liefern bereit sind.

Es ist völlig klar, dass die Entwicklungsländer die Umsetzung eines solchen Energiekonzepts nicht aus eigener Kraft schaffen können. Daher unterstützen wir gemeinsam mit anderen europäischen Staaten eine Aufstockung des zentralen Finanzmechanismus für den weltweiten Umweltschutz. Mit zusätzlichen 2,7 Milliarden US-Dollar - das entspricht einer Erhöhung um 35 Prozent - soll gewährleistet werden, dass die Entwicklungsländer die notwendigen Mittel für den Aufbau einer nachhaltigen Energieversorgung erhalten.

Darüber hinaus machen wir bei der Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit im europäischen Rahmen Fortschritte. Der Europäische Rat hat in Barcelona einen Zwischenschritt auf dem Weg zum 0,7 Prozent-Ziel beschlossen. Mir ist klar, dass das gerade hier in dieser Veranstaltung viele nicht für ausreichend halten. Aber unter den gegebenen Bedingungen ist es wenigstens ein wichtiger und richtiger Schritt, denke ich. Er bedeutet immerhin, dass die Europäische Union als Ganzes bis 2006 rund elf Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellt.

Nachhaltige Entwicklung - so viel ist klar - beginnt im eigenen Land. Wir werden im August in Johannesburg umso glaubwürdiger für ein weltweites Aktionsprogramm eintreten können, wenn wir bis dahin unsere Hausaufgaben wirklich gemacht haben."Global denken und lokal handeln" lautet zu Recht das Motto der in unserem Land sehr erfolgreichen "Lokalen Agenda 21".

In Rio haben sich 1992 alle Staaten verpflichtet, zum Gipfel in Johannesburg eine nationale Strategie für eine Nachhaltige Entwicklung vorzulegen. Im April haben wir unsere nationale Strategie für eine solche Entwicklung beschlossen. Ganz bewusst steht sie unter der Überschrift: "Perspektiven für Deutschland". Wir wollen damit deutlich machen, in welche Richtung wir wollen, dass sich unser Land entwickelt. Wir wollen damit natürlich auch erklären, welche Weichenstellungen dafür notwendig sind.

Es geht darum, wie wir den durch die Globalisierung ausgelösten Strukturwandel wirtschaftlich erfolgreich, sozial abgesichert und umweltverträglich gestalten. Diese Ziele nicht isoliert, sondern im Zusammenhang anzugehen. Das kennzeichnet diese Strategie. Das bedeutet beispielsweise bei Wirtschaftsthemen, die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Umwelt von vornherein mitzubedenken. Aber auch umgekehrt sind bei Anforderungen an den Umweltschutz die Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf die Arbeitsplätze und auf die Wettbewerbsbedingungen zu beachten.

Was ist der Maßstab für eine solche nachhaltige Entwicklung? Ich habe über Befürchtungen gelesen, dass der Begriff seine Konturen verliere und beliebig werden könne. Um dem entgegen zu wirken, haben wir deshalb vier Leitlinien entwickelt, um den Begriff anschaulich zu machen und die politische Nachprüfbarkeit zu gewährleisten:

Erstens. Ausgangspunkt ist die Generationengerechtigkeit. Das heißt: Wirtschaften für die Kinder, Enkel und Urenkel und diese Vorsorge mit den berechtigten Bedürfnissen der heutigen Generation in Einklang zu bringen.

Dieser Grundsatz kennzeichnet die Politik der Bundesregierung. Dies auf unterschiedlichen Gebieten, denn der Begriff darf nicht nur als ein auf die ökologische Debatte beschränkter verwendet werden. Zum Beispiel geben wir mit dem Abbau der Staatsschulden der nachfolgenden Generation ganz wesentlich Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten durch Politik zurück. Beispielsweise gewichtet die Reform der Altersvorsorge die Verantwortung zwischen den Generationen neu, indem sie Eigenverantwortung stärkt, aber auf der anderen Seite Solidarität der Generationen als Säule der Altersversorgung bestehen lässt.

Aber auch für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen sind die Weichen gestellt: Wir haben den Atomausstieg vereinbart. Wir haben nicht nur den Ausstieg vereinbart und politisch durchgesetzt. Nein, wir haben die Kehrseite des Ausstiegs, nämlich den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung ebenso geschafft. Wir wollen auf diesem Wege weitermachen, weil klar ist, dass wir den Weg beschritten haben, er aber er längst noch nicht bis zum Ende gegangen ist.

ZweiteLeitlinie ist die Lebensqualität. Dafür sind eine intakte Natur und Landschaft wichtig.

Aber Lebensqualität umfasst weit mehr. Befriedigende Arbeit, Gesundheit und angemessener Wohnraum gehören genauso dazu. Darüber hinaus sind persönliche Entfaltungsmöglichkeiten, gute Schulen, lebenswerte und sichere Städte mit vielfältigen kulturellen Angeboten von ebenso großer Bedeutung.

In diesem Zusammenhang ein Wort zu einer aktuellen Diskussion: Das wird nicht zusammengehen, wenn man auf der einen Seite Steuerkonzepte propagiert, die zum Streichen von Mitteln bei Bund, Ländern und Gemeinden in einer Größenordnung von 170 Milliarden Euro führen würden und man auf der anderen Seite den Menschen nicht erklären kann, wie ein intakte Infrastruktur, vernünftige Schulen, eine angemessene und gute Betreuung von Kindern finanziert werden sollen. Wir haben demgegenüber ein durchgerechnetes, auf Sparsamkeit gegründetes Finanzierungskonzept vorgelegt, das aber allemal dazu führt, dass der Staat in den gekennzeichneten Gebieten seine Aufgaben auch wirklich noch wahrnehmen kann.

Ich bleibe dabei, dass der Satz richtig ist: Nur reiche Leute können sich einen armen Staat leisten. Andere können das nicht, weil sie auf die Versorgung und auf einen leistungsfähigen Staat angewiesen sind.

Wenn man über Lebensqualität redet, ist klar, dass ein rein auf die Ökologie bezogener Nachhaltigkeitsbegriff zu eng wäre. Dazu gehört dann auch die Betreuung von Kindern. Auch in diesem Zusammenhang will ich eines sehr deutlich machen: Wir werden in den kommenden Monaten eine Auseinandersetzung über die Richtung der Familienpolitik haben. Das ist eine Auseinandersetzung, die auch für das, was wir hier heute diskutieren, von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Die Auseinandersetzung geht um die Frage: Will man etwa über Familiengeld, selbst wenn man es bezahlen wollte, den gut ausgebildeten Frauen einen Bonus geben, damit sie zu Hause bleiben? Das will die eine Seite. Oder will man, wie wir, durch große und großzügige Investitionen in ein Betreuungsangebot eine Familienpolitik machen, die den Frauen wirklich eine Wahlfreiheit offen lässt und Männern und Frauen ermöglicht, Familie und Beruf miteinander in Einklang zu bringen?

Auch über diese beiden so unterschiedlichen Strategien in diesem Bereich wird zu streiten sein und wird, dessen bin ich sicher, weiter gestritten werden. Das ist der Grund, warum wir gesagt haben: Wir wollen, obwohl an sich als Bundesregierung nicht zuständig, in diesem Bereich zentral investieren, damit das, was man erreichen will, auch erreicht werden kann.

Die dritte Leitlinie der Nachhaltigkeit ist der Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Der schnelle wirtschaftliche Strukturwandel mit seinen Folgen für die Arbeitsplätze und die geforderte Anpassung an veränderte Lebensumstände bedeuten für viele Menschen eine Herausforderung, mehr noch: er schafft bei vielen Angst.

Ich bin überzeugt davon, dass das Erstarken der äußersten Rechten in Europa auch etwas mit diesen Ängsten zu tun hat. Die Antwort, die wir zu geben haben, kann nicht sein, auf diese Ängste, mit denen dann Renationalisierungstendenzen, Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Antisemitismus verbunden sind, mit Anpassung zu reagieren, und zwar in der Hoffnung, dass man sie dadurch unterlaufen könnte. Die einzige Möglichkeit, die ich sehe, ist, ihnen massiv im nationalen, europäischen und weltweiten Zusammenhang entgegen zu treten, politische Gestaltungsräume zurück zu erkämpfen und diese dann auch in der gekennzeichneten Weise zu nutzen.

Ich persönlich halte es für den Zusammenhang und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft für unverzichtbar, dass wir auf diese Weise eine Spaltung in Gewinner und Verlierer der Globalisierung im nationalen wie im internationalen Maßstab verhindern. Nachhaltigkeit bedeutet für mich auch, dass alle Bevölkerungsschichten an der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligt sind und am gesellschaftlichen und eben nicht nur am politischen Leben, sondern auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft angemessen teilhaben können.

Die vierte Leitlinie beschreibt unsere internationale Verantwortung. Unsere zukünftige Entwicklung ist untrennbar in den europäischen und internationalen Zusammenhang eingebettet. Wir wissen, dass keine Nation der Welt die Wohlfahrt und Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger allein gewährleisten kann. Genauso wenig ist das allein möglich, was die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen angeht.

Deshalb nimmt die internationale Verantwortung in unserer Nachhaltigkeitsstrategie einen großen Raum ein. Was den Kern dieser internationalen Verantwortung ausmacht, bezieht sich das auf die Vereinten Nationen, deren Arbeit wir mit all unseren Möglichkeiten stützen und, wo immer es geht, bewahren und ausbauen wollen.

Mit 21 messbaren Zielen benennt die Strategie konkrete Wegmarken für eine nachhaltige Entwicklung. In einem regelmäßigen Monitoring werden wir den erreichten Stand bewerten und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen. Neben den Zielen definiert die Strategie acht Handlungsfelder, die wir jedenfalls für vorrangig halten. Dazu gehört beispielsweise ein Maßnahmenprogramm zur Neuorientierung der Agrarpolitik, mit der wir begonnen und bereits sichtbare Erfolge erzielt haben.

Ganz konkret zeigen wir auf, wie ein vorsorgender Verbraucherschutz etabliert und eine wirklich umweltverträgliche Landwirtschaft gewährleistet werden können. Wie angesichts der enormen Zunahme des Güterverkehrs eine umweltschonende Mobilität erreicht werden kann, ist Schwerpunkt eines weiteren und außerordentlich wichtigen Handlungsfeldes. Aber auch zu den Konsequenzen des demografischen Wandels und zur Förderung und Stärkung der Familien enthält die Nachhaltigkeitsstrategie programmatische Aussagen.

Jetzt komme ich zu dem Punkt, lieber Volker Hauff, an dem wir dem Vorschlag des Rates nicht gefolgt sind:

Sie hatten vorgeschlagen, langfristige und vor allen Dingen quantifizierte Klimaschutzziele in die Strategie aufzunehmen. Sicher ist, dass eine solche Quantifizierung unter Umweltschutzgründen und umweltpolitisch außerordentlich richtig und sicherlich auch ein wichtiger Motor für Investitionen in diesem Bereich gewesen wäre.

In der Schlussphase der Bonner Klimaschutzkonferenz habe ich übrigens damals in Genua bei mehreren Kollegen, etwa beim russischen Präsidenten, versucht, noch nachdrücklich für den Erfolg in Bonn zu werben. Partiell ist das gelungen.

Vor diesem Hintergrund sollten wir aber auch die Realitäten zur Kenntnis nehmen: Von dem Minderungsvolumen, das auf die Europäische Union entfällt, übernimmt Deutschland 75 Prozent. Hätten wir das übrigens nicht gemacht, wäre Bonn kein Erfolg geworden. Ich finde, dass wir uns damit auch sehen lassen können. Wir werden das auch mit den Maßnahmen erreichen, die wir auf den Weg gebracht haben.

Derzeit sind auf der anderen Seite die meisten Mitgliedstaaten noch weit davon entfernt, ihren internationalen Verpflichtungen zur Reduzierung der Treibhausgase auch wirklich nachzukommen.

Deutschland hat also bereits eine durchaus beachtliche Vorreiterrolle. Ich finde, dass wir jetzt unsere politische Kraft darauf verwenden müssen, nicht nur Vorreiter zu sein, sondern andere dazu zu bewegen, nachzuziehen. Weitergehende ambitionierte Klimaschutzziele im nationalen Alleingang könnten sonst die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigen und als Folge dessen auch zu sozialen Verwerfungen führen, die die Legitimation unserer Nachhaltigkeitsstrategie im Volk durchaus in Frage stellen könnten.

Das wäre dann das Gegenteil dessen, was wir erreichen müssen, was ich nach wie vor für sinnvoll halte und wofür wir viel Kraft mobilisieren wollen.

Im Übrigen gilt - und das möchte ich abschließend sagen: nachhaltige Entwicklung kann nicht allein Sache des Staates sein. Sie kann auch kaum vom Staat verordnet werden. Nur wenn Bürgerinnen und Bürger, wenn Unternehmer und Verbraucher, wenn alle Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft das Thema zu ihrer eigenen Sache machen, werden wir dauerhaft Erfolg haben.

Ich denke deshalb, dass Veranstaltungen wie diese, die auch das Ziel haben, einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Notwendigkeit einer solchen Nachhaltigkeitsstrategie in Gang zu setzen und damit über die Frage, in welche Richtung sich unser Land entwickeln soll, nicht nur für diesen Bereich wichtig, sondern ein Stück gelebte Demokratie sind. Dies ist auch der Grund, warum ich Sie alle auch weiterhin zur Beteiligung auffordern möchte und mich für das, was Sie an hilfreicher Unterstützung in gelegentlich mehr als kritischer Solidarität uns haben zukommen lassen, herzlich bedanken möchte. Vielen Dank und viel Erfolg für diesen Kongress!