Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 16.05.2002

Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin: "Die Vertreibung der Deutschen im und nach dem 2. Weltkrieg hat die deutsche Nachkriegsgeschichte insgesamt wesentlich mitgeprägt."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/27/80527/multi.htm


Die Vertreibung der Deutschen im und nach dem 2. Weltkrieg hat die deutsche Nachkriegsgeschichte insgesamt wesentlich mitgeprägt. Angesichts des Ausmaßes des je individuell erfahrenen Leids und angesichts der Zahl der Opfer - Schätzungen gehen von über 14 Millionen Vertriebenen aus, von denen Hunderttausende starben - ist dies nur zu verständlich. Gleichwohl unterliegt die Art und Weise der Thematisierung von Vertreibungen sich wandelnden, zeitgeschichtlich bedingten Rahmenbedingungen. Ein moralisch und politisch angemessener Umgang mit dem Thema verlangt meines Erachtens, dass wir diese veränderten Bedingungen in den Blick nehmen.

Bezogen auf die Bundesrepublik - d. h. unter Ausklammerung des Umgangs ( bzw. Nicht-Umgangs ) mit der Vertreibungsproblematik in der DDR - , denke ich hier insbesondere an die neue Rolle, die dem Thema Vertreibung im Kontext der Entspannungspolitik ab den 60er Jahren zugewiesen wurde. Während in den 50er Jahren - nicht nur, aber doch vor allem - Fragen der sozialen und kulturellen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im Mittelpunkt standen, unterlag die Thematisierung der Problematik vor dem Hintergrund der neuen Ostpolitik zugleich einer Verengung und Polarisierung. Die Vertriebenen und ihre Verbände brandmarkten die Entspannungspolitik in erster Linie als Verrat. Das komplexe Thema Vertreibung wurde so, nicht frei von revanchistischen Tönen, auf die Frage der staatlichen Grenzen Deutschlands reduziert. Dieser verengten Sichtweise korrespondierte auf der Seite der Befürworter der Entspannungspolitik eine weitgehende Tabuisierung. Allein das Ansprechen der im Zuge der Vertreibungen verübten Verbrechen galt nicht selten als Ausweis einer aggressiven, gegen den Geist der Enspannung gerichteten Haltung.

Seit 1989 hat sich die politische Konstellation grundlegend gewandelt. Die Prämissen des kalten Krieges sind außer Kraft gesetzt und mit ihnen entfielen die Gründe für eine Tabuisierung des Themas Vertreibung. Ein zweites, dunkles Moment trat nach 1989 hinzu: das Bewusstsein für die Gegenwärtigkeit von Vertreibung, auch hier in Europa - ich erinnere nur an die schrecklichen Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien.

Noch eine weitere Randbedingung der gegenwärtigen Diskussion scheint mir bedeutsam: Angesichts der voranschreitenden Integration innerhalb der Europäischen Union und ihrer Erweiterung insbesondere nach Osten wächst das Interesse an einer europäischen - und d. h. nicht nationalstaatlich verengten - Sicht auf historische Prozesse. Vor diesem Hintergrund gibt es auch, gerade bei der jüngeren Generation, eine neue Aufmerksamkeit für deutsche Geschichte - verstanden als Teil der europäischen Geschichte.

Wir sollten die nach dem Ende des kalten Krieges veränderte Grundkonstellation als Chance begreifen, als Chance für einen breiten, genuin europäischen Dialog über Flucht und Vertreibung. Eines dürfen wir allerdings nicht zulassen: dass die Erinnerung an die Rolle Nazi-Deutschlands als Aggressor, als Initiator eines verbrecherischen Vernichtungskrieges verblasst. Und wir dürfen auch nicht zulassen, dass mit Blick auf die Vertreibungen eine neue Aufrechnungsdiskussion beginnt. Der Respekt vor den Opfern, der je individuellen Würde der Opfer, verbietet jede Form von Instrumentalisierung.

Der Antrag der Fraktion der CDU / CSU nimmt Bezug auf eine Initiative des Bundes der Vertriebenen. In einem ersten Gespräch habe ich Ende März vergangenen Jahres mit Frau Steinbach die Pläne zur Einrichtung eines Zentrums gegen Vertreibung erörtert und dabei meine prinzipielle Zustimmung signalisiert. Ich habe allerdings bereits seinerzeit darauf hingewiesen, dass es aus meiner Sicht keine thematische Engführung eines solchen Zentrums geben darf, in dem Sinne, dass nur die Vertreibung von Deutschen Gegenständ wäre. Wenn ein solches Zentrum seinem Thema gerecht werden soll, muss es europäisch ausgerichtet sein, und eine enge Kooperation mit unseren europäischen Partnern anstreben. Der Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90 / DIE GRÜNEN unterstreicht - auch vor dem eben skizzierten historischen Hintergrund - zu Recht, dass dieses Projekt keine rein nationale Aufgabe sein kann.

Ein Zentrum gegen Vertreibung sollte meines Erachtens vor allem zwei Aufgaben gerecht werden. Es sollte, erstens, umfassend über Vertreibungen und ihre Hintergründe informieren, auch mit Blick auf die immer noch und wieder gegebene Aktualität des Themas. Zum zweiten sollte es einen Beitrag dazu leisten, Erinnerung zu bewahren, Erinnerung nicht zuletzt an die schwerwiegenden menschlichen, sozialen und kulturellen Verluste, die mit Vertreibung verbunden waren und verbunden bleiben werden. Dass dabei, wie dies auch der Antrag der Regierungsfraktionen hervorhebt, die persönlich Betroffenen an prominenter Stelle einzubeziehen sind, ist aus meiner Sicht ein inhaltlicher Kernpunkt.

Wir sollten uns in der gesamten Diskussion zunächst auf die inhaltlichen Fragestellungen konzentrieren. Wichtig scheint mir dabei in erster Linie, dass ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibung ein Forum für alle Betroffenen und für alle interessierten Bürgerinnen und Bürger bietet. Das Zentrum würde weder der moralischen noch der politischen Dimension seines Gegenstandes gerecht, wenn es zu einer Fokussierung auf einzelne Gruppen käme.

Mit Blick auf die Entwicklung der Konzeption für ein Zentrum gegen Vertreibung ist es von eminenter Bedeutung, dass wir auf breiter Ebene Sachverstand einholen. Ich weise in diesem Zusammenhang auf die vom Haus der Geschichte in Bonn bereits begonnenen Vorarbeiten für ein Ausstellungsprojekt zur Vertreibung der Deutschen hin. Ich erinnere auch an die neuen Akzente, die meine Behörde im Bereich der Förderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes seit 1998 gesetzt hat, Stichwort etwa Kulturgeschichte im östlichen Europa. Auch die hier gemeinsam mit den Partnern in unseren östlichen Nachbarländern gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse könnten in die Konzeption eines europäisch orientierten Zentrums gegen Vertreibung einfließen.

Gegenüber den inhaltlichen Fragestellungen sind aus meiner Sicht die Fragen nach der Trägerschaft und nach dem künftigen Ort des Zentrums gegenwärtig nicht prioritär. Ich habe mit Freude registriert, dass sich auf der Seite unserer polnischen Nachbarn prominente Personen für ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibung ausgesprochen haben. Ich plädiere allerdings dafür, die Frage des Zentrumssitzes jetzt nicht in einer Weise in den Vordergrund zu stellen, die die entscheidenden inhaltlichen Aspekte überdecken würde. Und ich erlaube mir auch den Hinweis, dass alle Seiten gleichermaßen in die Debatte einbezogen werden sollten, beispielsweise auch unsere tschechischen Partner.

Eine aufgeklärte nationale Identität Deutschlands verlangt einen offenen Umgang mit dem Thema Vertreibung, auch der Vertreibung der Deutschen im Osten. Wir sollten den Dialog über die Einrichtung eines Zentrums gegen Vertreibung auf europäischer Ebene führen - eingedenk der Tatsache, dass die früheren Siedlungsgebiete der Deutschen im Osten von einem reichen kulturellen Geflecht geprägt sind, zu dessen Entstehung vielfältige Einflüsse beigetragen haben, jüdische, polnische, tschechische, deutsche, um nur einige zu nennen. Dieses gemeinsame Erbe Europas muss bewahrt und fortentwickelt werden. Ein europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen wäre dazu ein wegweisender Beitrag. Dankeschön.