Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 08.06.2002
Untertitel: Bundeskanzler Schröder wertet die zum zweiten Mal in Deutschland stattfindende Tagung des Interaction Council als Ausdruck einer großen Anerkennung für Deutschland.
Anrede: Lieber Helmut Schmidt, sehr geehrter Herr Fraser, sehr geehrter Herr Miyazawa, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/83666/multi.htm
Ich heiße Sie zur Eröffnung der Jahrestagung des Interaction Council herzlich in Berlin willkommen. Zum zweiten Mal in der knapp 20-jährigen Geschichte des Interaction Council richten Sie Ihre Tagung in Deutschland aus. Dies sehe ich auch als Ausdruck einer großen Anerkennung für Deutschland. Für unser Land und besonders auch für Berlin hat mit dem Fall der Mauer, der Entscheidung für die Hauptstadt Berlin und dem Umzug von Regierung und Parlament eine neue Ära begonnen. An der Schwelle zum neuen Jahrtausend hat sich die einstige "Frontstadt des Kalten Krieges" zu einer Metropole entwickelt, die heute Frieden, Demokratie, Modernität, kulturelle Vielfalt, Solidarität und Toleranz lebt und auch ausstrahlt. 12 Jahre nach der Wiedervereinigung und dem Ende des Kalten Krieges sind Deutschlands Rolle und Verantwortung in Europa und der Welt gewachsen.
Das Ausmaß dieser Veränderung lässt sich keineswegs allein, aber eben auch an der Beteiligung deutscher Soldaten für friedenschaffende Maßnahmen oder im Kampf gegen den Terrorismus ablesen. Die Phase deutscher Nachkriegsgeschichte, in der unser Land nur eingeschränkt souverän und daher auch nur begrenzt solidaritätsfähig oder nur bedingt solidaritätspflichtig war, ist glücklicherweise unwiederbringlich vorüber.
Heute ist unser Leitmotiv die Politik einer Friedensmacht, die ihren Partnern ein guter Nachbar ist - ebenbürtig an Rechten und Pflichten. Für dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung den Kurs einer integrativen, auf Kooperation ausgerichteten Politik.
Zu den wesentlichen Elementen deutscher Außenpolitik zählt daher auch unser entschiedenes Engagement für die europäische Einigung. Nach den Schrecken des blutigen 20. Jahrhunderts ist in weiten Teilen Europas endlich ein Raum des Friedens, der Freiheit und des wirtschaftlichen Wohlstands entstanden. Dieser Friedensraum bliebe ohne den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten unvollständig.
Die Erweiterung der Europäischen Union ist daher eine der wichtigsten Aufgaben dieses Jahrzehnts. Wir werden bis Ende des Jahres die Beitrittsverhandlungen mit voraussichtlich bis zu zehn Beitrittskandidaten abgeschlossen haben. Damit wächst Europa, dieser in der Geschichte so oft geschundene Kontinent, wirklich zusammen. Dabei geht es den Menschen in Osteuropa nicht nur um die Vorteile, die immer wieder im Zusammenhang mit der Erweiterung genannt werden - also mehr Frieden, Sicherheit und Wohlstand in ganz Europa. Sie wollen Teil jener Wertegemeinschaft werden, die durch unsere "europäische Lebensart" geprägt ist. Das heißt: durch unser Zivilisations- und Gesellschaftsmodell, das sich durch die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an den erarbeiteten Werten und an den Entscheidungen der Gesellschaft auszeichnet.
Meine Damen und Herren,
die Anforderungen an das erweiterte Europa werden drastisch zunehmen. Gerade die Erfahrungen des 11. Septembers, die Existenz von gefährlichen regionalen Dauerkonfliktherden, die Dynamik der Flüchtlings- und Migrationsbewegungen und neue globale Risiken wie organisiertes Verbrechen oder auch die Bedrohung des Weltklimas zeigen, dass wir hier neue - und vor allem auch europäische - Antworten finden müssen. Die Zwänge einer wirtschaftlich eng vernetzten Welt, in der wir Europa noch in diesem Jahrzehnt zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum entwickeln wollen, erfordern eine noch stärkere wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit in Europa. Dabei ist klar, dass wir auch unter diesem Blickwinkel von den Beitrittskandidaten erwarten müssen, dass sie zu einer vorbehaltlosen Übernahme und Anwendung des europäischen Gesetzeswerks in der Lage sind.
Meine Damen und Herren,
die bevorstehende Erweiterung wird aber nur dann ein Erfolg sein, wenn wir im Konvent unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d'Estaing durch mutige Reformen die politische Gestaltung und Führbarkeit der Europäischen Union sicherstellen. Dabei geht es nicht nur um mehr Effizienz. Europa hat auch erhebliche Defizite hinsichtlich der demokratischen Legitimität und der Transparenz von politischen Entscheidungen. Vielen Bürgern ist unklar, wer für welche Entscheidungen in Europa verantwortlich ist. Angesichts der weitreichenden Folgen, die Entscheidungen auf europäischer Ebene für das tägliche Leben der Bürger haben, dürfen wir die Lösung dieses Problems nicht vernachlässigen.
Nicht von ungefähr nehmen Rechtspopulisten wie Le Pen in Frankreich oder Haider in Österreich die Tatsache, dass viele Bürger das institutionelle Europa buchstäblich nicht "begreifen", zum Vorwand ihrer anti-demokratischen und anti-europäischen Agitation. Wir müssen dabei die Stärkung des demokratischen Gedankens mit dem Gedanken der Effizienz verbinden, um auch im institutionellen Bereich ein Europa der Teilhabe zu bekommen. Wir brauchen eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union. Wir wollen keinen Kompetenzkatalog. Wichtig ist vielmehr, dass wir in pragmatischer Weise die europäische Politik durchforsten und schauen, was gemäß dem Subsidiaritätsprinzip von den Mitgliedstaaten besser erledigt werden kann.
Umgekehrt wird es Bereiche geben, in denen wir mehr Europa brauchen. Hierzu zähle ich insbesondere den Schutz gegen Bedrohungen von Innen und Außen. Wir brauchen ein für die Bürger verständlicheres System der europäischen Gewaltenteilung. Dazu gehört eine zu einer starken Exekutive ausgebaute Kommission, die künftig - wie jede "normale" Regierung auch - für ihre politischen Entscheidungen dem Bürger verantwortlich sein muss. Wir brauchen ein in seinen demokratischen Rechten gestärktes Europäisches Parlament, das auch den "europäischen Regierungschef", also den Präsidenten der Kommission, wählt. Schließlich soll der Rat zu einer vorwiegend legislativ tätigen Staatenkammer ausgebaut werden.
Wir müssen uns Gedanken machen, wie die bisher indirekte Finanzierung der Europäischen Union am sinnvollsten in eine teilweise direkte, jedenfalls durchsichtigere, für die Bürger nachvollziehbarere Art der Finanzierung überführt werden kann. Wir brauchen schließlich eine europäische Verfassung. Auf den Namen kommt es dabei nicht an, sondern vielmehr, dass der institutionelle Inhalt stimmt und die nötige Transparenz gesichert ist.
Vor allem müssen wir die Grundrechtecharta in die Verträge integrieren. In dieser Charta steht alles, was der Grundrechtsteil einer modernen Verfassung westlichen Zuschnitts erfordert.
Diese Elemente machen meines Erachtens die Grundzüge einer Verfasstheit der Europäischen Union aus, die an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angepasst ist. Das ist die Aufgabe, die der Konvent zur Zukunft Europas leisten muss. Und ich bin besonders froh, dass wir für diese gewaltige Aufgabe einen erfahrenen und überzeugten Europäer von der Statur eines Valéry Giscard d'Estaing gewinnen konnten.
Meine Damen und Herren,
die europäischen Nationalstaaten werden - für sich allein genommen - nicht in der Lage sein, die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, und zwar weder politisch noch wirtschaftlich. Auch die größten europäischen Staaten werden ihre Interessen im Zeitalter der Globalisierung nur gemeinsam zur Geltung bringen können. Besonders augenfällig wird die Notwendigkeit gemeinsamen europäischen Handelns im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Das hat uns der 11. September mit unerbittlicher Deutlichkeit vor Augen geführt.
Die gemeinsame Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hat auch die NATO und Russland enger zusammenrücken lassen. In der vergangenen Woche haben die Staats- und Regierungschefs der NATO gemeinsam mit Präsident Putin die "Erklärung von Rom" unterzeichnet. Dadurch wird Russland nun als gleichberechtigter Partner bei einer Reihe wichtiger Themen, wie dem Kampf gegen den Terrorismus, der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der Rüstungskontrolle, in die Arbeit der Allianz einbezogen. Dies ist ein historischer Schritt, der dem Verhältnis zwischen der NATO und Russland eine neue Qualität gibt. Die weitere Anpassung der NATO an die neuen Herausforderungen und Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus oder durch Massenvernichtungswaffen werden wir beim NATO-Gipfel im November in Prag entschlossen weiter voranbringen.
Außerdem werden wir neue Mitglieder aufnehmen und damit weiteren Staaten die Möglichkeit geben, im Rahmen der Allianz zu Sicherheit und Stabilität in Europa beizutragen. Internationale Allianzen und multilaterales Handeln werden ein immer wichtigerer Bestandteil der sich verändernden Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert.
Die furchtbaren Anschläge in den USA haben gezeigt, dass in unserer enger zusammenwachsenden Welt kein Land unverwundbar ist. Innere und äußere Sicherheit lassen sich heute nicht mehr voneinander trennen.
Es ist eine der zentralen Herausforderungen an die Staatengemeinschaft, auf die neuen, globalen Gefahren zu reagieren. Dabei haben wir, ausweislich dessen, was wir im Kampf gegen den Terrorismus bereits erreicht haben, bereits gute Fortschritte gemacht. Mit seinem Engagement in Afghanistan und seiner Beteiligung an der Operation "Enduring Freedom" hat Deutschland bewiesen, dass es seine Beistandspflichten ernst nimmt. Vor Ort habe ich mich von dem beispielhaften Friedenseinsatz der multinationalen ISAF-Truppen überzeugen können.
Militärische Aktionen können aber immer nur die "ultima ratio" in einem umfassenden Sicherheitskonzept sein. Ein solches Konzept muss auf einer breiten internationalen Koalition beruhen und es muss diplomatische, sicherheitspolitische, wirtschaftliche, humanitäre und entwicklungspolitische Maßnahmen gleichermaßen berücksichtigen.
Ein Schwerpunkt eines solchen Konzepts muss auch auf die Prävention von Terrorismus gerichtet sein. Wir werden uns daher weiterhin gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und den USA für ein Ende von Gewalt und Terror im Nahen Osten einsetzen. Unser Ziel bleibt ein Verhandlungsfrieden, der das Existenzrecht und die Sicherheit Israels ebenso anerkennt wie die Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staats. Auch der Konflikt zwischen Pakistan und Indien erfüllt mich mit großer Sorge. Bürgerkrieg, Menschenrechtsverletzungen und bitteres Elend waren schließlich auch der Nährboden für die Entstehung jener unheilvollen Symbiose zwischen dem globalen Terrorismus und dem Taliban-Regime.
Durch das geschlossene und entschlossene Handeln der internationalen Koalition gegen den Terror konnte ein Neuanfang in Afghanistan erreicht werden.
Die Stabilisierung und der Wiederaufbau des Landes erfordern aber auch weiterhin ein intensives und dauerhaftes Engagement der internationalen Staatengemeinschaft. Ich habe bei meinem Besuch in Kabul im vergangenen Monat die Bereitschaft Deutschlands unterstrichen, die Rückkehr Afghanistans in die Staatengemeinschaft und den Wiederaufbau nachhaltig zu unterstützen. Und ich habe mich beim Besuch einer Mädchenschule davon überzeugen können, wie lohnend unser Engagement ist, wenn es dazu führt, dass Menschen, die jahrelang von allen Hoffnungen ausgeschlossen waren, wieder die Chance und Perspektive auf eine menschenwürdige Entwicklung bekommen.
Meine Damen und Herren,
auch im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, der NATO und der G7 / G8 müssen wir weitere Schritte unternehmen, um der Entstehung von internationalem Terrorismus vorzubeugen und ihn energisch zu bekämpfen. Bei der Trockenlegung der Finanzströme des Terrorismus, aber auch bei unseren Bemühungen, Terroristen jeden Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu versperren, haben wir bereits sichtbare Fortschritte erzielen können. Für alle Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung ist es aus Sicht der Bundesregierung besonders wichtig, internationale und regionale Bündnisse und Sicherheitskooperationen zu stärken und zu unterstützen.
Hier ist an vorderster Stelle die weitere Stärkung der Vereinten Nationen zu nennen.
Die Vereinten Nationen sind zentraler Eckpfeiler für die Weiterentwicklung des Völkerrechts. Ohne starke Vereinte Nationen gibt es keine Weltfriedenspolitik. In einer Welt, die sich immer stärker und schneller vernetzt, in der politische Entscheidungen immer mehr regionale und globale Wechselwirkungen auslösen, steigen die Anforderungen an die Vereinten Nationen. Aber es wächst auch die unmittelbare Bedeutung multilateralen Handelns für jeden einzelnen Mitgliedstaat.
Mit der Umsetzung des Brahimi-Berichts werden die Kapazitäten der Vereinten Nationen im gesamten Spektrum von der Krisenprävention bis hin zur Friedenskonsolidierung beträchtlich gestärkt werden. Die Vereinten Nationen werden künftig auch davon profitieren können, dass wir im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Fähigkeiten der Europäischen Union zur Krisenprävention und - bewältigung weiter entwickeln und ausbauen werden. Die Vereinten Nationen können ihrer gewachsenen Bedeutung nur gerecht werden, wenn sie ihre Aktivitäten auf einer soliden finanziellen Grundlage entfalten kann. Effizienz und Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen müssen aber auch durch innere Reformen entscheidend gestärkt werden. Generalsekretär Kofi Annan hat dafür wesentliche Impulse gegeben. Für die Bundesregierung ist es ein zentrales Anliegen, im Rahmen einer starken und effizienten Weltorganisation ihre Bemühungen um benachteiligte Regionen dieser Welt und die Teilhabe aller Länder an den sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften zu verstärken, um ein gerechtes internationales System der Sicherheit, des Wohlstands und der Entwicklung zu fördern.
Meine Damen und Herren,
Sie werden sich an diesem Wochenende mit aktuellen Fragen der Weltpolitik, aber auch mit der künftigen Entwicklung der Europäischen Union befassen. Ich freue mich auf Ihre Anregungen und Vorschläge und wünsche Ihnen einen erfolgreichen Verlauf Ihrer Tagung. Und ich hoffe, dass Sie trotz Ihres sehr umfangreichen Arbeitsprogramms noch Zeit und Muße finden, die Stadt und ihre Menschen ein wenig kennenzulernen.
Vielen Dank.