Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.06.2002

Untertitel: Schröder: "Ihre Einladung, aus Anlass des 30. Jahrestages hier reden zu können, habe ich natürlich gerne angenommen."
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. Ackermann, sehr geehrter Herr Dr. Goldmann, sehr geehrter Herr Leland, verehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/83349/multi.htm


meine sehr verehrten Damen und Herren!

Lassen Sie mich zunächst drei Dinge ansprechen, die mich in der letzten Zeit besonders berührt haben.

Erstens: Der amerikanische Präsident hat bei seinem Besuch hier in Berlin eine bedeutende Rede gehalten, und das Entscheidende war, dass er den Kalten Krieg für beendet erklärt hat, ebenso, wie es ein paar Monate zuvor an gleicher Stelle der russische Präsident getan hatte. Das hat für mich einen unglaublich hohen Symbolwert, und der wird insbesondere dadurch gesteigert, dass das hier in Berlin stattfand. Ich glaube, die Bedeutung dessen, was da geschehen ist, kann man gar nicht hoch genug einschätzen.

Zweitens: Als Konsequenz dessen haben wir in Rom in der letzten Woche etwas beschlossen, das niemand von uns vor zwölf oder 15 Jahren für möglich gehalten hätte - es sei denn, er hätte damals als politischer Phantast abgestempelt werden wollen - , nämlich die Tatsache, dass die erweiterte NATO Russland faktisch aufgenommen hat, wenn auch nicht in aller Konsequenz, weil Artikel fünf und Erweiterungsfragen davon ausgenommen sind. Ich halte das für eine unglaubliche historische Chance, die niemand von uns wieder verspielen darf.

Drittens: Ich war vor nicht allzu langer Zeit in Kabul. Ich war dort in einer Stadt, die total zerstört ist. Ich habe keine eigene Anschauung davon und habe mir gedacht: So etwa muss Berlin unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen haben. Das Interessante und Berührende für mich war, dass ausschließlich die Existenz der internationalen Schutztruppe den Regierenden ebenso wie den Menschen dort überhaupt eine Perspektive für ihr künftiges Leben gibt. Das heißt, ohne die Entscheidungen, die wir im Anschluss an den 11. September haben treffen müssen, hätte es eine solche Perspektive niemals geben können.

Ich habe eine Mädchenschule besucht, in der Mädchen zuvor 13 lange Jahre gar nicht unterrichtet werden durften, weil die Taliban das verhindert haben. Jetzt dürfen sie wieder zur Schule gehen. Wenn man verspürt, wie viel Hoffnung - übrigens auch wie viel Bereitschaft, in ganz einfachen Verhältnissen zu lernen - es dort gab, dann weiß man, dass die Entscheidungen, die wir als Konsequenz des 11. Septembers getroffen haben, nicht nur militärisch notwendig waren, sondern sie Leben, Überleben und Lebensperspektive für dieses so geschundene Land und seine Menschen gesichert haben.

Aber jetzt zu dem, was Thema des heutigen Abends ist. Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Dr. Ackermann, dafür danken, dass wir hier in der Deutschen Bank sein können, die für ihre Gastfreundschaft bekannt ist. Ihre Einladung, aus Anlass des 30. Jahrestages hier reden zu können, habe ich natürlich gerne angenommen; dies umso mehr, als wir uns gleichzeitig auch an ein weiteres markantes Datum in der Geschichte der deutsch-amerikanischen - oder man sollte besser sagen: der europäisch-amerikanischen - Beziehungen erinnern, nämlich an den 55. Jahrestag der Rede von George C. Marshall, mit der er am 5. Juni 1947 den nach ihm benannten Plan ins Leben gerufen hat.

George Marshall hat damals den europäischen Staaten - und zwar allen, die unter den Folgen des von den Nazis begonnenen Krieges gelitten haben, darunter eben auch dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland - ein in der Geschichte, glaube ich, einzigartiges Unterstützungsangebot gemacht.

Ein wichtiger Bestandteil dieses Angebots war, dass die europäischen Staaten zunächst untereinander zu klären hatten, was sie denn wollten. Da hat also nicht jemand einfach nur erhebliche finanzielle Mittel und politische Unterstützung zur Verfügung gestellt, sondern das vielleicht noch Entscheidendere war, dass er nicht nur gefördert, sondern auch gefordert hat, nämlich von den Europäern gefordert hat, selber etwas zu tun, um die Hilfe auch vernünftig einzusetzen.

Ich glaube, dass das Entscheidende für die europäische Nachkriegsgeschichte deshalb gewesen ist, dass der Marshall-Plan neben der notwendigen Hilfe für den Wiederaufbau des zerstörten Europa einen wichtigen Impuls für den europäischen Einigungsprozess gegeben hat. Dieser Aspekt hat natürlich enorme Wirkung gehabt und den ersten Ausdruck dadurch gefunden, dass es zur OEEC, später zur OECD und dann natürlich zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gekommen ist.

Die Ziele, die die Vereinigten Staaten damals verfolgten, bleiben indessen für die Bundesregierung - übrigens auch für unsere Partner - unverändert wichtig. Die Ziele waren "Wohlstand und Entwicklung in Europa durch Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten" und - eben dadurch - "Aufbau und Sicherung der Demokratie durch wirtschaftlichen Aufbau", also die klare Erkenntnis, dass Demokratie gefährdet sein kann - nicht sein muss - durch wirtschaftliche Schwierigkeiten. Daraus wurde eben der Schluss gezogen, diese überwinden zu helfen, um eine Situation, wie sie vom Zerfall der Weimarer Republik her bekannt war, nie wieder entstehen zu lassen. Ich glaube, das war seinerzeit ein richtiger und unerhört weiser Entschluss.

Was wir im transatlantischen Verhältnis auf dieser Basis erreicht und an Solidarität erfahren haben - ich glaube, das ist eine moralische Verpflichtung und damit auch eine Verpflichtung für Politik, die auf Moral gegründet ist - , das müssen wir jetzt zurückgeben, und wir versuchen das auch.

Die Prinzipien der transatlantischen Zusammenarbeit sind - über die konkrete Hilfe, die wir jetzt in Afghanistan und anderswo leisten - im Übrigen auch geeignet, den Prozess der Globalisierung politisch zu gestalten, also auch dort dafür einzutreten, dass Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit durchgesetzt werden, um auf diese Weise Sicherheit auf Dauer zu garantieren.

Der Marshall-Plan - das kommt hinzu - stellte damals - so habe ich es jedenfalls verstanden - einen fundamentalen Wechsel in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten dar, einen Wechsel, der für Europa - nicht zuletzt für Deutschland - von unerhörter Bedeutung war. Der entscheidende Punkt war: Anders als nach dem Ersten Weltkrieg zogen sich die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg eben nicht aus Europa zurück, sondern haben im Gegenteil klar gemacht, wie wichtig die transatlantische Zusammenarbeit nicht nur für das neu entstehende Europa war, sondern auch für die Vereinigten Staaten von Amerika selbst. Ich finde, das muss auch heute die Grundlage des transatlantischen Verhältnisses bleiben. Es ging um dauerhafte Partnerschaft, die damals angeboten und angenommen worden ist, und ich denke, wir alle miteinander haben davon in unerhörter und kaum vorhersehbarer Weise profitiert.

Angesichts der kommunistischen Bedrohung, die in den 50er und späteren Jahren rasch deutlich wurde, musste diese zunächst auf wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründete Partnerschaft dann auch um militärischen Schutz und Zusammenarbeit ergänzt werden. Das war die Geburtsstunde der NATO. Die Atlantische Allianz - ich denke, auch das gilt es, an einem solchen Tag zu betonen - hat erfolgreich für Frieden und Stabilität in Europa gearbeitet.

Diese Allianz steht für gemeinsame Werte wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und eben auch den Inbegriff von Demokratie. Beides kann man auch in den Verfassungsakten wiederfinden, die unsere beiden Länder - die Vereinigten Staaten von Amerika wie Deutschland - konstituieren. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist die Rede von Glück und von dem Versprechen auf Glück. Im Deutschen Grundgesetz ist die Rede von der Würde des Menschen.

Ich denke, man kann schon feststellen, dass beides das Gleiche meint, und wir deswegen auch verbunden sind und verbunden bleiben, nicht nur durch die blanke Notwendigkeit, aus praktischen Gründen zusammenzuarbeiten - aus wirtschaftlichen und sonstigen - , sondern eben auch durch diese gemeinsamen Überzeugungen auf der Basis unserer gemeinsamen Werte.

Für Deutschland ist der europäische Einigungsprozess - ich finde im Übrigen, er gehört einfach mitten hinein in eine Betrachtung des Wirkens von Marshall und des Fonds - , der dadurch angestoßen wurde, ein Teil der Staatsräson Deutschlands geworden. Die Zusammenarbeit in Europa, die Integration - jetzt sind, Gott sei Dank, die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Erweiterung hinzugekommen - auf der einen Seite und die transatlantische Zusammenarbeit auf der anderen Seite, sind Teil dessen, was man als Staatsräson verstehen kann. Deswegen ist es auch erfreulich, dass diese Frage nie streitig gewesen ist. Über Details, Ausformungen und Einzelheiten ist zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien immer gestritten worden, und das ist auch in Ordnung so, aber das Prinzip selbst ist nie in Frage gestellt worden.

Kein anderes Land hat im Übrigen so vom Marshall-Plan profitiert wie die damalige Bundesrepublik Deutschland, die dank der amerikanischen Unterstützung einen beispiellosen wirtschaftlichen Wiederaufstieg erlebte und nicht zuletzt deswegen und im Zusammenhang damit, aber auch aufgrund wirklicher Erfahrungen mit dem Faschismus und seiner unbedingten Ablehnung, zu einem Gemeinwesen geworden ist, das in sich demokratisch, sozial und politisch stabil ist.

Übrigens vergessen die Deutschen natürlich gerade hier in Berlin am wenigsten, wem wir das zu verdanken haben, nämlich den Freunden in Amerika, die über all die Jahre und Jahrzehnte die Lebensfähigkeit etwa Westberlins garantiert haben und ohne die das gar nicht möglich gewesen wäre.

Deshalb war es für uns - als Menschen, die über Jahrzehnte Solidarität erfahren haben - auch eine Selbstverständlichkeit; Solidarität nach dem 11. September uneingeschränkt zurückzugeben und zu gewähren. Das "uneingeschränkt" bezog sich eben auch auf etwas Neues in der deutschen Außenpolitik, nämlich darauf, dass wir uns auch militärisch in diese Solidarität begeben haben.

Die Vertiefung der transatlantischen Gemeinschaft ebenso wie die weitere europäische Integration und die Erweiterung des integrierten Europa sind die Kernpunkte dessen, was wir an Außenpolitik machen, machen müssen und machen wollen. Ich denke, dass die weitsichtige Politik von Marshall gute Voraussetzungen dafür geschaffen hat, und das ist ein Grund dafür, warum man über Jubiläumsveranstaltungen hinaus auch im Herzen dankbar für diese von ihm eingeleitete Entwicklung sein kann. Anlässlich des 25. Jahrestags der Rede von George Marshall hat die damalige Bundesregierung beschlossen, den Fonds zu gründen und damit ein sichtbares Zeichen der Dankbarkeit zu setzen. Alle deutschen Regierungen haben das weitergeführt, das ist auch richtig so, und das wird auch in Zukunft geschehen.

Ich finde, dass wir das 30-jährige Jubiläum des "German Marshall Fund" nicht begehen können, ohne den Einsatz eines Mannes zu würdigen, der sich in besonderer Weise um diesen Fonds verdient gemacht hat und der heute unter uns ist. Ich meine Sie, Herr Goldmann, der als einer der Führungspersönlichkeiten der Harvard-Universität und wirklich intimer Kenner der deutschen Politik einer der wichtigsten Helfer bei der Gründung des Marshall Fund war. Ihnen ist dieses Amt seinerzeit von meinem verehrten Vorvorvorgänger übertragen worden, und - lassen Sie mich das einfach so sagen - ganz Viele in Deutschland sind Ihnen für die Arbeit, die Sie geleistet haben, und für den Geist, in dem Sie sie geleistet haben, ganz persönlich sehr, sehr dankbar.

Der Fonds hat viel dazu beigetragen, dass sich Deutsche und Amerikaner besser verstehen, er hat viele Menschen zusammengebracht - nicht nur Menschen in politischen Funktionen, sondern auch in der Wirtschaft, was ja mindestens ebenso wichtig ist. Er hat auch Menschen im kulturellen Bereich zusammengebracht, was gewiss auch nicht verachtet werden kann. Das geht aber auch in den Bereich der Wissenschaft hinein. Ich finde, dadurch ist ein wirkliches Netzwerk entstanden.

Ich bin sicher, auch in Zukunft wird es eine enge und besondere Beziehung zwischen Europa und Amerika geben.

Das Interesse der Vereinigten Staaten an Europa wird umso größer sein, je eher wir in der Lage sind, Erweiterung und Integration, Erweiterung und Vertiefung zu realisieren und uns im Konzert der Völker als ein wirklich einiges Europa darzustellen. Und zwar nicht nur als einen Markt, sondern auch als ein einiges Europa, das in außen- und sicherheitspolitischen Fragen handlungsfähig ist.

Hinzu kommt noch eines: Ich glaube, nicht zuletzt durch die Arbeit des Fonds ist ein Maß an persönlichen Netzwerken entstanden, das man auch nicht unterschätzen sollte. Ich meine jetzt nicht Beziehungen mit oberflächlicher Bedeutung, sondern es sind wirklich Freundschaften gewachsen. Ich denke, man soll den Wert der persönlichen Beziehungen in der Politik und in der Geschichte nicht überschätzen. Es ist sicher aus doppeltem Grund nicht richtig, dass Männer Geschichte machen. Frauen machen das auch. Man soll den Wert der persönlichen Beziehungen also nicht überbewerten. Trotzdem sind persönliche Beziehungen nicht unwichtig - zumal, wenn es Beziehungen sind, die gar nicht auf der Regierungsebene allein stattfinden, sondern im Grunde Teil des Umgangs der Zivilgesellschaften miteinander sind. Dann sind diese Beziehungen für die Perspektiven, die aus einer solchen Zusammenarbeit kommen können, in besonderer Weise bedeutsam und dauerhaft.

Ich denke, es ist deutlich geworden, was ich Ihnen gerne vermitteln möchte: dass auch die Generation von Politikerinnen und Politikern, die jetzt die Geschicke unseres Landes zu bestimmen hat, in einer ganz engen Weise zu würdigen weiß, was Sie getan haben, was der Fonds für die transatlantischen Beziehungen für Deutschland und Amerika bedeutet. Vielleicht nehmen Sie einfach den Eindruck mit, dass wir das, was geschichtlich geworden ist, was seinerzeit vor 30 Jahren begonnen hat, nicht nur mit dem Verstand fortführen wollen, sondern auch mit dem Herzen.