Redner(in): Michael Naumann
Datum: 03.09.1999

Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/75/11775/multi.htm


als dieses Jahrhundert begann, beherrschte eine eschatologische Grundstimmung das geistige und künstlerische, das politische und auch imperialistische Milieu Europas.

Industrieller Aufbruchsglaube, eurozentrische Welterlösungs- und Herrschaftsansprüche, vorgeführt in mörderischen kolonialen Feldzügen in Asien und Afrika, lagen konträr zu rabenschwarzen, gleichzeitig vorgetragenen Weltuntergangs-Visionen: "Kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen..." - so zum Beispiel Karl Kraus, der unerbittliche Begleiter der "Moderne", deren Ende von Beginn an in einer konservativen Kulturkritik mit ihrem Anfang gleichgesetzt wurde.

Ihrer mitgeschleppten Kritik entgegen liegen die gestalteten, zuweilen prachtvollen Dokumente einer künstlerischen Revolte gegen das Einhergebrachte, die Textdokumente des Kunstwillens, der, losgelöst von den religiösen Sinnaufträgen der Vergangenheit und ihrer akademischen Nachlaßverwalter, immanente Erlösung für Schöpfer und Betrachter im Hier und Jetzt der befreiten und befreienden Farb- , Form- und Stilsetzung versprach. Doch schon im größten Skandal der jungen Moderne, in der Uraufführung von Strawinskys "Sacre du Printemps", klingt ein überraschendes avantgardistisches Leitmotiv an: die heimliche Rückkehr der aufgeklärten Künste zum dionysischen Zauber des Irrationalen, der archaischen Religiosität, des Numinosen und Okkulten.

Kaum nachvollziehbar sind heute die hochgespannten kunsttheoretischen Träume der Klee, der Mondrian und Marc. An die Stelle von Mimesis und Symbolismus setzte die Avantgarde, zumal der "Blauen Reiter", den Willen zur Schöpfung des Neuen an und für sich. Die Moderne ist sich ihres historisch einmaligen Auftrags gewiß: "Jedes Werk," so Kandinsky,"entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand - durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung."

Die politische Brisanz des selbstgestellten Auftrags der Moderne hat Franz Marc in seinen Kriegsnotizen vor Verdun auf den höchst problematischen Begriff gebracht: "Aus dem Willen zur Macht wird der Wille zur Form entspringen." Die tragische Illusion des repräsentativen deutschen Künstlers lag in der Annahme beschlossen, daß gesellschaftliche Macht bei den Künsten läge. Sie lag indes bei der Masse, deren psychologische Verführbarkeit mit den medialen Mitteln der Moderne bereits zum Kriegsausbruch 1914 offenkundig wurde. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland "- diese Ausstellung schreitet die historischen Stationen der Moderne ab, nennt die großen Namen, zeigt die Werke, die Irrwege und ästhetischen Manifestationen des künstlerischen Selbstverständnisses unseres Landes: Die" Bildachsen ", die sich dem Besucher eröffnen, sind zugleich die gebrochenen Geschichtsachsen Deutschlands. Deutlich wird, wie selten zuvor auf einer Retrospektive ähnlicher Art, wie eng verknüpft die bildenden Künste von der Malerei bis zur Architektur mit politischen und ideologischen, mit zeitgeschichtlichen gesellschaftlichen Hoffnungen und Katastrophen ihren labyrinthischen Weg suchten.

Das "Projekt der Moderne", mit Jürgen Habermas gesprochen, bestand ja darin, Wissenschaften, Moral, Recht und autonome Kunst "in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale ( ... ) für die Praxis, d. h. für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nützen." Daß dabei den Künsten zumindest in Deutschland bis zur vorigen Jahrhundertwende traditionell die Rolle des innerlichen Trostspenders im schmerzhaften Prozeß der nachgeholten Industrialisierung zufiel, hatte seinen Auftragsursprung im originären Beitrag der Deutschen zur Kulturgeschichte, in der Ästhetik des Idealismus."Im modernen Staate," so Friedrich Theodor Vischer in seinen "Kritischen Gängen" im Jahre 1850,"wird in dem Grade, in welchem die Lebendigkeit aus den mechanisierten Formen des öffentlichen Lebens sich ins Innere zurückzieht, das Privatleben, die persönliche Bildung wichtig." Der Inbegriff der persönlichen Bildung aber war die Aneignung des Schönen."Das Schöne", so der "gutartige, durchaus blonde Ästhetiker Vischer", ( Richard Wagner ) "ist das in sich gespiegelte, im Spiegel verklärte Leben." Und: "Wir haben beim echten Schönen das Gefühl eines großen Entzückens; und wenn wir hinweggehen, ist es uns, als walte nun etwas Fremdes, das wie ein magisches Goldlicht über der Wirklichkeit zittert. Es ist der Traum von einem vollkommenen Leben." Die modernen Künstler des nächsten Jahrhunderts nahmen den Traum ernst - nur wollten sie ihn ins Erzieherische wenden, der Menschheit zuliebe.

Selbst dort, wo die berühmten Protagonisten der jungen Moderne in Deutschland sich formal abstießen von solcher "machtgeschützten Innerlichkeit", blieb der Auftrag erhalten. Losgelöst von der politisch kompromittierten Kunstauffassung der Akademien schufen sich die Praktiker des Neuen ihr eigenes Theorie-Konstrukt: Die seelische und schließlich politische Erfrischung vom ermattendem Anblick des Alten durch das Neue in der Kunst. Der ästhetische Anspruch war hoch gesteckt und hatte die Ermüdungserscheinungen des industriellen Zeitalters, die zu überwinden man doch angetreten war, unterschätzt: Das Publikum und seine ihm vorgesetzte Kunstkritik waren nicht bereit, der Avantgarde in das grenzenlose, also ungesicherte Feiertagsland der Abstraktion zu folgen - die permanenten Rückzüge in die fester umrissene Welt des Figurativen manifestierte stets auch die Dauerhaftigkeit des Massengeschmacks. Kitsch, dieses unübersetzbare Wort, versprach allgemeine Verträglichkeit von angewandter Kunst und seinem Gewerbe ohne Nebenwirkungen. Mondrian als Textildesign, Malewitsch als Geschirrmuster - das war die Entmachtung der Avantgardisten.

Beat Wyss hat in seinem temperamentvollen Essay zur ästhetischen Mentalität der Moderne eine melancholische Bilanz unseres Kunstjahrhunderts gezogen: "Die totalitären Staaten der 30er Jahre usurpierten den Erlösungsanspruch ihrer Avantgarde. In Deutschland wurden die Künstler, darunter nicht wenige Sympathisanten der Nazis, von einer spießigen Kulturpolitik ins innere und äußere Exil geschickt; in der Sowjetunion wurden sie umerzogen oder umgebracht; in Italien ließ man sie mitmarschieren. Das Ziel der Avantgarde, die Gesellschaft zum Gesamtkunstwerk zu formen, sollte nicht mittels Kunst, sondern mittels Kriegspolitik durchgesetzt werden... Im Frühjahr 1945 erwachte die Moderne in der Wirklichkeit ihrer Träume... Die Nachkriegskultur wollte nicht mehr an die Heilserwartung der Avantgarde erinnert sein."

Nachbeben jener hoffnungsfrohen Anfänge entdecken wir heute im Rückzug ins verspielte Reich der Privatmythologeme eines Beuys, in der Kunst der Wahnsinnigen und ihrer berückend geschlossenen Traumwelt, in der radikalen Abwendung vom neoplatonischen Auftrag gesellschaftlicher Sinnstiftung durch Kunst oder Künstler in den schier obsessiven, höchst intimen Zeichenreihungen einer Darboven, in der Ironie eines Polke, dem, wie er einmal spottete, ein "höheres Wesen erschien", das ihm den Auftrag gab, Flamingos zu malen oder in den schwermütigen Werken eines Anselm Kiefer. Sie alle jedoch bewegen sich nicht stumm im Reich der Werkinterpretation, sondern sind mit ihren Biographien Teil ihres Werks geworden - in solch enger Verknüpfung von Kunst und Künstlerleben manifestieren sich nicht nur die Kosten des professionellen Kunstbetriebs, sondern auch die Bedürfnisse des Publikums nach ästhetischem Halt, den ein romantischer Geniebegriff immer noch zu vermitteln weiß. Die gleichzeitige Expansion der Darstellungsformen in die rahmenlose Landschaft der elektronischen Medien, die satirische Verzauberung der Warenwelt im sarkastischen Zugriff der Pop-Art auf die Suppendose der Firma Campbell oder das Waschmittel "Brillo" - dies alles ist Teil einer ästhetischen Galerie- , Ausstellungs- und Auktions-Industrie, deren beträchtliche Wertzuwächse unvorstellbar wären, würden mit dem Kunstwerk nicht zugleich die Lebensläufe der Künstler mitgeliefert. Selbst die Geste des totalen Rückzugs eines Duchamp unterliegt der Dialektik des unersättlichen Kunstgeschäfts. Je talentierter die Verweigerung des Künstlers, am Selbstinterpretations- und Verkaufsbetrieb teilzunehmen, desto interessanter das Werk. Die Moderne im Warenverkehr ist unerbittlich geworden. Deutschland ", so der neue Generaldirektor der Stiftung Preussischer Kulturbesitz, Peter-Klaus Schuster," Deutschland wurde im 20. Jahrhundert nicht allein das Transitland der verschiedenen Strömungen internationaler Kunst, nirgendwo sonst strebten die Künste so sehr zum Gesamtkunstwerk, zu ästhetischen Gesamtinszenierungen, die alle Lebensbereiche umfassen sollten. Entsprechend richtet sich der Rückblick dieser Ausstellung auf die ganze Fülle der Künste, von der Malerei und Skulptur über Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie, Buch- und Medienkunst, Kunstgewerbe, Design und Architektur bis hin zu den darstellenden Künsten Theater, Film, Tanz und Musik."

Es ist, daran besteht kein Zweifel, diese Ausstellung der letzte Versuch in unserem Jahrhundert, einem theoretisch zu verankerndem ganzheitlichen Kunstbegriff seine Würde auch dort zuzugestehen, wo er in der Praxis gescheitert ist und scheitern mußte. Die Ausstellung ist ein melancholisch stimmendes Fest der Erinnerung. Doch, mit Goethe ganz postmodern gesprochen,"es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Bessres erschaffen." Die Moderne ", dieser flackernde Begriff der Kunstgeschichte, ist erst dann wirklich abgeschlossen, wenn ihre Interpreten auf den Kalender blicken. Und wenn das Neue zusammengeschrumpft ist auf bildnerische oder architektonische Experimentierformen mit Zitaten und Stilmitteln der Vergangenheit - ist, so müssen wir uns fragen, die Kunst dann am Ende? Oder sind nicht alle Versuche, auch diejenigen dieser Ausstellung, mit kunst- und geschichtstheoretischen Argumenten epochale Übersichtlichkeit herzustellen, in Wirklichkeit enge Verwandte der alltäglichen Kunstpraxis, wohnhaft im Textraum ästhetischer und museologischer Spekulation, unentwirrbar verwickelt mit dem, was ausgestellt, vorgeführt und gesammelt wird?

Kunst endet nicht, aber sie verändert sich, sie spekuliert im ursprünglichen Sinne des Wortes - auch im historischen Prozeß ihrer subjektiven Anschauung und Aneignung durch den Betrachter: Von uns, den Besuchern und Bewunderern, erwartet sie die Neugier, den interpretativen, offenen Blick, das unvoreingenommene Schauen und vielleicht auch, ganz bürgerlich, eine immer noch nicht gestillte Hoffnung auf das "Bessere," das schlechthin Schöne. Ihr rechter Wert entfaltet sich gerade dort, wo sie, in ihrer subjektiven Rätselhaftigkeit, die beste Tugend der "Moderne" selbst mobilisiert - die kunstoffene Toleranz des Publikums, die sich übersetzen und bewähren mag im Alltagsleben, im Politischen, im Schöpferischen, im Risiko.

Weil das so ist oder weil es so sein sollte, bauen wir Museen. Sie sind nicht mehr Tempel unserer nationalen Identität, erst recht nicht mehr legitimatorische Trophäensammlungen kurfürstlicher Selbstdarstellung, sondern Schulen des Augenblicks, des ästhetischen Zweifelns, der Introspektion, der inneren Ruhe.

Ich freue mich, mit dieser Ausstellung zugleich den "Kunstherbst Berlin 1999" eröffnen zu dürfen. Mit der Veranstaltungsreihe präsentiert sich die Berliner Kunstszene in ihrer Vielfalt und Vitalität: Museen, Galerien, Kunstvereine, das art forum berlin. Den Initiatoren, Veranstaltern, den Kuratoren und Museumsdirektoren gebührt unser Dank. Unser Dank geht auch an die Münchner Staatsgalerie moderner Kunst. Man wird sich dort daran erinnern, daß die erste, die kanonisierende "Jahrhundertausstellung" von 1906 in in strahlendem Weiß dekorierten Sälen der Berliner Museumsinsel stattfand - die schwarzen Zierleisten deuteten damals dezent auf die Verortung der Kunst im Herzen Preußens hin: derlei nationalfarbene Symbolik bleibt uns diesmal erspart.

Daß unsere Museen immer noch mit den Kirchen ein Wesentliches teilen, nämlich das Gebot des Schweigens, macht sie gewiß nicht zu sakralen Bauten, wohl aber zu den letzten Orten unserer Zeit, an denen der Moment des Innehaltens, des Staunens, der Stille und des Schweigens zur zivilisatorischen Tradition zählt.